Was gab es denn so Wichtiges zu erledigen?“
Denny zeigte ihr seinen ersten Einkauf, den er alleine in Aule Meille mit Fünfsilber-Mark getätigt hatte.
Tessa kam aus dem Staunen nicht heraus.
„Donnerwetter, das nenne ich Glück! An solche Hemden ist schwer ranzukommen und es gibt kaum noch welche davon.“
Denny brauchte noch Zeit, um zu verschnaufen und bestellte sich erst mal einen Holundersaft, der diesmal von einer kleinwüchsigen Frau serviert wurde.
Auf der gegenüberliegenden Seite sah Denny ein leer stehendes, zerfallenes Geschäftshaus. <Heilwasser für Mensch und Tier> las er an einem halb herunter hängenden Brett. Hinter der verschmierten Ladentür hing ein Schild mit der Aufschrift <Vorübergehend geschlossen>. Das Haus schien schon viele Jahre leer zu stehen. Hohe Gräser und Unkraut versperrten den Zugang und verschandelten die Hausfassade. Denny dachte sich nichts dabei. Geschäftsaufgaben waren in der heutigen Zeit nicht selten.
Mittlerweile hatte er sich von seinem Sprint erholt und ließ sich ein zweites Glas Holundersaft bringen.
Denny kräuselte die Stirn.
„Tessa, erklär mir doch mal, warum leben und arbeiten hier so viele kleinwüchsige Menschen?“
Seine Wächterin nippte genüsslich an ihrem Glas.
„Auf diese Frage von dir habe ich schon gewartet. Sie gehören nicht zu den Menschen, wie du sie bisher hin und wieder mal gesehen hast. Sie haben keine Gen-Erkrankungen. Es sind Zwerge!“
„Nee, ne?“ Dennys Blick wanderte zu der fleißigen Bedienung, die zwischen den Kunden hin und her eilte.
„Ja, du hast richtig gehört. Zwerge! Du kennst sie aus verschiedenen Märchen. Die Gewöhnlichen wissen rein gar nichts von deren Existenz - genauso wenig wie von unserer. Vor vielen Jahren waren sie ausschließlich in der Bergarbeit beschäftigt und versorgten uns Steinmagier mit Edelsteinen. Sie waren so ziemlich in allen Wäldern und Bergen Deutschlands anzutreffen. Vor etwa fünfzehn bis zwanzig Jahren begann für die Zwerge eine schlimme Zeit. Es gab einen mächtigen Steinmagier im Harz, der anfing, die Zwerge dort zu verfolgen und zu zwingen, für ihn Edelsteine zu bergen – und zwar ohne Gegenleistung. Diejenigen, die sich weigerten - und das waren nicht wenige - wurden eingesperrt oder von ihm getötet. Viele konnten flüchten. Für die Ältesten unserer Gemeinschaft war der Bogen überspannt und sie stellten ihn zur Rede. Es kam zu einem heftigen Streit innerhalb des Rates. Auch er gehörte für eine gewisse Zeit dem Ältestenrat an und hatte viele andere Steinmagier auf seine Seite gezogen. Dabei waren seine Anhänger nur solche, die es in unserer Gemeinschaft zu nichts gebracht hatten oder straffällig geworden waren. Dieser mächtige Steinmagier verließ schließlich die Gemeinschaft, zog mit seinen Gefolgsleuten in den Harz und gab sich und seinen Anhängern einen neuen Namen: Die Xamamax! Der Begründer dieser Gruppe verfolgte die Zwerge unbeirrt weiter. Sein Ziel ist es noch immer, sämtliche Steinmagier unter sich zu vereinen. Es kommt noch immer zu Auseinandersetzungen zwischen den Xamamax und uns, die nicht selten blutig enden. Letztendlich zahlte sich unsere Überlegenheit aus, und wir konnten verhindern, dass die Xamamax in anderen Landstrichen Einfluss bekamen. Zurzeit herrscht im Großen und Ganzen Ruhe. Im Harz ist es allerdings immer noch gefährlich für die Zwerge. Dort leben nur noch wenige von ihnen in Freiheit oder arbeiten für uns als Spione. Eine Unzahl floh damals ins Wiehengebirge oder zu uns in den Teutoburger Wald. Soviel Arbeit gab es hier für Bergleute nicht. Also wurden sie umgeschult und haben – wie du siehst – andere Beschäftigungen gefunden.“
Denny hatte aufmerksam zugehört.
„Nannte man den Anführer vielleicht den <Braunen Baron>?“
„Ja“, erwiderte sie verwundert, „aber woher weißt du das?“
„Als wir heute bei Josef wegen meiner Steine waren, hast du dich mit ihm in einem seltsamen Dialekt unterhalten und unter Anderem fiel auch der Name <Brauner Baron>.“
„Ach so! Das war übrigens Plattdeutsch, wie auch der Ortsname Aule Meille. Übersetzt: Altes Melle. Dein Großvater ist, als er so alt war wie du jetzt, mit diesem Dialekt aufgewachsen. So, Denny! Jetzt wird`s aber Zeit, ins Bett zu gehen. Morgen geht’s zum Sammelplatz <Waldbühne> und dann in Richtung Schulkolleg Beutling. Der große Schulempfang ist morgen Abend. Du kannst morgen früh ausschlafen. In diesem Gasthof hab ich für dich eine Unterkunft besorgt. Ich hol dich Mittag hier ab und begleite dich zur Waldbühne.“
Denny nickte müde.
„Ist gut. Ich hab wirklich Glück, dass gerade du meine Wächterin bist. Danke für alles.“
Tessa lächelte gerührt.
„Ich bin gerne deine Wächterin und solange es notwendig erscheint, werde ich es auch bleiben. Das verspreche ich dir. Gute Nacht Denny, und schlaf schön, wir sehen uns morgen!“
„Gute Nacht, Tessa.“
Denny blickte seiner Wächterin nach, bis sie nicht mehr zu erkennen war und ließ sich dann von der Zwergin sein Zimmer zeigen. Erschöpft schlief er kurze Zeit später ein.