Trotz allem war Professor Lanze außerordentlich begeistert von dem, was er in der Stunde sah.
Während des Unterrichts hatte es aber auch einen kleinen Zwischenfall gegeben. Hieronimus Telch, ein Junge aus Jupiter, hatte es mit einem Radio zu tun, das er auf eine Matratze zu werfen versuchte. Er traf damit eine Mitschülerin so hart am Kopf, dass sie mit einer Platzwunde zu Dr. Heising begleitet werden musste. Mian, immer noch von Stummheit und Schmerzen geplagt, nutzte die Gelegenheit, mit dem betroffenen Mädchen ins Heilzentrum zu gehen.
Gegen Ende des Unterrichts hatte Denny mit den ersten fünf roten Steinen die gewünschten Wirkungen erzielt. So konnte er zu guter Letzt die Plastikflasche dazu bewegen, von einer Stelle zur anderen zu schweben. Es gelang ihm außerdem, sie von grün in rot zu verwandeln und zum Schluss, nachdem er sie mit einem roten Calcit auf Daumengröße hatte schrumpfen lassen, in die offene Truhe hineinzuwerfen. Denny fühlte nach der Stunde eine innere Glückseligkeit. Er hatte heute gleich fünf Wirkungen erzielt.
Punkt elf Uhr dreißig läutete die Uhr des Herrenhauses zur Mittagspause und Lanze entließ die Schüler. Er war mehr als zufrieden mit den Leistungen.
Mian wartete bereits vor dem Speisesaal. Schon von weitem hatten sie sehen können, dass sie ein weiteres Halsband trug. Ein blau-weißer Stein war daran angebracht. Moana beschleunigte ihren Gang und war zuerst bei ihrer Zwillingsschwester.
„Alles klar mit dir?“
„Natürlich.“ Mian zeigte Moana den Heilstein. „Schau mal, ein Chalcedon. Als Dr. Heising mir den umgelegt hatte, ließen die Schmerzen sofort nach und meine Stimme kam so langsam wieder. Außerdem sieht er gut aus.“
„Ist ja klasse!“, stieß Moana sichtlich erleichtert aus.
„Morgen will sie ihn aber wiederhaben“, sagte Mian wehmütig und blickte verträumt auf den Chalcedon.
Auch Denny und Rüstem sah man die Erleichterung an.
„Jetzt kannst du uns ja wieder kräftig die Ohren blutig sülzen, stimmt´s, Denny?“, scherzte Rüstem, was ihm blitzschnell einen kleinen, nicht ernst gemeinten Hieb von Mian in die Magengegend einbrachte.
Zu Mittag gab es Reibekuchen mit Apfelmus. Während des Essens unterhielten sie sich angeregt über die Stunde bei Lanze. Denny fiel nebenbei auf, dass Mian sich zum zweiten Mal fünf Stück nachgelegt hatte.
Moana stieß ihre Schwester an.
„Sag mal, ist alles ok mit dir? Ich habe dich noch nie so viel essen sehen.“
„Alles bestens. Dr. Heising hat mich schon gewarnt, dass der Stein eine kleine Nebenwirkung hat und den Appetit anregen würde - aber nur einen Tag lang.“
„Kannst du den Chalcedon nicht zum Essen ablegen?“, fragte Rüstem. „Nicht, dass du heute noch platzt oder neue Klamotten kaufen musst!“
„Auf keinen Fall! Dr. Heising hat das streng untersagt. Die Beschwerden würden zurückkommen, aber um ein vielfaches schlimmer.“ Mian nahm sich gleich noch mal drei Reibekuchen und kratzte den Rest Apfelmus aus der Schüssel. Kopfschüttelnd drehte sich Rüstem zu Denny, der nachdenklich vor sich hin starrte. Während Mian mit ihrem Essen beschäftigt war, verabschiedete Moana sich von den Dreien. Sie wollte sich noch ein Fachbuch für Heilkräuter aus der Bibliothek holen, um sich auf das Fach <Heilstein- und Heilkräuterkunde> vorzubereiten.
„Ey, Digger, was denkst du gerade?“, fragte Rüstem.
„Lanze sagte doch, dass jedes Schuljahr nur eine Gruppe von Steinen durchgenommen wird, oder?“
„Jep!“
„Hat er nicht acht Gruppen aufgezählt?“
„Denke schon.“ Rüstem wusste nicht so recht, was Denny meinte.
„Und wir haben acht Ebenen, wobei die letzte Ebene für Wiederholung und Schlussprüfung gedacht ist. Dann bleibt also eine Steingruppe übrig!“
„Ah! Jetzt check ich erst, was du meinst. Es sind die schwarzen und schwarz-weißen.“
„Hä?“, machte Denny. „Schwarz und schwarz-weiß?“
„Na, die Sport- und Laufsteine, kapierst du?“
Denny schüttelte seinen Kopf. „Öh … nö!“
Rüstem schob seinen Teller beiseite, legte einen Arm auf den Tisch und den anderen um Dennys Schultern.
„Pass auf, Dennylein, bei den schwarzen und schwarz-
weißen Steinen handelt es sich um Sportsteine, verstehst du? Die werden nicht im Unterricht durchgenommen.“
„Sportsteine?“ Denny verstand noch immer nicht, was Rüstem meinte.
„Alter, damit kannst du laufen, schneller als jeder Mittelklassewagen fährt. Du kannst `n Elefanten als Hürde nehmen, so hoch springst du damit. Mit diesen Steinen kannst du im Sport zum Beispiel aktive und passive Wirkungen herbeiführen. Das bedeutet Angriff und Verteidigung, sportlich gesehen, meine ich. Nichts Lebensgefährliches.“
Denny starrte seinen Freund immer noch verständnislos an.
Rüstem war über Dennys Unwissenheit fassungslos und bestürzt zugleich.
„Schon mal was von Stonecashing gehört?“
Denny zuckte hilflos mit den Schultern.
Mian hatte sich in der Zwischenzeit einen weiteren Teller gefüllt und nicht einmal mitbekommen, worüber sich die beiden unterhielten.
„Denny, es gibt unter Steinmagiern eine beliebte Sportart, so auch hier im Kolleg. Diese nennt man Stonecashing. Es treten immer zwei Mannschaften gemeinsam gegen eine andere Mannschaft an. Jede Mannschaft besteht aus zwanzig Spielern. Weißt du, was das heißt?“
„Dass letztendlich zwanzig Spieler insgesamt vierzig Gegenspielern gegenüberstehen, denk ich.“
„Toll!“, sagte Rüstem in übertriebenem Tonfall, „das hat du schön gesagt. Ich bin ja so stolz auf dich!“
„Jetzt lass den Scheiß und erzähl weiter.“
„Is ja gut! Bleib chillig. Also, es geht darum, einen ganz besonderen und bestimmten Stein zu finden und ihn in Sicherheit zu bringen. Dieser wird in der Regel vom Schuldirekter ausgesucht und irgendwo in den Wäldern deponiert, was Hunderte von Kilometern entfernt sein kann. So ein Spiel kann unter Umständen bis tief in die Nacht andauern.“
Dennys Interesse an Stonecashing wuchs zunehmend. Er überhörte sogar die schmatzenden Geräusche, die Mian von sich gab.
Plötzlich setzte sich ein älterer Schüler zu ihnen. Denny kannte ihn nur flüchtig aus der Baumgemeinschaft.
„Hallo, Jungs“, unterbrach er die beiden und hielt ihnen die Faust entgegen. Einer nach dem anderen stieß an. „Entschuldigt, wenn ich euch störe. Ich bin Bernd Pilgrim und in der vierten Ebene. Außerdem bin ich der erste Spielführer unserer Stonecashmannschaft. So viel ich weiß, seid ihr auch Uraner, stimmt´s?“
Beide nickten.
Mian verlor in der Zwischenzeit die Kontrolle und hatte sich unbemerkt vom Nachbartisch eine weitere Schüssel mit Apfelmus besorgt.
„Habt ihr beide da nicht eben von Stonecash gesprochen?“
„Ich versuche ihm gerade das Spiel zu erklären, aber mein Kumpel hat noch nicht wirklich Peil davon. Ich bin übrigens Rüstem Kurt und das hier ist mein Freund Denny Gideon.“
„Also, wenn ihr Lust habt, könnt ihr Sonntag in vier Wochen zum Auswahltraining kommen. Nach dem letzten Kollegjahr haben einige von den Älteren wegen Abschluss- und Prüfungsvorbereitungen aufgehört. Deswegen brauchen wir jetzt neue Spieler. Wichtig ist nur, dass Ihr bis dahin alle Sportsteine geschliffen habt. Es gibt aber noch einen Aushang in unserem Gemeinschaftsraum. Und? Habt ihr Interesse?“
Denny und Rüstem schauten sich an und nickten sich zu.
„Gebongt! Wir werden da sein!“, versprach Rüstem.
„Super!“ Bernd zog gut gelaunt einen kleinen Schreibblock hervor. „Eure Namen habe ich schon, nun brauche ich der Vollständigkeit halber die Namen eures Hauptsteins. Was für einen hast du, Rüstem?“
„Türkis“, antwortete Rüstem und hielt ihn Bernd vor das Gesicht.
Mian ging inzwischen dazu über, ihren Teller und das Besteck abzuschlecken, wobei sie mit einem Auge auf Rüstems Essen schielte.
„Und deiner, Denny?“, fragte der Spielführer, während er sich Rüstems Stein notierte.
Denny sah erst Rüstem, dann den Spielführer an und fragte zaghaft: „Reicht einer?“
Bernd war irritiert. „Wieso? Hast du zwei Hauptsteine? Natürlich brauche ich dann alle zwei. Je mehr Hauptsteine ein Casher hat, umso stärker ist er.“
„Äh, ich habe vier. Indigolith, Rubellit, Verdelit und Schörl.“
Bernds Kinnlade fiel augenblicklich nach
unten.