Bei der hohen Geschwindigkeit spürte er den Gegenwind in seinen Ohren pfeifen.

Denny wagte es nicht, sich nach seinen Begleitern umzuschauen. Er befürchtete, bei diesem Tempo Hindernisse zu übersehen, denen er nicht mehr ausweichen konnte. Nur hin und wieder schaffte er es, einen Blick auf seinen Kompass zu werfen, um die Richtung beizubehalten. Was das betraf, so befand er sich auf dem richtigen Weg. Nach einem steilen Anstieg war Denny oben auf einem Berg angekommen. Er drehte sich das erste Mal um und war sich sofort darüber im Klaren, dass er seit längerer Zeit allein gelaufen sein musste. Rings um ihn bewegte sich nichts. Autos pufften in der Ferne ihren Dreck durch die Gegend. Um keine Zeit zu verlieren, lief er in dem hohen Tempo weiter in die Richtung, die der Kompass vorgab.

Auf einer kleinen Anhöhe blieb Denny stehen. Von weitem sah er die Kirchtürme der Stadt Halle. Direkt vor ihm erstreckte sich ein endloses Feld mit Wiesen und einer meterhohen Rotbuchenhecke, darin war ein Tor hineingeschnitten. Denny war sich ziemlich sicher, dass er am Ziel war. Nochmals schaute er auf seine Karte und schritt dann durch das Tor. Eine bis auf die Grundmauern heruntergekommene alte Burgruine kam zum Vorschein und inmitten des mittelalterlichen Gemäuers stand er da: Der silberne Zwerg.

Denny ging auf die Zwergenstatue zu. Sie stand auf einem Sockel und hielt mit der rechten Hand eine Spitzhacke geschultert. Denny entdeckte den faustgroßen roten Achat in der anderen Hand und stand nun direkt davor. Vorsichtig nahm er dem Zwerg den Stein aus der flachen, ausgestreckten Hand und steckte ihn ein. Jetzt wollte er nur noch zurück zum Uranusbaum.

Denny kniete sich hin und breitete die Karte aus. Der Punkt des Beutlings war bereits eingezeichnet und er brauchte lediglich den Kompass ausrichten, um so die Richtungsangabe ablesen zu können. Als das erledigt war, packte Denny die Sachen zügig ein und setzte zum Lauf an.

Mit einem heftigen Stoß wurde er nach hinten gegen den Zwerg geschleudert. Schnell kam Denny wieder zu sich, richtete sich auf und suchte hinter der Statue Schutz. In Verteidigungshaltung und mit aufgerichteten Armen suchte er das Ruinengelände nach den Angreifern ab.

Sie ließen nicht lange auf sich warten. Zwischen den alten Burgresten traten fünf junge Männer hervor, die Denny noch nie im Kolleg gesehen hatte. Sie trugen nicht die typisch grünen Anzüge, sondern waren ganz in grau gekleidet mit braunen langen Mänteln, an denen ein silbernes <H> zu erkennen war. Denny schätzte sie nicht wesentlich älter, als die Schüler der höheren Ebenen aus dem Beutling. Er ahnte, dass die Situation nicht zum Trainingsplan gehörte und gab seine Position nicht auf. Denny blickte kurz um sich, um eine geeignete Fluchtmöglichkeit zu finden.

Einer von denen löste sich aus der Gruppe und trat langsam auf Denny zu. Fettiges, blondes Haar reichte ihm bis auf die Schultern, und er trug ein sichtbares Muttermahl in der linken Gesichtshälfte.

„Sieh an, sieh an“, erklang seine süffisante Stimme, „wen haben wir denn da? Wenn das nicht der neue Läufer der Uraner ist! Professor Felten hatte Recht, als er sagte, dass sie dich zum Läufer machen würden. Und das allein nur wegen vier Steinen. Naja, wie dem auch sei, ich soll dich von Felten grüßen und dir eine kleine Nachricht von ihm überbringen.“

Denny versuchte seine Angst zu überspielen und Zeit zu gewinnen. Irgendwann mussten Bernd und die anderen hier erscheinen.

„Zuerst will ich wissen, wer du bist, was du willst und woher du weißt, dass du mich hier finden würdest.“ Seine Stimme klang laut und deutlich in der Hoffnung, jemand anderes würde ihn hören.

Der Anführer grinste und zeigte seine gelben Zähne. Seine Begleiter begannen, sich ebenfalls zu amüsieren.

„Wenn du auf deine Kammeraden wartest, muss ich dich leider enttäuschen. Sie werden gerade von einigen unserer Leute ein wenig beschäftigt. Ich bin übrigens Julius Belfort.“

„Julius, spinnst du?“, mischte sich einer der hinter ihm Stehenden ein.“ Der Baron hat doch ganz klar gesagt, dass wir unsere Namen nicht nennen sollen.“

„Das ist mir doch Latte“, bellte Julius zurück. „Glaubst du denn, vor diesem Pilz sollten wir Angst haben? Weißt du eigentlich, wie alt der ist?“

„Julius, vergiss nicht, weswegen wir hier sind!“, meldete sich ein anderer seiner Begleiter.

„Ist ja gut“, winkte Julius genervt ab und wandte sich wieder an Denny. „Also Kleiner! Wir wissen selbstverständlich, dass dieser Platz mit diesem dämlichen und hässlichen Zwerg zu eurem Trainingsprogramm gehört. Und was wir wollen, kannst du ja wohl checken, oder etwa nicht?“

Denny lief es kurz kalt über den Rücken, als einer der fünf Fremden über den <Braunen Baron> sprach. Ab da wusste er, wem er gegenüber stand. Sie waren Xamamax. Und sie hatten einen bestimmten Auftrag. Es musste mit dem Paraiba zu tun haben, vermutete Denny. Dem Alter nach zu urteilen, waren sie offensichtlich Xamamax-Schüler. Er hoffte das zumindest. Denn so besaß er bei einer möglichen Auseinandersetzung noch den Hauch einer Chance, heil aus dieser Situation herauszukommen. Bei ausgebildeten Steinmagiern, da war sich Denny sicher, würde er auf jeden Fall den Kürzeren ziehen. Ein weiterer Hoffnungsschimmer galt dem baldigen Eintreffen seiner Mannschaftskammeraden, zumindest dem seiner Leibwächter - einschließlich Bernd.

Innerlich verzweifelt und nach einer günstigen Fluchtmöglichkeit suchend, versuchte Denny, Zeit zu gewinnen.

„Natürlich weiß ich das“, gab er vor, „aber ich habe mich nun mal für diese Schule entschieden. Ich meine, das hätten eure Leute bereits hinter unserem Haus begriffen. Ich werde mich auch nicht mehr anders entscheiden.“

Denny überlegte, ob er gleich in den nächsten Minuten eine Attacke starten sollte, um im gleichen Augenblick flüchten zu können. Die ungepflegt aussehenden Schüler aus dem Harz blickten sich irritiert an, bis Julius wieder das Wort ergriff.

„Wovon sprichst du zum Teufel? Glaubst du allen Ernstes, du wärst so begehrt, und dass du in unsere Schule passt? Nee, nee! Dieser Zug ist für dich ohnehin schon abgefahren. Was unser Professor will, ist etwas ganz anderes.“

Julius räusperte sich kurz, bevor er mit gespielter Freundlichkeit fortfuhr. „Felten lässt dir durch uns ausrichten, dass er dir gern bei der Suche nach etwas Bestimmten behilflich sein möchte. Und als kleine Gegenleistung hätte er gern diesen Stein. Selbstverständlich erst, nachdem du ihn benutzt hast. Unser Schulleiter, musst du wissen, ist leidenschaftlicher Sammler von seltenen Edelsteinen. Er ist der Ansicht, dass du ihn danach sowieso nicht mehr brauchst.“

Der <Grüne See>! Die Xamamax wussten - woher auch immer -, dass er auf der Suche nach dem <Grünen See> war. Und jetzt wollte der <Braune Baron> aus irgendeinem Grund seinen Stein.


„Eine seltsame Art, mir das mitzuteilen“, erwiderte Denny und sehnte sich nach seinen Mannschaftskameraden.

Angestrengt dachte er darüber nach, wie er am besten angreifen sollte und hielt seine rechte Hand hinter dem Rücken verborgen. Er streckte die Finger. Denny war im Begriff, in den nächsten Sekunden blitzschnell seinen Arm hervorzustoßen, als er einen weiteren Xamamax hinter der Ruinenmauer auftauchen sah. Mit einem Aufleuchten an seinem Lederband schritt der unvermittelt auf Julius zu. Ein Strahl schoss heraus und mit einer Wirkung stieß er ihn zu Boden. Julius krümmte sich vor Schmerzen, während der andere wutentbrannt über ihm stand.

„Wenn der Professor mitbekommt, dass du das hier vermasselt hast, kannst du dich warm anziehen, Alter“, zischte er durch die Zähne. „Ich habe dir klar und deutlich aufgetragen, den Jungen hier zu empfangen und ihn darum zu bitten, noch einen Augenblick zu warten, bis ich da bin. Aber du musst mal wieder einen auf Chef machen.“

Der hinzu gekommene Xamamax wandte sich Denny zu und versuchte, freundlich zu wirken, was ihm besser zu gelingen schien als Julius.

„Entschuldige! Ich heiße Friedwart Steller. Ich muss mich für Julius entschuldigen. Aber er ist manchmal ungestüm in der Kontaktaufnahme und in sozialer Hinsicht hat er seine Probleme.“

Friedwart - wie die anderen Xamamax von hagerer Gestalt und mit Gel zurückgekämmten, dunkelblonden kurzen Haaren - reichte Denny die Hand. Denny schüttelte sich vor Ekel, nachdem er sie widerwillig ergriffen hatte. Friedwarts Hand war feucht-warm und roch nach Essig.

„Du bist Denny? Denny Gideon?“

Denny nickte misstrauisch.

„Schön“, ließ Friedwart zufrieden vernehmen. Er ging um Denny und den steinernen Zwerg herum und sprach dann weiter: „Wie du schon von Julius erfahren hast, schickt uns Professor Felten zu dir …“

„Woher wusstet ihr, dass ich hierher kommen würde?“, unterbrach ihn Denny, bemüht, seine Angst zu verbergen.

„Das tut nichts zur Sache, Denny“, wiegelte der Xamamax ab. „Wir wissen viel mehr als das, zum Beispiel, dass dein Großvater etwas hatte, ohne das er nicht der Hüter des <Grünen Sees> geworden wäre. Nun ja, jetzt hast du dieses Amt geerbt, weißt aber nicht, wo sich dieser See befindet. Und dieses Etwas, das in deinen Besitz überging, ist - soviel ich weiß - ein Stein. Nicht nur irgendein Stein, sondern ein ganz besonders magischer Stein. Unser Schulleiter, Herr Professor Felten, bietet dir seine Hilfe an, verstehst du? Er kennt sich hier in den Wäldern sehr gut aus und hat natürlich, wie jeder Steinmagier, ein großes Interesse daran, dass es endlich wieder dieses Heilwasser gibt.“

„Und was will er noch?“ Denny war argwöhnisch. Ein inneres Gefühl riet ihm zu äußerster Vorsicht.

„Nun“, lächelte Friedwart, „unser Professor würde sich sehr freuen, wenn er die Möglichkeit bekäme, sich mit dir zu unterhalten. Völlig zwanglos. Er würde dir bei dieser Gelegenheit gern den Harz zeigen. Dafür müsstest du allerdings mitkommen. Ich mach dir einen Vorschlag: Was hältst du von … jetzt gleich? Heute Abend könntest du schon wieder zurück sein.“

Denny schaute verdutzt drein. Friedwart kam näher und sah ihn mit einem seltsamen Lächeln an, als ob es für ihn völlig außer Frage stand, wie seine Entscheidung ausfallen würde.

Denny bemerkte in den Gesichtern der anderen Xamamax ein einheitliches Grinsen. Julius hielt sich im Hintergrund und war der Einzige, der ihn hasserfüllt ansah.

„Und was wäre, wenn ich nicht mitkommen könnte?“, fragte Denny. „Ich meine, weil es mir in diesem Moment absolut nicht passt?“

Das Lächeln in Friedwarts Gesicht verschwand und seine Lippen bildeten einen Strich. Die anderen Xamamax blickten gespannt auf ihren Anführer und warteten auf dessen Reaktion.

„Dann werden wir eben …“

„Was werdet ihr Harzaffen mal so eben, he?“

Denny stöhnte vor Erleichterung förmlich auf. Die kräftige Stimme von Bernd hallte in den Ruinenmauern wider. Nach und nach erschienen Roswita und andere, ältere Uraner. Rüstem und die Kameraden der ersten Ebene waren ebenfalls mitgekommen, hielten sich aber im Hintergrund.

Friedwart schnellte herum und sah sich der gesamten Uranermannschaft gegenüberstehen. Er setzte sofort wieder sein falsches Lächeln auf.

Denny beobachtete, wie Rüstem sich langsam aus der Gruppe löste und sich auf ihn zubewegte.

„Ah, wenn das nicht unser großer Bernd ist. Eigentlich haben wir euch noch nicht so früh erwartet. Euer neuer Läufer war wohl ein wenig zu schnell für euch, was?“

„Lass das Gefasel, Ranzratte“, erwiderte Bernd scharf. „Deine drei Leute kannst du nachher auf dem Rückweg wieder wie Hühner aufpicken. Das waren Opfer und keine Gegner. Was willst du eigentlich hier? Das ist unser Platz, und ihr habt hier nichts zu suchen.“

Friedwart setzte nun eine unschuldige Mine auf. „Och, wir wollten uns bloß ein wenig mit eurem neuen Läufer Gideon unterhalten. Sonst nichts. Weißt du, Bernd, sein Großvater und unser Professor Felten waren einmal gute Fr…“

„Halt endlich die Klappe, Steller! Mach, dass du Land gewinnst und nimm deine Rolltorten mit. Hier finden für dich keine Unterhaltungen statt, du Spacko!“, fauchte Roswita.

Friedwarts Augen verengten sich zu Schlitzen.

„Pass auf, was du sagst, Fräulein“, zischte er, „das kann bei dir ganz schön ins Auge …“

Julius stieß seine Hand vor und versetzte Roswita einen unsichtbaren Schlag in den Unterleib. Sie krümmte sich nach vorne und sackte auf die Knie, bis sie ganz vornüber fiel. Das Armband des Angreifers leuchtete nochmals auf. Doch zur zweiten unfairen Attacke kam es nicht mehr. Bernd kam Julius zuvor und stieß ihn so aus dem Gleichgewicht, dass er rückwärts über ein paar Mauerreste stürzte.

Sämtliche Schüler aus Harz und Beutling rissen augenblicklich ihre Arme hoch oder stießen die Hände nach vorne. Das Aufleuchten von verschiedenen Steinen und zischenden Lichtstrahlen, die über den ganzen Platz schwirrten und ihr Ziel suchten, erfüllten das Ruinengelände.

Denny hatte sich nach wie vor hinter dem Zwerg verschanzt. Er war gerade dabei, einen gegen ihn gerichteten Angriff von der  rechten Seite abzublocken und eine Gegenattacke zu wirken. Diese traf zwar, wurde aber ohne Probleme abgefangen.

...und der grüne See
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