4. Sammelplatz <Waldbühne>

Die Zwergin hatte Denny wecken müssen und servierte ihm sein Frühstück aufs Zimmer.

„Moin, Herr Gideon! Godschlaupen?“ Sie lächelte vergnügt.

Denny streckte sich und setzte sich auf.

„Tschuldigen Sie, aber was haben Sie gesagt?“

„Oh, Verzeihung! Ich sagte: <Guten Morgen, Her Gideon!> und habe gefragt, ob Sie gut geschlafen haben.“

„Äh, …ja, … ja, habe ich. Danke! Wie spät ist es denn?“ Er kam langsam zu sich.

„Oh, schon ziemlich spät! Der junge Herr Gideon muss sich beeilen, denn gleich kommt Fräulein Teresia und holt den jungen Schüler ab. Das Gepäck vom jungen Herrn ist schon unterwegs zum Kolleg. Nun zehren sie mal ihr Morgenessen, damit es nicht hastig werde.“ Die Zwergin lächelte ihn freundlich an und verschwand aus dem Zimmer.


Ohne ein Klopfen wurde die Tür aufgerissen und Denny verschüttete vor Schreck seinen Kakao.

„Mensch, Tessa! Kannst du nicht klopfen?“

Tessa ignorierte seinen Ärger.

„Morgen, du Schlafmütze! Bist du bereit? Es geht gleich los!“ Sie war nervig munter. Langsam wurde die Zeit knapp. Schnell, aber vorsichtig, packte er noch sein Hemd aus Burma ganz nach unten in den Rucksack.

Endlich war es soweit. Sie verließen Aule Meille und fuhren im motorlosen Käfer die Meller Berge hoch. Es dauerte eine knappe Viertelstunde, bis sie auf einem am Waldrand gelegenen Parkplatz ausstiegen. Denny sah eine Menschenmenge in eine Richtung gehen. Er reihte sich neben seiner Wächterin mit ein. Sie kamen vor einem großen grünen Holztor zum Stehen, das noch verschlossen war. Darüber war in Holz gebrannt zu lesen <Waldbühne in Melle>. Direkt am Eingang hing das diesjährige Theaterprogramm einer Amateurtheatergruppe aus.

Denny schätzte, dass einige von den Jugendlichen ungefähr in seinem Alter waren. Viele wurden von ihren Eltern begleitet. Die Zahl der Wartenden wuchs. Dann entdeckte Denny auf einmal Mian und Moana gleich neben einem Kassenhäuschen. Die beiden hatten ihn auch entdeckt und winkten fröhlich.

Plötzlich öffnete sich das Tor und die Menge schob sich hindurch. Am Toreingang hielt sich ein bebrillter Zwerg mit einem großen Schlüsselbund auf. Er trug einen bis auf dem Boden hängenden Bart und sein Schädel war fast kahl. Er wirkte wie aus einem Märchenbuch entsprungen. Denny nahm an, dass es sich bei dem Zwerg um so etwas wie den Torwächter handeln musste. Mit strengem Blick ließ er die Schüler an sich vorbeiziehen. Viele der älteren Schüler begrüßten ihn höflich, andere jugendlich locker:

„Hi, Wölfi! Was geht?“ Ein Junge tätschelte ihn leicht auf seine Glatze.

„Ja, ja, schon gut!“, antwortete der Zwerg und machte eine leichte Abwehrbewegung nach oben. „Läuft! Oder wie man bei euch jungen Leuten redet. Nu geh man weiter.“

Tessas Augen leuchteten, als sie den Torwächter sah.

„Moin, Wölfi!“ Sie strahlte, beugte sich zu dem Zwerg hinunter und umarmte ihn.

Der Kleinwüchsige erwiderte ihre herzliche Geste. „Moin, Tereschia! Bescht du auck hier? Wat wuscht du dann hier uppe Waldbühne?“

„Wir sollten wohl besser hochdeutsch miteinander reden, sonst durchlöchert mich mein junger Begleiter wieder mit Fragen“, scherzte sie und legte dabei ihren Arm um Denny. „Das ist Denny Gideon. Ich bin für die nächsten Jahre seine Wächterin.“

Denny gab Wölfi die Hand.

„Aha! Dann hescht du ja in Tokunft wat to daun.“

„Kannst du laut sagen. Im Moment gibt es da ein paar Probleme mit den Xamamax. Weiß auch nicht, was die wirklich wollen! Aber mit ihm hier hab ich Glück gehabt“, sagte sie und griente Denny an. „Ich bin mit meinem Job zufrieden. Übrigens, Denny, Wölfi hat hier so was wie einen Doppeljob. Für die Gewöhnlichen arbeitet er als Hausmeister der Waldbühne und bei uns ist er für den Transport der Schüler bis zum Beutling verantwortlich und wartet die Transportanlage.“

Transportanlage? Wovon sprach Tessa?


Schon nach kurzer Zeit waren alle auf dem Gelände versammelt und hatten auf der Tribüne Platz genommen. Dennys Eltern hatten sich verspätet und waren die letzten Angehörigen, die erschienen. Tessa hatte für sie Plätze freigehalten und winkte ihnen zu. Denny hatte ein seltsames Gefühl im Magen. Er würde seine Eltern erst im nächsten Jahr wiedersehen und hoffte, dass er sein Zuhause nicht zu sehr vermissen würde. Endlich waren sie da!

„Hallo, mein Schatz, wir sind so aufgeregt und hoffen, dass du alles gut schaffst und Spaß dabei hast.“ Seine Mutter nahm ihn fest in den Arm, ebenso Samuel.

„Das wird er schon hinkriegen, was Denny?“

„Auf jeden, Papa!“

Denny war klar, dass seine Eltern von dem Zwischenfall am Steinbogentor noch nichts wussten. Er hoffte, dass Tessa das wiederholte Aufeinandertreffen mit den Xamamax verschweigen würde. Er hielt es für das Beste und würde es ganz sicher nicht erwähnen. Womöglich würden ihn seine Eltern aus Sorge nicht auf das Kolleg gehen lassen.

Die Zuschauertribüne war bis auf den letzten Platz besetzt. Denny blickte gespannt und aufgeregt auf die Bühne.

Nach einer kurzen Weile erschien Wölfi, der sich auf den Souffleurenkasten stellte und zu einer Ansprache ansetzte:


„Meine Damen und Herren, liebe Schülerinnen und Schüler …“ Er hielt kurz inne, um seiner Funktion als Transportanlagenverantwortlicher Ausdruck zu verleihen, dann verschränkte der leicht untersetzte Zwerg die Arme hinter seinem Rücken und wippte mit seinem Bauch vor und zurück. Dabei schaute er in die gespannten und erwartungsvollen Augen derer, die sich im Zuschauerraum befanden.

„Was läuft denn jetzt ab?“, wollte Denny von Tessa wissen.

„Wart´s ab“, entgegnete sie, „das könnte jetzt alles ein wenig dauern. Wölfi hat schließlich nur zweimal im Jahr seinen großen Auftritt.“ Ein Schmunzeln war in ihrem Gesicht zu erkennen.

Auch die Älteren unter den Schülern fingen an zu grinsen und lehnten sich genüsslich zurück.

Der Zwerg bat um Ruhe, nachdem leises Gelächter aufkam.

„Herrschaften, wenn isch einmal um Ruhe bitten darf. Isch möschte misch vorschtellen. Mein Name ischt Wölfi Trockenbrodtundwascher und isch bin für Ihren Transchport und ihre Schischerheit bischschum Beutling verantwortlisch. Für alle, die dasch erschte Mal an diescher Fahrt teilnehmen, isch tesch wischtisch schu wischen, dasch unschere Transchportanlage bereitsch über schweihundert Jahre ischt.“

Viele der Anwesenden, besonders die älteren Schüler, konnten sich das Lachen kaum verkneifen. Denny erging es ebenso.

„Der hat aber einen seltsamen Namen, der Wölfi!“, flüsterte er Tessa zu, während der Zwerg auf der Bühne seinen Vortrag zum Besten gab. Er hatte damit begonnen, die gesamte Geschichte der Anlage von der Entstehung bis zum heutigen Tage zu erzählen.

„Alle Zwerge haben so komische und seltsame Namen. Josef heißt zum Beispiel Josef Winzig und dieser Nachname ist im Vergleich zu anderen noch harmlos. Die Namen über den Geschäften in Aule Meille sind keine typischen Zwergennamen. Sie wurden von den vorherigen Besitzern einfach übernommen, da den Zwergen durchaus bewusst ist, dass ihre Namen zu lustig klingen. Viele von ihnen vermeiden es, ihre Namen zu nennen. Aber unser Wölfi hier gehört zu den Ausnahmen. Der steht zu seinem Namen. Das wissen auch die Schüler, die seit mehreren Jahren zum Kolleg gehen. Du wirst es nicht glauben, ungeachtet dessen, das sie sich amüsieren, lieben und respektieren ihn hier alle. Das wirst du gleich merken. Sein Auftritt hier hat mit den Jahren Kultstatus bei den Schülern erlangt und gilt als inoffizielle Eröffnungsrede.“

Wölfi Trockenbrodtundwasser hatte gerade seinen Vortrag zum Abschluss gebracht und unverhofft erklang tosender Beifall und Jubel. Die meisten der Schüler standen applaudierend auf und schrien <Superwölfi>, einige Mädchen warfen Blumen auf die Bühne.

Die Schülermenge tobte.

Wölfi verbeugte sich mehrmals und genoss die Ovationen. Auch Denny fand das Ganze amüsant.

„Also, ich find ihn irgendwie auch ganz puschig“, erklärte Denny. Auch Tessa beteiligte sich am Massenklatschen.

„Hab` ich es dir nicht gesagt? Sie lieben ihn. Mittlerweile ist das hier zur Tradition geworden - einfach alles gehört dazu: der Vortrag, das Jubeln, Klatschen und die Stimmung hier. Wölfi wird übrigens von den Schülern liebevoll Promizwerg genannt, weil alle ihn kennen.“

Der Beifall und Jubel ebbte ab und wie auf Kommando standen die Schüler auf und stellten sich in Reih und Glied auf. Denny beobachtete mit großen Augen von oben, wie einer nach dem anderen im Soffleurbereich verschwand. Die Schülerschlange reichte bis zur letzten Zuschauerbank. Die Erstschüler, die das erste Mal fuhren, waren laut Gepflogenheit die Letzten in der Schülerreihe.

„Also dann …!“ Denny drückte ein letztes Mal seine Eltern. Salome und Samuel wünschten ihm Glück und viele Freunde. Tessa ermahnten sie, auf Denny gut acht zu geben. Wenn die beiden wüssten …

„Und wann sehen wir uns, Tessa?“, fragte Denny.

„Gleich morgen im Kolleg, denke ich. Professor Sauer wird interessieren, was sich in den letzten Tagen ereignet hat. Ich werde dich rechtzeitig benachrichtigen, wenn er mit uns sprechen will.“

Denny flüsterte: „Meinst du auch das mit den Xamamax am Portal?“

„Ja, natürlich!“, gab sie ebenso leise zurück. „Professor Sauer will gerne über alles - sowohl innerhalb als auch außerhalb des Kollegs - informiert werden. So, nun denn, mein kleiner Steinmagier, du verlierst sonst den Anschluss.“ Sie reichten sich die Hand, die Tessa kräftig drückte.

Denny bildete mit Mian und Moana das Ende der Schlange. Die Zwillinge strahlten mit ihm um die Wette.

...und der grüne See
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