2. Der Wächter, der keiner war
ie letzten Ferientage gingen ohne Zwischenfälle vorüber - außer, dass Denny sich in der Zwischenzeit die Haare schneiden ließ. Kurzes, aufrecht stehendes Haar und ein kleines Schwänzchen im Nacken waren das Ergebnis. Taschen und Koffer waren gepackt. Einen kleinen Wehrmutstropfen hatte der Schulwechsel für Denny: Er durfte seinen PC nicht mitnehmen.
„Du wirst ihn nicht vermissen, denn du wirst keine Zeit haben”, erklärte sein Vater, als er Dennys Computer beim Reisegepäck stehen sah. „Alles, was du brauchst, gibt es im Kolleg. Außerdem werden elektrische Geräte nicht geduldet. Als ich dort aufgenommen wurde, haben sie meine Musikanlage einfach wieder zurück geschickt. Erst habe ich darauf bestanden, sie zu behalten, aber dann hat mich der Direktor vor die Wahl gestellt: Anlage behalten oder Kolleg.”
Denny rollte mit den Augen und verkniff sich auszusprechen, was er in diesem Moment dachte. Nachdem er den PC wieder in sein Zimmer getragen hatte, wanderte auch sein Nintendo aus einer der Reisetaschen. Er wollte auf keinen Fall die Aufnahme gefährden.
Am vorletzten Ferientag war alles erledigt. Jetzt hieß es warten, bis es endlich losging.
Denny war als erstes an der Haustür, als es schellte. Enttäuscht und überrascht, wem er sich gegenüber sah, verschlug es ihm zunächst die Sprache. Es war nicht der Wächter. Statt einem kräftig gebauten Mann mit mindestens zwei Lederbändern an jedem Arm stand Frau Sollmann, die Bibliothekarin, vor ihm.
„Hallo Denny! Wie geht’s?“
„Ja, äh ... ganz gut.” Denny war auf diesen Besuch gar nicht eingestellt. Er schaute die Bibliothekarin erstaunt an.
„Willst du mich nicht hinein bitten?”
„Habe ich irgendwelche Bücher oder was Ähnliches vergessen abzugeben?”, fragte Denny irritiert.
Frau Sollmann schüttelte den Kopf. „Nein, du hast alles fristgerecht zurückgegeben. Darf ich trotzdem hineinkommen?”
Denny wusste nicht auf Anhieb, was er sagen sollte. Nach kurzem Zögern trat er zur Seite, wobei er stotterte: „Also, … ich … äh…! Ich dachte … eigentlich bekommen wir eventuell heute Besuch.” Denny kratzte sich verlegen am Hinterkopf.
„Ich weiß, Denny, du wartest auf deinen Wächter oder vielmehr auf deine Wächterin. Tja, da bin ich!” Sie breitete ihre Arme aus und schaute Denny mit ihrem Lächeln, das er schon immer sympathisch fand und an ihr so mochte, an.
Denny stand regungslos vor ihr. Von einer Wächterin war nie die Rede und schon gar nicht von jemandem, den er kannte.
<Und die hat das auch noch gewusst>, dachte er. <Kein Schrank von Mann, sondern nur `ne zierliche blonde Büchermaus!>
Denny war sichtlich enttäuscht.
Seine Eltern erschienen im Flur. Überrascht und erfreut zugleich reagierte Salomé auf den unerwarteten Gast.
„Tessa, was machst du denn hier?”
Samuel nahm sie sogar gleich in seine Arme.
„Mensch, Tessa! Wir haben uns ja seit einer Ewigkeit nicht gesehen.”
„Ich weiß, aber das spricht eben für meine Zurückhaltung”, sagte sie, damit beschäftigt, sich aus Samuels kräftigen Klauen zu befreien. „Ich wohne nur ein paar Straßen von hier. Dass ihr das nicht wusstet, hat einen einfachen Grund: Ich bin nämlich Dennys Wächterin seit er zur Schule geht. Als Bibliothekarin konnte ich ihn im Auge behalten.”
„Komm ins Wohnzimmer und setz dich”, bat Salomé sie begeistert.
Denny folgte den Dreien irritiert.
Salomé stellte Getränke und Kekse auf den Tisch.
„Also, was ich bis jetzt mitgekriegt habe“, versuchte Denny zu sortieren, „ist, dass Sie wohl auch eine Steinmagierin sind, und dass ihr euch anscheinend recht gut kennt. Kann ich mal erfahren woher?”
„Deine Mutter und ich sind mit Tessa gemeinsam auf das Kolleg gegangen”, klärte Samuel ihn auf, „und wir waren in derselben Wohngemeinschaft. Dass sie schon seit längerem deine Wächterin ist, wussten wir auch nicht.”
„Aber dass gerade du es bist“, fügte Salomé strahlend hinzu, „beruhigt uns, nicht wahr, Schatz?”
„Genau. Denny, du hast ein Riesenglück. Sie war in all den Jahren immer Jahrgangsbeste.”
„Aha!“ Denny blieb skeptisch. „Haben Wächter auch noch andere Aufgaben als Aufpasser zu sein?“
„Nein”, antwortete Tessa, nachdem sie einen von Salomés Keksen verspeist hatte, „im Wesentlichen werden wir dann eingesetzt, wenn Großeltern junger Schüler zu früh gestorben sind.”
Tessa schien schon länger nichts gegessen zu haben. Sie hatte im Alleingang fast alle Kekse verdrückt, wie Denny verärgert feststellte. Es waren seine Lieblingskekse gewesen.
Er dachte an die vor ihm liegende Zeit, die er mit Frau Sollmann wohl oder übel teilen musste. Denny wusste noch nicht so recht, was er davon halten sollte. Seine Eltern waren froh, dass sie es war, die die Verantwortung für ihn übernahm. Doch Denny fragte sich, was so ein zierliches Persönchen gegen ein oder zwei Xamamax ausrichten konnte - falls es denn zu einem wiederholten Aufeinandertreffen kommen würde. In der Hauptsache befürchtete er aber insgeheim, jemanden an seiner Seite zu haben, der ihn ständig bevormundete.
<Naja, egal>, dachte Denny, <zu Hause bin ich sicher und in zwei Tagen bin ich sowieso im Beutling, mische mich unters Volk, tauche geschickt unter und hab meine Ruhe. Nur noch zwei Tage!>
„Also, wann fahren wir denn nun los?”, unterbrach Denny die Gespräche der Erwachsenen. Ich gehe mal von morgen aus?”
„Jetzt!” Die Wächterin schüttete den restlichen Tee hinunter und schnappte sich den letzten Keks vom Teller.
„Häh? Jetzt?” Denny befand sich in leichtem Schockzustand. Abschied! Weg von hier! Erst mal nicht wiederkommen! Tausend Gedanken schwirrten in seinem Kopf herum.
„How, How!“, hauchte Denny vor sich hin und war fast dankbar, dass er den letzten Keks nicht im Mund hatte - er wäre vielleicht daran erstickt.
„Ach du meine Güte!”, erschrak auch Salomé. „Braucht ihr noch etwas für unterwegs? Ich pack euch schnell noch was ein, ja?” Sie schwang sich aus dem Sessel und lief in die Küche.
„Mir reichen die Kekse“, rief ihr Tessa hinterher.
„Warte, mein Schatz” ,Samuel folgte Dennys
Mutter.