Nach kurzer Zeit schoss ihr Kopf wieder aus der Wand.
„Na komm schon, wo bleibst du denn? Wir haben nun wirklich keine Zeit für irgendwelche Trödeleien.“
Zögernd ging Denny auf Tessa zu und erkannte erst in diesem Moment, dass er sich in einem langen Gang befand. Vorsichtig tapste er hinter ihr her.
„Jeder Bankkunde hat seinen persönlichen Weg zu seinem Konto. Der Schlüssel weist den Weg mit einem Lichtstrahl, den nur der Kontoinhaber sehen kann.“
„Aha!“. Mehr fiel Denny dazu nicht ein.
„So, jetzt aber weiter.“
Trotz des hohen Tempos dauerte es eine Weile, bis Tessa abrupt vor einer weiteren weißen Wand stehen blieb. Auch der wegweisende Lichtstrahl hielt inne und bewegte sich nicht mehr. Eine graue Holztür kam langsam zum Vorschein.
Denny war sprachlos.
„Echt fett!“
„Bitte sehr, nach dir!“ Die Wächterin wies Denny mit einladender Handbewegung den Weg. Vorsichtig öffnete Denny die Tür. Licht fiel in den dunklen Raum und er blickte auf Regale, die prall gefüllt mit Geldsäcken, Skulpturen und verschiedenen größeren Gesteinsbrocken waren. In geöffneten Kisten lagen zahllose Edelsteine. Denny wollte sich gerade den Skulpturen, die ein ganzes Regal in Beschlag nahmen, zuwenden, als Tessa ihn stoppte. Sie hielt bereits zwei Beutel in der Hand.
„Dafür hast du vielleicht später noch Zeit, mein Junge. Wir kommen öfter her.“
„Und wohin jetzt?“
„Ja, ich denke, dass wir …“, Tessa überlegte kurz, „… dass wir uns jetzt um deinen Hauptstein kümmern sollten. Das kann dauern.“
Denny war einverstanden und brannte darauf, endlich seinen Hauptstein entgegenzunehmen. Er wollte endlich in der Lage sein, wie ein richtiger Steinmagier zu wirken und Magie auszuüben - ja, Unvorstellbares zu erwirken. Denny drehte sich um und wollte hinausgehen. Leider knallte er voll mit seinem Kopf gegen die Wand, in der sich vorhin noch die Tür zu dem Konto befunden hatte. Denny rieb sich die schmerzende Stirn.
„F…“, Denny konnte im letzten Moment unterdrücken, was er aussprechen wollte.
Die Wächterin schüttelte verständnislos den Kopf.
„Warum denn jetzt so überstürzt? Das ist übrigens der Kontoeingang und hier hinter mir befindet sich der Kontoausgang.“
Tessa trat zur Seite und sogleich erschien langsam eine Tür, die sich öffnete. Denny ging bedröppelt hindurch. „Konntest du mir das nicht vorher sagen? Kontoeingang, Kontoausgang! Bin ja gespannt, was heute noch so alles passiert, das ich nicht verstehe.“
Sie waren neben dem Bankeingang herausgekommen. Tessa schaute sich kurz um und zeigte auf ein vierstöckiges, schmales Gebäude auf der gegenüberliegenden Seite. Ein Schild in Kupferstich mit der Aufschrift <Eder & Söhne> war an der Hauswand angebracht.
„So, und jetzt dorthin!“, sagte sie entschieden und ging geradewegs darauf zu.
Als sie eintraten, wurde Denny von den offenen Kisten, die ihm den Weg versperrten, nahezu überwältigt. Darin befanden sich haufenweise Steine nach Größe und Farbe sortiert. Weiter hinten lagen Berge von Edel- und Halbedelsteinen. Er hatte noch nie in seinem Leben so viele Steine auf einmal gesehen – zumindest nicht in einem Laden. Zwischen den Kisten und Steinbergen wimmelte es von Kunden.
Tessa rief ungeniert in den lauten Verkaufsraum hinein: „Josef!“
„Ja?“, kam es nicht minder leise von ganz hinten. Ein Mann mit Vollbart, ebenfalls kleinwüchsig, zwängte sich durch das Gewimmel und bewegte sich auf sie zu. Er überschlug sich fast vor Freude, als er Dennys Begleiterin erblickte. Sein lautes Organ ließ Denny zusammenfahren.
„Mensch, Teresia! Wo geit di dat? Ick heb di jo lang nich mehr säihen. Wo bis do dann die gante Tiet-wian?“
Tessa kniete sich hin, breitete ihre Arme aus und empfing den kleinen Mann mit einer festen und herzlichen Umarmung. Sie unterhielten sich in einem für Denny seltsamen Dialekt. Er verstand in den darauf folgenden Minuten keine einzige Silbe – mit Ausnahme einiger Worte wie <Xamamax>, <Brauner Baron> und seinen eigenen Namen. Zwischendurch sah der Mann immer wieder zu Denny hinüber und lächelte ihn freundlich an. Irgendwann wurde es Denny dann doch zu bunt, und er versuchte, sich durch Räuspern und Husten bemerkbar zu machen. Tessas Blick schwenkte für einen Augenblick zu ihm, dann brach sie die Unterhaltung mit dem Kleinwüchsigen endlich ab und winkte Denny zu sich.
„Darf ich vorstellen, Josef, das ist Denny Gideon. Denny, das ist Josef Eder, der beste Steinmetz und –händler weit und breit. Der besorgt dir die seltensten Steine und wenn es sein muss, vom Südpol!“
Josef schaute verlegen auf seine Füße.
„Na, Josef, keine falsche Bescheidenheit.“ Lachend stupste sie den kleinen Mann mit ihrer Hüfte derart an die Schulter, dass dieser in einen daneben liegenden Steinhaufen fiel und darin fast vollständig verschwand.
„Oh, Entschuldigung Josef!“ Betroffen zog sie ihn wieder aus dem Haufen heraus. „Manchmal gehen sie einfach mit mir durch!“
„Schon gut, Teresia“, lachte Josef, „is jo nix passeet!“ Dann drehte er sich wieder zu Denny um und klopfte ihm auf die Schulter.
„Nun, mein Junge, dann wollen wir mal sehen, mit welchen Steinen du hier mein Haus verlassen wirst.“ Mit diesen Worten wandte Josef sich zur Wächterin: „Teresia, du kannst ja schon seine Grundausstattung von da hinten holen und da vorn sind die Kisten mit den Ledergürteln und Armbändern. Welche Farbe gefällt dir am besten, Denny? Weiß, Schwarz, Braun oder Grau?“
Denny sah seine Begleiterin fragend an, die lediglich mit den Schultern zuckte. Er überlegte kurz.
„Braun, denke ich.“
„Tessa, hal du di dat, watte for den Jungen brugst und ick niam ihn met!“
„In Ordnung, Josef“, erwiderte sie und drehte sich zu Denny.
„Geh ruhig mit ihm. Jetzt erhältst du deine Steine.“
Denny folgte Josef in einen Nebenraum. Ein großer halbrunder mit dunkelrotem Samt ausgelegter Tisch stand darin. Denny setzte sich auf Josefs Bitten daran und spürte sein Herz klopfen. Josef verschwand für einen Moment. Aufgeregt saß der junge, künftige Schüler in Steinmagie jetzt allein im Raum. Viele Gedanken schossen ihm durch den Kopf. In den nächsten Augenblicken sollte er seine ersten magischen Steine erhalten. Es hielt ihn nicht mehr auf dem Stuhl, und er wollte gerade wieder aufstehen, als Josef im Raum erschien. Er schob eine große Kiste auf einem Rolluntersatz vor sich her und öffnete sie, als er Denny gegenüber auf der anderen Seite des Tisches angekommen war. Josef nahm eine Unzahl von Edelsteinen heraus und verteilte sie rund um Denny.
„Was du jetzt zu tun hast, ist, dass du nix tun sollst, verstanden? Rein gar nix machen. Nur sitzen, ja? Nicht du suchst die Steine aus, sondern sie suchen dich aus.“
„Ok!“ Aufgeregt und angespannt bis in die Haarspitzen starrte er auf die vor ihm liegenden Steine. Josef setzte sich Denny gegenüber und klatschte in die Hände. Es wurde daraufhin stockdunkel. Denny konnte es kaum aushalten vor Spannung, aber zunächst geschah gar nichts. Plötzlich begann ein Stein kurz aufzuleuchten und erlosch dann wieder. Stattdessen erstrahlte dann ein ganz anderer und behielt sein blaues Licht. Ein zweiter leuchtete dann gelb, ein dritter wiederum grün. Immer mehr Steine leuchteten in den unterschiedlichsten Farben. Der gesamte Raum war einzig und allein durch die Steine erhellt. Josef nahm die Edelsteine vom Tisch, die nicht leuchteten.
„Das war Runde eins.“ Er begann, alle leuchtenden Steine in einer Reihe nebeneinander auszulegen. Sechzehn Edelsteine lagen nun vor Denny. Absolute Stille. Nichts von dem Kundengewimmel war zu hören. Plötzlich geschah es, vier der Steine auf dem Tisch nahmen an Helligkeit zu, während die anderen zwölf deutlich nachließen, ohne jedoch ihr Licht vollständig zu verlieren. Josef trennte die vier hellsten von den zwölf anderen und schob sie näher zu Denny. Josef klatschte erneut in die Hände und die Beleuchtung schaltete sich wieder ein.
Sechzehn Steine lagen vor ihrem neuen Besitzer.
„Dein Sternzeichen ist also Skorpion“, stellte Josef fest und wirkte nachdenklich. „Das sind die typischen Steine dafür! Dein Hauptstein ist auf jeden Fall ein Turmalin.“
„Aber Sie haben mir vier Steine zugeschoben, welcher ist denn nun mein Hauptstein.“ Denny wurde ungeduldig.
„Ja, das ist allerdings
bemerkenswert.