Einen Wächter hatten Sie sich ganz anders vorgestellt. Ganz sicher nicht so klein und zierlich.
„Bist du schon länger da?“, fragte Denny.
„Ich bin erst gestern nach Mitternacht in die <Villa Orange> eingezogen. Der Schulleiter hat mich gleich heute Morgen zu sich gerufen und erwartet uns beide gleich nach dem Unterricht.“
Denny verzog das Gesicht. „Ich kann aber nicht!“ Hilfesuchend schaute er seine Freunde an.
„Tut mir leid, Denny, aber Professor Sauer hält das Gespräch für sehr wichtig und ist der felsenfesten Überzeugung, dass es keinerlei Aufschub geben darf.“
„Lass nur, Denny!“ Mian zeigte Verständnis für Tessa. „Ich denke, dass mit der Bibliothek kriegen wir auch alleine hin, stimmt’s?“
Moana und Rüstem nickten.
Was blieb Denny übrig? „Also knäcke, Tessa! Holst du mich nach der Stunde hier ab? Ich hab ja schließlich keinen blassen Schimmer, wo sich das Büro vom Direx befindet.“
„Klar. Wir sehen uns dann später! Viel Spaß bei Hoffalt! Ich geh jetzt erst mal was essen.“ Sie verschwand in Richtung Herrenhaus.
„Kommt jetzt“, trieb Moana die anderen an, „es wird Zeit! Nihora hat uns erklärt, dass wir noch so einiges an Stufen nach unten zu gehen haben. Edelsteinkunde findet nämlich unter Tage statt.“
Sie waren rechtzeitig angekommen und betraten ein großes Klassenzimmer, wie Denny es aus der Gesamtschule kannte. Nur, dass die Wände fast vollkommen mit Edelsteinen besetzt waren. Hinter dem Lehrerpult hing eine riesengroße Weltkarte. Unter der Zimmerdecke waren Bergkristalle eingesetzt, die für ausreichend Licht sorgten. Denny, Rüstem und die Zwillinge setzten sich gemeinsam an einen Vierer-Tisch.
Es dauerte nicht lange, da erschien auch Professor Hoffalt. „Guten Morgen, meine Damen und Herren, ich möchte …“
Die Tür wurde nochmals aufgerissen und Mike Hesken - wie Denny ein Uraner - kam hereingestürzt und schnappte völlig außer Atem nach Luft. „Tschuldigung! Hab mich verlaufen“, hechelte er mit hochrotem Kopf und setzte sich ganz nach hinten auf den einzigen noch freien Platz.
„Ruhe bitte! Wir scheinen ja jetzt vollzählig zu sein“, stellte sie in strengem Ton fest, nicht ohne Mike einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen.
„Schlagen Sie bitte das Lehrbuch <Die Lehre der Edelsteine> auf. Genauer gesagt, das Inhaltsverzeichnis. Legen Sie danach Ihr Armlederband mit den fertig geschliffenen Steinen auf den Tisch.“
Denny sah sich kurz um und bemerkte, dass die meisten seiner Mitschüler mit ihren Edelsteinen nicht viel weiter gekommen waren als er. Der Einzige, der die Vorgabe für das gesamte Schuljahr voll erfüllt hatte, war Rüstem.
„Nun, wer nennt mir die Namen der Steine Elf, Zwölf und Dreizehn? Herr Kurt!“
Rüstems Arm war der einzige, der nach oben gerichtet war.
„Achat Rot, und …“ Rüstem hielt inne.
„Nur zu, Herr Kurt! Ich werde Sie schon nicht unterbrechen. Ich will ja schließlich wissen, was Sie wissen!“
„… Aventurin Rot und Blutchalcedon”, schloss er seine Antwort ab.
„Sehr gut, Herr Kurt. Meine Damen und Herren, als Hausaufgabe bis kommenden Freitag erwarte ich von Ihnen einen vollständigen Bestimmungsbericht über jeden dieser Steine. Ferner alle Angaben über Dichte, Farbe, Glanz, Kristallform, Vorkommen - in welchen Ländern sie bevorzugt zu finden sind - und was die jeweiligen Besonderheiten dieser Steine sind.“
Denny beugte sich zu Rüstem. „Hab ich dir eigentlich schon mal erzählt, dass man mich in meiner alten Schule <Schlauscheißer> genannt hat?“
Rüstems Augenbrauen zogen sich zusammen. „Willst du damit sagen, dass ich ein …“
„War `n Witz, Digger!“ Denny grinste. „Ehrlich gesagt find ich´s ja geil, dass du so viel weißt. Dein Großvater ist bestimmt stolz auf dich.“
Rüstems Gesicht verzog sich wieder zu einem Lächeln.
Denny bewunderte seinen neuen Freund, der im Wissen und dem Umgang mit Edelsteinen anscheinend keine Probleme zu haben schien. Was hätte ihm wohl sein Großvater alles beigebracht, wenn er noch gelebt hätte. Zum ersten Mal vermisste er ihn bewusst.
Denny, wurde er aus seinen Gedanken gerissen, so dass er zusammenzuckte. Hoffalt sah Denny für einen Moment an.
„Ruhe bitte!“, hallte Ihre Stimme kurz darauf schneidend durch den Raum. „Da Sie alle gestern bereits mit dem Bergkristall und dem Rosenquarz Bekanntschaft geschlossen haben, werden Sie mit diesen beiden Steinen Ihre Hausarbeit beginnen, und zwar bereits in dieser Unterrichtsstunde. Je schneller Sie anfangen, um so weniger Zeit benötigen Sie in den nächsten Tagen dafür.“
Denny machte sich an die Arbeit. In kurzer Zeit war sein Interesse an Steinen gewachsen. Zunehmend wurde ihm bewusst, wie wenig er über sie wusste und vor allem, wie interessant sie waren. Ihn erstaunte, wie viel Kraft in ihnen verborgen war.
Moana und Mian hatten während der Unterrichtsstunde kein Wort verlauten lassen, aber die ganze Zeit geschrieben. Sie brachten das Kunststück fertig, nicht nur Bergkristall und Rosenquarz, sondern die gesamte Hausaufgabe in Rekordzeit erledigt zu haben. Das gelang allerdings dadurch, dass sie - ohne dass es jemand bemerkte - ihre Arbeitsblätter austauschten. Ein Zwilling hatte von vorn, der andere von hinten angefangen und in der Mitte hatten sie getauscht. So hatte jede von ihnen lediglich die Hälfte der Steine bestimmen müssen. Abschreiben geht nunmal schneller.
Die Stunde neigte sich dem Ende und Professor Hoffalt bemerkte, dass die meisten ihre Lehrbücher zugeschlagen hatten. Auch Denny war mit seiner Schulaufgabe fertig geworden und schaute zu Rüstem. Der grinste ihn natürlich gelangweilt an.
Hoffalt beendete den Unterricht mit einem kurzen Klatschen.
„Nun, wenn meine Beobachtungen stimmen, sind fast alle mit den Hausaufgaben fertig geworden. Ich werde jeden Freitag einen Test schreiben lassen und hoffe, Sie werden sich stets entsprechend darauf vorbereiten.“
Ein viermaliger Glockenschlag drang vom Herrenhaus herüber und die Schüler durften den Klassenraum verlassen.