Denny hob wie die anderen seine beiden Rosenquarzsteine auf. Einen davon warf er in die Richtung, aus der der ohrenbetäubende Lärm erscholl. Der Leuchtstein landete mehrere Meter vor ihnen. Noch immer nichts. Wieder hörten sie ein Brüllen, wiederum lauter. Angst ließ sie enger zusammenrücken!
„Es muss sich irgendwo in den Büschen befinden“, flüsterte Denny, „es kann nicht weit von uns entfernt sein.“
Sie standen direkt vor dem steinernen Tor mit der Treppe nach irgendwo. Rüstem warf einen weiteren Leuchtstein. Er landete vor einem Teil des Dickichtes, das die gesamte Rasenfläche umgab. Ein geräuschvolles Knurren ertönte. Ein großer Schatten bewegte sich aus den Sträuchern und kam langsam näher.
Trotz Angst gelang es Denny, ohne ruckartige Bewegung seine Ärmel hochzukrempeln.
„Willi“, wisperte er, „komm langsam hinter uns, nimm dann den nächsten Baum und wenn du oben bist, sag Bescheid, ok?“
Wortlos schlich der Zwerg vorsichtig im Rückwärtsgang hinter Denny und kletterte auf eine Eiche, die unmittelbar neben dem Torbogen stand.
„Bin oben“, krächzte er kurze Zeit später.
„Und jetzt wir“, fuhr Denny langsam fort, „und zwar auf drei!“
Rüstem und die Zwillinge standen dicht neben ihm.
Das unbekannte Wesen schlich knurrend auf sie zu - seine Beute vor Augen.
„Eins!“, fing Denny jetzt an zu zählen. Das Knurren wurde lauter.
„Zwei!“ Denny stieg in diesem Moment eine üble Mundfäule in die Nase. Undeutlich konnte er im schwachen Lichtpegel erkennen, dass sich der Schatten jetzt nach hinten beugte und fauchend zum Sprung ansetzte.
Denny wartete noch einen kurzen Augenblick.
Von jetzt auf gleich stieß sich das Wesen mit den Hinterläufen vom Rasen ab und flog laut brüllend direkt auf Denny zu.
„Drei!“, … die jungen Steinmagier katapultierten sich in die Bäume. Die Kreatur sprang ins Leere und überschlug sich ein paarmal.
Denny stockte der Atem. Was ist das?
Was sie zu sehen bekamen war ungeheuerlich - im wahrsten Sinne des Wortes. Es war schlangenartig und stand lediglich auf zwei kurzen Beinen. Sein Hinterteil war wie das eines Löwen und der Kopf ähnelte stark einem Drachen. An beiden Flanken besaß das Tier je einen Flügel - wozu? Fliegend wäre ein Angriff viel leichter gewesen, also waren die Dinger nutzlos. Ein langer Schwanz mit buschigem Ende verbesserte den Anblick nicht.
„Hat jemand von euch eine Ahnung, was das ist?“, fragte Denny mit zitternder Stimme.
„Das ist ein Lindwurm“, rief Mian, „die sind selten und ziemlich gefährlich. Das sind übrigens Fleischfresser.“
„Na, super!“, meinte Rüstem düster. „Dann haben wir ja Glück gehabt und müssen nur verhungern.“
Denny stutzte. Ein paar Bäume weiter schimmerte ein Rosenquarz. Ein regloser Körper hing über einem dicken Ast. „Moana?“
Keine Antwort.
„Moana! Ist alles in Ordnung mit dir?“
„Moana!“ Mian schrie förmlich.
„Ich kann sie jetzt sehen!“, rief Denny.
„Ich jetzt auch!“, schrie Rüstem, der seinen Rosenquarz vom Lindwurm auf Moana richtete.
„Es muss dieser Baum sein“, stellte Denny fest.
„Wovon redest du?“, fragte Rüstem.
„Na, diese Wanderstacheleibe, von der Dr. Heising sprach.“
„Bist du sicher?“
„Ich denke schon. Rüstem, kannst du sie da irgendwie rausholen?“
„Ey, was glaubst du denn? Schließlich habe ich ohne Augenzwinkern Roswita kilometerweit getragen und Moana sieht noch nicht mal halb so schwer aus wie sie“
Kaum dass Rüstem zu Ende gesprochen hatte, leuchtete im Nachbarbaum ein roter Achatstein auf, und Moana schwebte ein paar Meter über dem brüllenden und wie wild tänzelnden Lindwurm hinweg direkt zu ihren Freunden.
Auf diesen Moment hatte Denny gewartet … <Roter Aventurin>!
Ein tiefliegender Ast der Eibe brach ab und sauste dem Lindwurm mit voller Wucht auf das Hinterteil. Das beendete abrupt dessen Brüllen und Zähnefletschen. Mit einem dumpfen Geräusch fiel er um und blieb reglos liegen.
Stille trat ein … bis sie durch ein leises Schnarchen unterbrochen wurde.
„Respekt, kleiner Magier!“, gluckste Willi, der sofort vom Baum kletterte.
Rüstem legte Moana in eine breite Astgabel einer Fichte und stieg gemeinsam mit Mian hinunter, um den Lindwurm aus der Nähe zu betrachten.
„Kann nur hoffen, dass es wirklich diese Wanderstacheleibe ist und nicht irgendein anderer gefährlicher Baum.“ Misstrauisch betrachtete Denny das vor ihm liegende Wesen.
Mian packte sofort wieder das blanke Entsetzen.
„Sie schlafen wie Tessa … ist ja wohl nicht zu überhören bei dem Monster hier“, beruhigte Rüstem sie und nahm sie kurz in den Arm.
Doch sie riss sich los. „Wir brauchen unbedingt diesen Wurzelsaft. Jetzt! Sofort!“, verlangte sie.
„Ja, ich weiß, Mian“, erwiderte Denny verständnisvoll, „aber da oben ist sie erst mal gut aufgehoben. Wir wissen ja noch nicht, ob der Wurzelsaft nicht noch speziell zubereitet werden muss. Zumindest haben wir jetzt den Baum gefunden.“
„Wenn du meinst!“ Im Stillen gab Mian Denny Recht.
„Ich schlage vor“, fuhr Denny fort, „während Rüstem sich um ein paar Wurzelstücke kümmert, kümmern wir beide uns um die restlichen Sternbilder und die Treppe. Willi hält weiterhin seine Augen offen.“
Die Wandereibe schien zu ahnen, dass man ihr an die Füße wollte und versuchte, sich davonzuschleichen. Doch Rüstem brauchte nicht lange, bis er bekam, was er wollte. Er stopfte einen Wasserbehälter randvoll mit Wurzelstücken, dann ließ er sie ziehen und eilte zu den anderen.
Denny und Mian standen auf der letzten Stufe, um das Sternbild des Schützen zu legen. Hinter der Treppe herrschte Finsternis. Mian setzte den letzten Prasenstein ein. Das Motiv begann zusammen mit den Steinen hell aufzuleuchten.
Fast zeitgleich wich die Finsternis vor
ihnen. Zunächst verhinderte Nebel die Sicht. Doch dann wurde es
klarer und letztendlich so hell, dass Denny und seine Freunde
endlich sehen konnten, wo sie sich befanden. Es war der Eingang zu
einer riesigen Halle. Wohin sie auch schauten - der Boden, die
Wände - überall weiße Marmorplatten.