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Alle Anwesenden versammelten sich um den schwarzen, gähnenden Kreis des Schlunds, angespannt, schmallippig, schweigsam. Auf Valentinos abgehackten Befehl hin wurden über ihnen zusätzliche Scheinwerfer angebracht. Als Logan im grellen Licht auf das Wasser des Sudd starrte, erschien es ihm, als wäre er ein lebendiges Gebilde, als wäre die braune Brühe die Haut eines riesigen Wesens, und dass es ein Akt monumentaler Dummheit war, dass sie nun auf diesem Tier hockten …
Und dann gab es einen Ruck an einem der Kabel, die in den Sumpf hinunterführten, und ein eigenartiges gurgelndes Geräusch erklang im Funk.
Valentino rannte erneut zum Sendegerät. «Echo Bravo? Echo Bravo? Was gibt’s?»
«Romeo Foxtrot hier», kam die körperlose Stimme über das Gerät. «Immer noch keine Spur von ihm. Es ist schwarz wie die Nacht hier unten, ich kann die Hand vor Augen nicht erkennen …»
Mit lautem Geklapper tauchten zwei Sanitäter am Eingang zu Station Gelb auf. Jeder von ihnen schob einen Wagen mit medizinischer Ausrüstung.
Ein weiterer Ruck am Kabel folgte, und das Funkgerät erklang wieder. «Romeo Foxtrot an Basis. Ich sehe ihn. Ich habe ihn. Wir kommen hoch.»
Plötzlich kam Bewegung in den fleckigen Teppich aus Wasser und verrottender Vegetation, der wogte und zu kochen begann. Einen Moment später durchbrach eine behandschuhte Hand abrupt die Oberfläche und packte die Sprosse einer der beiden Leitern. Der Hand folgte eine Neoprenhaube und eine Atemmaske. Trotz der Krisenatmosphäre war Logan fasziniert von der Fremdartigkeit des Anblicks: Der Taucher sah aus wie ein Insekt, das verzweifelt versuchte, sich aus einer Ursuppe zu befreien.
Neben Logan hatte Ethan Rush schweigend und angespannt wie eine Spiralfeder gewartet. Jetzt sprang er vor, und mit Hilfe eines der Sanitäter machte er sich daran, den strampelnden Mann aus dem Griff des Sudd zu befreien. Dieser hatte den freien Arm um eine zweite Gestalt in Neoprenmontur, die sich kaum bewegte. Beide Taucher wurden aus dem Schlund gezogen und auf den Boden gelegt. Sie waren über und über bedeckt mit einem Zeug, das die Konsistenz von Haferschleim besaß. Mit einem Schlag roch der ganze Raum nach Verwesung und totem Fisch.
«Spritzt die beiden ab», ordnete Valentino an.
Noch während ein Team herbeieilte, um die beiden Taucher vom haftenden Schlick zu befreien, bugsierte Rush den Verletzten auf eine Trage. Er zog ihm die Maske und die Haube vom Kopf, ergriff ein Skalpell und schlitzte den Neoprenanzug vom Hals bis zum Nabel auf. Der Mann stöhnte und wand sich auf der Trage. Auf seinen Lippen stand blutiger Schaum.
Hastig platzierte Rush ein Stethoskop auf der nackten Brust des Mannes.
«Er ist in Panik geraden», berichtete sein Kollege, als er hinzutrat. Er rieb sich die Haare und das Gesicht mit einem Handtuch trocken. «Ein Anfängerfehler. Aber wenn man in dieser trüben Scheiße taucht, vergisst man …»
Rush unterbrach ihn mit einer Handbewegung. Er bewegte das Stethoskop über die Brust des Verletzten und lauschte angestrengt. Seine Bewegungen waren abgehackt und heftig. Schließlich richtete er sich auf. «Luft-Paravasation», lautete seine Diagnose. «Resultierend in Pneumothorax.»
«Wir können ihn in die Krankenstation bringen, Herr Doktor», schlug die Schwester vor. «Dort ist …»
«Dazu haben wir keine Zeit!», schnappte Rush, während er sich ein paar Latexhandschuhe überstreifte. Der Mann auf der Trage zuckte, packte sich an die Kehle und gab gurgelnde Geräusche von sich.
Rush wandte sich an die Sanitäter. «Eine Nadelaspiration wird nicht ausreichen», sagte er. «Unsere einzige Option ist eine Thorakoskopie. Geben Sie mir die Thoraxdrainage, schnell!»
Logan beobachtete Rush mit einer Mischung aus Überraschung und Unbehagen. Bis zu diesem Moment war Ethan Rush der Inbegriff von Ruhe und Selbstsicherheit gewesen. Doch das hier – die schnellen, beinahe hektischen Bewegungen, die Ungeduld und die gebellten Befehle –, das war ein Rush, wie Logan ihn noch nicht kannte.
Während sich einer der Sanitäter zu seinem Notfallwagen umdrehte, wandte sich Rush wieder dem verletzten Taucher zu. Er betupfte die Fläche neben dem linken Arm großzügig mit Jod und einem Lokalanästhetikum, um sodann mit einer weiteren schnellen Bewegung des Skalpells einen fünf Zentimeter langen Einschnitt zwischen den Rippen vorzunehmen. «Beeilen Sie sich mit der Drainage!», rief er über die Schulter.
Der Sanitäter brachte den Schlauch und wickelte ihn aus seiner sterilen Umhüllung. Rush ging vor dem sich windenden Mann in die Knie und führte den Schlauch behutsam durch den Einschnitt in den Brustkorb des Verletzten. Er kontrollierte die Lage, grunzte und erhob sich.
«Drainage durchführen!», befahl er.
Ein weiterer Sanitäter kam herbei. Er schob einen Ständer auf Rädern vor sich her mit einem blau-weißen Plastikapparat, der in Logans Augen aussah wie ein überdimensionaler Blutdruckmonitor. Er verfügte über mehrere vertikale Anzeigen, und aus dem oberen Gehäuseteil führten zwei transparente Schläuche nach vorn.
«Absperrventil der Saugkontrolle?», bellte Rush.
«Ein.
«Wassersiegel auf zwei Millimeter füllen.»
«Jawohl, Herr Doktor.»
Während der Sanitäter Wasser über einen Trichter einfüllte, sah Logan, dass die Reservoirkammer blau wurde. In der Zwischenzeit befestigte Rush einen der Plastikschläuche an dem Stück Drainageschlauch, das in der Brust des Verletzten steckte. Logan musterte den Taucher genauer: Seine Bewegungen waren langsamer geworden und erratisch.
«Katheter eingeführt», sagte Rush. «Initiiere Absaugung. Druck auf minus zwanzig Zentimeter Wassersäule.» Er legte einen Schalter um und drehte an einem Regler auf dem Gehäuse der Apparatur. Augenblicklich begann die Flüssigkeit in der Kontrollkammer zu blubbern. Rush drehte den Regler weiter auf, und das Blubbern wurde stärker. Der transparente Schlauch aus dem Einschnitt in der Brust des Verletzten füllte sich mit Blut und Wasser.
«Wenn es uns gelingt, die Flüssigkeit schnell genug aus der Thoraxhöhle zu entfernen, blähen sich die Lungen vielleicht von alleine wieder», sagte Rush zu dem Sanitäter. «Wir haben keine Zeit für eine Operation.»
In dem großen Raum kehrte Stille ein; nur noch das Summen der Maschine und das Blubbern der Flüssigkeit aus dem Schlauch waren zu hören.
Rush blickte zunehmend nervös von dem Mann auf der Trage zu dem Wassersiegel und wieder zurück. «Er wird zyanotisch», stellte er fest. «Erhöhen Sie den Unterdruck auf fünfzig Zentimeter!»
«Aber so ein starker Unterdruck …»
Rush wirbelte zu dem Sanitäter herum. «Verdammt, machen Sie einfach, was ich Ihnen sage!» Dann umrundete er rasch die Trage, öffnete den Mund des inzwischen reglosen Tauchers und begann mit künstlicher Beatmung.
Fünfzehn Sekunden vergingen, dann dreißig.
Dann, ganz plötzlich, zuckten die Gliedmaßen des Verletzten; er hustete Blut und Wasser, und dann machte er einen tiefen, zitternden Atemzug.
Langsam richtete sich Rush auf. Er sah den Taucher an, dann warf er einen kontrollierenden Blick auf das Wassersiegel. «Unterdruck wieder auf zwanzig reduzieren», murmelte er.
Er sah in die versammelten Gesichter, dann zog er sich die Handschuhe aus. «Behalten Sie den Abscheider im Auge», sagte er zu der Krankenschwester. «Ich gehe und bereite die medizinische Abteilung für eine gründliche Untersuchung vor.»
Er wandte sich auf dem Absatz um und verließ den Raum ohne ein weiteres Wort.
Gegen Mittag stellte Logan fest, dass seine Füße – er war in der Anlage umhergewandert in dem Versuch, sich den Grundriss einzuprägen – ihn, ohne dass er es gemerkt hatte, zur Krankenstation gebracht hatten. Wenn tatsächlich nur einhundertfünfzig Personen an diesem Projekt arbeiteten, dann war diese Abteilung ein gehöriges Stück größer als nötig. Doch dann wurde ihm bewusst, dass sie sich weitab von jeglicher Zivilisation und jeglicher Hilfe von außen befanden.
Die Station wirkte ruhig, beinahe verschlafen. Logan wanderte durch den zentralen Korridor, blickte in offen stehende Krankenzimmer auf die leeren Betten und die unbenutzte Ausrüstung. Eine Frau im Schwesternzimmer schrieb Notizen auf ein Klemmbrett. Logan passierte einen großen offenen Bereich, der mit BEOBACHTUNG markiert war. Hier lag der verletzte Taucher, angeschlossen an verschiedene diagnostische Apparate.
Logan setzte seinen Weg fort und blieb vor dem nächsten Zimmer stehen. Es war anscheinend Rushs Büro; der Doktor saß an seinem Schreibtisch, mit dem Rücken zur Tür, und sprach in einen digitalen Recorder.
«Ein Katheter wurde in die Thoraxhöhle eingeführt und der drückende Pneumothorax gelindert, bevor es zu einer mediastinalen Verschiebung oder einer Luftembolie kommen konnte», diktierte er. «Beides hätte zum Exitus führen können aufgrund der Tatsache, dass es unter den gegebenen Umständen nicht machbar gewesen wäre …»
Als er merkte, dass jemand hinter ihm stand, schaltete Rush den Recorder ab und wandte sich um. Logan war von seinem Anblick schockiert: Rushs Gesicht war aschfahl, die Augen verschwollen und rot. Er sah beinahe so aus, als hätte er geweint.
Der Doktor lächelte schmal. «Hallo Jeremy. Setz dich doch.»
«Das war gute Arbeit», sagte Logan.
Das Lächeln verblasste. «Eine interessante Art und Weise, dich in das Team einzuführen.»
Logan nickte. «Ja. Einen Unfall wie diesen zu beobachten.»
«Unfall», wiederholte Rush leise. «Schon wieder ein Unfall.» Für einen Moment schien er in Gedanken versunken. Dann wurde seine Stimme fester. «Es tut mir leid, dass du das … wie soll ich es sagen, dass du mich so sehen musstest.»
«Du hast ein Menschenleben gerettet.»
Rush winkte ab. «Seit dieser Erfahrung damals mit meiner Frau habe ich so etwas nicht mehr erlebt. Bei meinen Forschungen hatte ich ja nur mit Leuten zu tun, die dem Tod von der Schippe gesprungen sind. Das hier war seit damals das erste Mal, dass ich mit einer Situation konfrontiert war, in der es um Leben und Tod ging. Das erste Mal seit sie im Krankenhaus von Providence in die Notaufnahme eingeliefert wurde. Ich hatte keine Ahnung, dass es mir so unter die Haut gehen würde.»
Er stockte, dann sah er Logan an. «Du bist der Einzige, dem ich das sage, Jeremy, aber ich hoffe, Porter Stone hat keinen Fehler gemacht, als er mich als Expeditionsarzt angestellt hat.»
«Kein Fehler. Stone hat einen phantastischen Arzt ausgewählt. Warte nur ab: Das war die einzige medizinische Krise hier. Von jetzt an läuft alles wie geschmiert. Was hältst du von einem Bissen zu Mittag, bevor ich zu dieser Christina Romero muss?»
Ein neues, breiteres, aufrichtiges Lächeln huschte über Rushs Gesicht. «Gib mir fünf Minuten, damit ich diesen Bericht zu Ende bringen kann. Danach bin ich dabei.»