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Stone trat vor die große Truhe aus Onyx, während der Rest der Gruppe ihm in andächtiger Stille zusah. Valentinos Arbeiter kamen rechts und links an seine Seite. Stone zögerte kurz, dann kniete er vor dem Sockel nieder und strich mit der rechten Hand behutsam über die Oberseite der Truhe. Seine Schultern bebten sichtbar. Er zog die Latexhandschuhe aus – Rush protestierte nicht dagegen – und liebkoste die Truhe erneut. Trotz seiner Schlussfolgerungen bezüglich des Inhalts der Truhe – der Antwort auf sämtliche Geheimnisse König Narmers – schien Stone es mit dem Öffnen plötzlich gar nicht mehr so eilig zu haben.
Logan stand im Hintergrund und verfolgte das Geschehen. Er konnte verstehen, dass Stone zögerte. Er erinnerte sich deutlich an die Ansprache, die Stone vor der versammelten Mannschaft gehalten hatte: die Schilderung, wie er die indianische Siedlung entdeckt hatte, die allen anderen nicht aufgefallen war. Er erinnerte sich an das Glänzen in Stones Augen, als er ihm zum ersten Mal begegnet war an jenem Tag im Museum von Kairo, verkleidet als einheimischer Forscher, der ihn ermahnt hatte, so schnell zu arbeiten wie möglich.
Im Verlauf seiner glanzvollen Karriere hatte Stone nahezu unwiderlegbare Beweise für die Existenz von Camelot gefunden. Er hatte Spuren von Hippolyta entdeckt, der Königin der Amazonen, die Historiker stets in das Reich der Märchen verbannt hatten. Doch mit der Entdeckung von König Narmers Grab hatte er sich selbst übertroffen. Logan wusste, dass Stone Flinders Petrie, den Vater der modernen Archäologie, wie ein unerreichbares Vorbild verehrte – und doch hatte er nun etwas erreicht, woran Petrie gescheitert war. Mit der Entdeckung von Narmers Krone würde er an die Spitze seiner Zunft aufsteigen. Seine Kritiker würden ein für alle Mal verstummen. Stone würde unwiderruflich und für alle Zeiten der größte Archäologe auf der ganzen Welt werden.
Schweigend strich Stone mit den Händen über die Oberseite der Truhe, dann an den Seiten entlang, während er hier und dort mit flinken, schlanken Fingern die Oberfläche abtastete wie ein Phrenologe einen Schädel. «Tina», durchdrang seine leise Stimme schließlich die gebannte Stille. «Würden Sie mir bitte ein Skalpell reichen?»
Christina Romero trat vor und reichte Stone die dünne, gerade Klinge. Er bedankte sich mit einem Nicken und setzte das Skalpell behutsam an den schmalen goldenen Streifen an, die die Truhe umgaben. Logan hatte angenommen, dass es sich dabei um eingelegte Verzierungen handelte – stattdessen schienen die Bänder aus kostbarem Metall als rituelle Siegel zu dienen, die die Truhe verschlossen hielten.
Nachdem Stone die Siegel durchtrennt hatte, schälte er die Bänder herunter und legte sie behutsam zur Seite. Ein einzelnes goldenes Band verblieb und hielt das kunstvolle juwelenbesetzte Serech auf der Oberseite der Truhe; ein letzter, behutsamer Schnitt mit dem Skalpell, und Stone legte das Serech mit dem Band sowie das Skalpell beiseite.
Dann erhob er sich und nickte den Arbeitern zu. Die beiden Männer postierten sich rechts und links der Truhe, und auf ein Nicken Stones hin packten sie jeder ein Ende des Deckels und begannen ihn anzuheben. Obwohl der Deckel nicht dicker als fünf Zentimeter sein konnte, schafften die kräftigen Arbeiter es nicht, ihn mehr als ein paar Millimeter zu bewegen, bis Valentino und einer der Sicherheitsleute vortraten und ihnen halfen. Unter großer Anstrengung gelang es den vieren, den Deckel von der Truhe zu heben und zu einer leeren Ecke der Grabkammer zu tragen, wo sie ihn ächzend ablegten. Als er auf der schwarzen Oberfläche aufprallte, gab es einen dumpfen Schlag, der durch die gesamte Kammer hallte.
Im Innern der großen Truhe aus Onyx lag ein schwarzes Tuch, das mit goldfarbenen Drähten durchwirkt war. Stone berührte es vorsichtig, doch wie schon zuvor löste es sich in dem Moment, in dem es mit seinen Fingern in Kontakt kam, in einer Wolke aus feinem Staub auf.
Darunter kam eine Platte aus gehämmertem Gold zum Vorschein, bedeckt mit primitiven Hieroglyphen. «Tina?», fragte Stone und richtete einen der Scheinwerfer auf die Platte. «Was sagen Sie dazu?»
Christina Romero trat vor und untersuchte die Schriftzeichen. «Sie scheinen sich auf die Schriftrollen auf dem Tisch zu beziehen», sagte sie nach einem Augenblick. «Ich bin noch dabei, sie zu studieren. Es ist beinahe, als wären es …»
«Als wären es?», fragte Rush.
«Beschwörungen. Anrufungen. Aber nicht von der üblichen Sorte.»
«Von welcher Sorte denn?», fragte Stone mit Ungeduld in der Stimme.
Die Ägyptologin zuckte die Schultern. «Ich weiß nicht. Instruktionen vielleicht.»
«Und was soll daran ungewöhnlich sein?», fragte Stone. «Das gesamte Buch der Toten des Neuen Königreichs ist genau genommen ein einziges Handbuch voller Instruktionen.»
Christina Romero antwortete nicht.
Stone wandte sich wieder der Truhe zu. Er bedeutete Valentinos Männern mit einem Kopfnicken, die goldene Platte anzuheben, und beugte sich vor, um sie besser sehen zu können. Logan trat einen Schritt nach vorn und sah eine weitere Platte aus Gold, diesmal eingefasst mit Fayence und kostbaren Edelsteinen und dicht mit Hieroglyphen beschrieben. Auch diese Platte war so groß, dass sie alles verbarg, was darunter in der Truhe lag. Stone bedeutete den Arbeitern, auch diese Platte zu entfernen.
«Hierher, bitte», sagte Christina Romero. Sie instruierte Valentinos Männer, die beiden Platten auf dem Boden neben dem Tisch mit den Papyri abzustellen.
Was nun zum Vorschein kam, sah im schwachen Licht der Taschenlampen für Logan nach einem großen Haufen kleiner, vertrockneter Knochen aus, ein einziges gewaltiges Durcheinander.
Stone stieß ein überraschtes Grunzen aus. Er streckte die Hand aus, besann sich eines Besseren, zog einen neuen Latexhandschuh an und tauchte dann die Hand hinein.
«Was ist das?», fragte Logan.
«Ich will verdammt sein!», antwortete Stone nach einigen Sekunden. «Es ist Hanf!»
Rush beugte sich vor, nahm mit einer Pinzette ein Stück aus dem Gewirr und untersuchte es im Licht seiner Taschenlampe. «Sie haben recht», sagte er dann. «Es ist Hanf.»
Stone gab Valentinos Arbeitern ein Zeichen und begann mit beiden Händen, die antiken Pflanzenstängel aus der Truhe zu schaufeln, zuerst behutsam, dann schneller und in größeren Mengen, bis der Boden der Kammer davon bedeckt war. Dünne Wolken stoben in die Höhe, und mit ihnen breitete sich ein eigenartiger Geruch von Heu und fünftausend Jahre alter Ernte in der Kammer aus.
In den Bündeln aus Hanfstängeln lagen zwei Beutel, jeder ungefähr von der Größe eines Medizinballs, aus goldenen Fäden so fachmännisch und geschickt gewebt, dass die Beutel sich geschmeidig anfühlten wie Seide. Behutsam, sehr behutsam befreite Stone die goldenen Beutel vom umgebenden Hanf und stellte sie vor dem massiven Podest auf den Boden.
Wieder drängte die Gruppe in gebanntem, wortlosem Schweigen heran. Logan betrachtete die beiden rundlichen Objekte, die im Strahl von einem halben Dutzend Taschenlampen glänzten. Vor seinem geistigen Auge sah er bereits die Doppelkrone des vereinigten Ägypten darin: die weiße, makellos glänzende konische Krone von Oberägypten sowie die rote, spitz zulaufende Krone von Unterägypten. Woraus sie wohl gefertigt waren? Aus bemaltem Gold? Oder irgendeiner anderen, unbekannten oder unerwarteten Legierung? Welche Magie mochte sie umgeben? Er konnte es kaum erwarten, endlich zu sehen, was sich in diesen beiden weichen, gewebten Beuteln aus purem Gold verbarg. Zwei Beutel. Es stand völlig außer Frage – diese beiden Beutel enthielten die Doppelkrone des ersten Pharaos von Ägypten. Was sonst hätte Narmer so sorgfältig verbergen, so umsichtig und unter derart gewaltigen Kosten verstecken sollen?
Stone schien von der gleichen Aufregung gepackt. Er nahm einen der goldenen Beutel, löste die Enden, und mit einem schnellen Blick in die Runde griff er hinein und zog behutsam den Inhalt hervor.
Was zum Vorschein kam, war keine Krone, sondern etwas ganz anderes. Ein schalenförmiges Gebilde, offenbar aus weißem Marmor, mit langen goldenen Fasern, die vom Rand herunterhingen.
Ein ebenso überraschtes wie bestürztes Raunen ging durch die Menge.
Stone runzelte die Stirn. Er starrte das Gebilde verständnislos an, dann legte er es auf den goldenen Beutel und schob beides zur Seite, um – hektischer diesmal – die Hand in den zweiten Beutel zu schieben.
Was er daraus hervorholte, war noch eigenartiger: ein Ding aus roter Emaille, mit einem Eisenstab daran, auf den eine Kupferfolie aufgerollt war. Logan beugte sich fassungslos vor und starrte den seltsamen Gegenstand aus der Nähe an. Der Eisenstab, der aus der Emaille ragte, war am anderen Ende mit einer Art Stopper aus einem Material versehen, das aussah wie Bitumen. Es stand völlig außer Zweifel: Vor ihnen lagen die beiden Gegenstände, die auf dem großen Wandgemälde in der ersten Grabkammer abgebildet waren.
Es waren keine Kronen. Das waren Apparate, wozu auch immer sie gedient hatten.
Stone blickte verständnislos auf das rotfarbene Ding in seiner rechten Hand. Dann nahm er das weiße, marmorne Objekt in die Linke. Während die anderen ihn gebannt beobachteten, wanderten seine Augen von einem Gebilde zum anderen, dann schüttelte er benommen den Kopf.
«Was zum Teufel ist das?», krächzte er.