Grace sah von den Papieren auf, als es an die Tür des Arbeitszimmers klopfte. »Ja bitte?«
Lizzie steckte den inzwischen fast vollständig ergrauten Kopf unter der weißen Haube durch die Tür und deutete einen Knicks an. »Bitte entschuldigen Sie, Miss Grace! Ich weiß, Sie wollten eigentlich nicht gestört werden heute Vormittag, aber Sie haben Besuch.«
Über Grace’ Züge huschte ein kleines Lächeln, dass sie doch für Lizzie immer noch Miss Grace war, obwohl sie inzwischen schon mehr als sieben Jahre lang in aller Form Mrs Danvers hieß.
»Schon gut. Wer ist es denn?«
»Lord Grantham, Miss Grace. Ich habe ihn in den Salon gebeten.«
Einen Moment lang sah Grace Leonards Vater vor sich, bis ihr einfiel, dass er schon drei Jahre nicht mehr lebte. Len. Auch nach all den Jahren noch konnte der Schock, der Schmerz sie mit unverminderter Härte treffen. »Ist gut. Ich komme.« Sie unterdrückte ein Seufzen und stand auf; ausgerechnet heute wäre sie gern früher mit der Arbeit fertig geworden.
Als sie in den Salon trat, stand er in einem perlgrauen Anzug vor einer der geöffneten Glastüren und sah in den sommerlichen Garten hinaus, der von Hundegebell, Kindergekreisch, Erwachsenenstimmen und Lachen erfüllt war. »Hallo, Tommy.«
Es versetzte ihr einen Stich, als er sich umdrehte. Aus dem schlaksigen halbwüchsigen Burschen von damals war ein gut aussehender junger Mann von sechsundzwanzig Jahren geworden. Schmaler war er als sein toter Bruder, und mit dem flachshellen Haar, den lichtblauen Augen wirkte er unscheinbarer, aber auch ernsthafter, nicht zuletzt durch den modischen Oberlippenbart. Dennoch war die Ähnlichkeit unverkennbar. »Hallo, Grace.«
Eine verlegene Pause entstand. Seit Leonards Tod standen die Hainsworths und die Norburys einander nicht mehr sonderlich nah. Grace wusste, dass Lady Grantham sie für den Tod ihres Ältesten verantwortlich machte, weil er ihretwegen nach Ägypten gereist war. Eine Schuld, die Grace bereitwillig auf sich nahm, denn auf eine Art fühlte sie sich tatsächlich dafür verantwortlich, wenn auch aus anderen Gründen.
»Setz dich doch.« Einladend wies sie auf das Kanapee. »Tee kommt gleich. Oder möchtest du lieber in den Garten hinaus bei dem herrlichen Wetter?«
»Eigentlich«, zögernd rückte er den Knoten seiner Krawatte zurecht, »würde ich gerne unter vier Augen mit dir sprechen. Möglichst ungestört – ginge das?«
»Hübsch hast du’s hier«, sagte er förmlich, als sie in den Raum im hinteren Teil des westlichen Flügels traten, der mit seinen Farben von Maigrün und Primelgelb eine unverkennbar weibliche Note hatte.
Lizzie folgte ihnen, servierte rasch den Tee auf dem Tischchen mit den zwei Sesseln unter dem Fenster und empfahl sich dann mit einem Knicks, ehe sie die Tür lautlos hinter sich zuzog. »Etwas ... unkonventionell«, fügte er hinzu und zeigte auf die beiden Schreibtische, die mitten im Raum über Eck standen und an denen Becky und Grace oft einträchtig zu arbeiten pflegten. Während offiziell der Colonel und Lady Norbury noch immer Shamley Green vorstanden und Stephen der Erbe war, lagen die Zügel der Führung längst in den Händen der beiden jungen Frauen. Becky kümmerte sich um das Haus, in dem ein fast vollständig neuer Stab an Dienstboten werkelte, nachdem Ben und Bertha, Hannah und Sally auf ihr wohlverdientes, sorgenfreies Altenteil geschickt worden waren, und Grace verwaltete die Ländereien in Absprache mit ihrem Bruder, der ihr aber kaum je hineinredete und sich stattdessen in der stetig wachsenden Bibliothek vergrub.
Grace lachte, als sie sich niederließ. »Es entspricht sicher auch nicht der Konvention, dass ein Anwesen von zwei Frauen gleichzeitig geführt wird, aber für Shamley hat sich das nun einmal so ergeben. Bitte nimm doch Platz.«
»Danke.« Tommy wirkte überaus angespannt.
»Wie geht es Cecily?«, erkundigte sich Grace über ihre Tasse hinweg.
Tommy blickte mit bedrückter Miene auf seine Tasse. »Wenn ich ehrlich sein soll: nicht gut. Über kurz oder lang wirst du es ohnehin erfahren. Sie lebt seit Kurzem wieder auf Givons Grove. Sie – sie war zuletzt sehr unglücklich in dieser Ehe.« Seine Miene verdüsterte sich. »Wahrscheinlich wird es zu einer Scheidung kommen.«
»Das tut mir leid«, erwiderte Grace aufrichtig betroffen.
Tommys blaue Augen richteten sich auf sie. »Vielleicht magst du sie mal besuchen? Sie würde sich bestimmt freuen.« Leiser fügte er hinzu: »Ich glaube, sie hat sonst nicht mehr sonderlich viele Freunde.«
»Wie geht es deiner Mutter?«, wich Grace aus. Es stimmte sie traurig, dass Cecily so ganz aus ihrem Blickfeld verschwunden war, und dennoch war sie darüber in gewisser Weise auch erleichtert.
»Leidlich gut. Sie ist nie über Lens Tod hinweggekommen.«
Grace schwieg und nippte an ihrem Tee.
»Ich werde im Frühjahr heiraten«, brach es aus Tommy heraus.
»Oh Tommy, wie schön!« Ein warmes Lächeln malte sich auf Grace’ Gesicht. »Meinen Glückwunsch!«
»Siehst du, Grace, deshalb bin ich auch hier. Es klingt sicherlich seltsam ... Aber bevor ich den Gang zum Traualtar antrete ...« Er räusperte sich und rutschte nervös auf dem Sessel herum, ähnelte unvermittelt wieder sehr dem Jungen, der er einmal gewesen war. »Entschuldige, dass ich dich damit einfach so überfalle, aber ... Aber was weißt du über den Tod meines Bruders? Ich bin das Gefühl nie ganz losgeworden, dass das, was man mir erzählt hat, allenfalls die halbe Wahrheit ist. Du warst doch damals mit ihm dort – kannst du mir mehr darüber sagen?« Als Grace ihren Blick abwandte, setzte er beinahe schon flehend hinzu: »Bitte, Grace, es ist unendlich wichtig für mich!«
»Haben Sie noch Fragen?«
Jeremys Augen wanderten über die gut zwanzig jungen Männer, die in ihren marineblauen Uniformen immer zu zweit in den Holzbänken saßen und seinen Blick aufmerksam erwiderten. Aus dunkelblauem Tuch war auch seine eigene Uniform, jedoch entlang der Hosennaht mit einem scharlachroten Streifen versehen, der ihn als Vorgesetzten und Ausbilder auswies, und während sich die Kadetten mit Messingknöpfen als alleinigem Zierrat begnügen mussten, bezeugten Abzeichen am Stehkragen und auf den Schulterstücken seinen Rang als Major. Einer der Kadetten blickte verträumt in die Ferne, und zwei oder drei duckten sich über ihren Notizen, spitzten eifrig ihren Bleistift an oder befüllten ihren Federhalter neu.
Dreizehn Jahre war es jetzt her, dass er selbst in einer dieser Bänke gesessen hatte, genau hier, in diesem Raum, neben Stephen, und die Fragen von Colonel Norbury beantwortet hatte. Sandhurst hatte inzwischen einen neuen Lehrplan und erweiterte Ausbildungszeiten – statt einem Jahr blieben die Kadetten eineinhalb Jahre –, aber sonst hatte sich wenig verändert. In jeder Kompanie waren die Rollen ähnlich verteilt wie bei ihnen damals: Es gab einen, der der Kleinste war, dafür aber die größte Klappe hatte, so wie Simon seinerzeit. Ein Snob wie Royston war darunter und ein strahlender, gut aussehender, von Göttin Fortuna in jeder Hinsicht verwöhnter Gentleman wie Leonard. Ein Kadett war sehr unsicher und gegen seinen Willen hier wie Stephen, und einer aus einfachen Verhältnissen war darunter, der deshalb doppelt so großen Ehrgeiz an den Tag legte. So wie Jeremy einst. Und natürlich durfte auch ein Störenfried wie Freddie Highmore nicht fehlen, der es bei den Coldstreams zwar noch zum Captain gebracht hatte, aber auf diesem Rang einstweilen stehen geblieben war.
Lange hatte er gezögert und über den Vorschlag des Colonels, am College zu unterrichten, nachgedacht. In den Tagen, den Wochen, nachdem unter dem Hauptportal von Shamley Green der Blick des Colonels erst auf den schmalen Goldreif an Grace’ Hand gefallen war und er schließlich den geschwächten Arm um seine Tochter gelegt und sie so fest an sich gedrückt hatte, wie es ihm möglich war. Nachdem Jeremy und der Colonel Nachmittag um Nachmittag durch den Garten spaziert waren. Schweigend zuerst, später tief versunken in lange Gespräche.
Schließlich hatte ein Argument des Colonels den Ausschlag gegeben, an jenem Tag, an dem sie nebeinander auf der Bank im Garten gesessen waren und Jeremy die Hand des Colonels auf seiner Schulter gespürt hatte: Jeremy würde keinen einzigen Krieg verhindern, wenn er der Welt des Militärs den Rücken zukehrte. Aber er könnte dafür sorgen, dass die künftigen Generationen von Offizieren besser ausgebildet und besser vorbereitet waren, indem er sein Wissen und seine Erfahrung weitergab. Und in den Jahren, die er hier unterrichtete, hatte er diese Entscheidung noch keinen Tag bereut. Es fühlte sich richtig an, hier zu sein.
Eine Hand schnellte in die Höhe. Sie gehörte zu einem blassen Hänfling mit eckigem Gesicht, übergroßen Ohren und mit Augen, die immer leicht verschlafen wirkten. Erst im dritten Anlauf hatte er die Aufnahmeprüfung bestanden und tat sich seither durch Eifer und Ehrgeiz hervor.
»Mr Churchill?«
Kadett Winston Spencer Churchill erhob sich. »E... erzählen Sie uns v-vom Ssudan, M-major Ssir?« Das leichte Stottern und das deutlich zu hörende Lispeln verrieten, wie aufgeregt der Kadett war, wie kühn er sich vorkam, dass er diese Frage stellte, und wie er auf die Antwort seines Professors brannte. Mit einem Schlag waren alle jungen Männer hellwach. Jeremy Danvers’ Teilnahme am Krieg gegen den Mahdi, für die er lange nach dessen Ende zum Major befördert worden war, seine Gefangenschaft im Sudan und seine Flucht aus Omdurman waren beinahe schon Legende in Sandhurst.
Sein Mund unter dem Bart spannte sich an, und er ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Die Erinnerungen an den Krieg und an Omdurman waren mit der Zeit verblasst, aber nicht vergessen, und ab und zu kehrten sie schlagartig und mit voller Wucht zurück. So wie jetzt, für einen kurzen Augenblick. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass die britische Armee in der nächsten Zeit wieder im Sudan einmarschieren würde, um die Mahdiya ein für alle Mal zu beenden. Um Rache zu nehmen für Gordons Tod. Für Khartoum. Und für die erlittene Schmach jener Jahre. Um Slatin zu befreien und den Deutschen Karl Neufeld, die in Omdurman gefangen gehalten wurden.
Noch einmal wanderten seine Augen über die Kadetten, die vielleicht die Nächsten waren, die gegen den Khalifa in den Krieg ziehen und in diesem Krieg verwundet oder gar getötet würden. So jung waren sie, Burschen eher noch als richtige Männer; so jung, wie sie alle damals gewesen waren, und genauso ahnungslos. Genauso hungrig nach Ruhm und Ehre, hungrig nach Abenteuer. Er hoffte, dass er das Seine dazu beitragen könnte, wenigstens einem davon so viel an Wissen mitzugeben, dass er nicht auf dem Feld der Ehre sterben würde.
Jeremy ließ sich auf der Kante des Professorentisches nieder, ein Bein am Boden, das andere locker über die Kante baumelnd, und mit einer Bewegung, die seinen Ärmel eine Handbreit hinaufschob, beugte er sich vor und legte den Unterarm auf das Knie, sodass seine Narbe am Gelenk gut sichtbar wurde.
»Gegenfrage an Sie alle, Gentlemen«, entgegnete er in das halb sensationslüsterne, halb erschrockene Einatmen der Kadetten hinein. »Was ist Ihr schlimmster Albtraum?«
»Es tut mir leid«, flüsterte Grace mit erstickter Stimme und wischte sich die Tränen weg. Von der Seite her sah sie Tommy an, der ans Fenster getreten war und auf den Saum des Eichenwalds hinausschaute.
Ein Ruck ging durch ihn hindurch, als erwachte er aus einem bösen Traum, und er schüttelte den Kopf, wandte sich zu ihr um. »Nein, Grace. Mir tut es leid. Wegen dem, was ihr deshalb durchmachen musstet. Vor allem Jeremy.« Um seine Brauen zuckte es, als er hinzusetzte: »Ich danke dir, dass du damals alles Notwendige veranlasst hast und ihn nach England hast überführen lassen. Und auch ... auch, dass ihr für euch behalten habt, wie es sich wirklich zugetragen hat.« Grace nickte nur. Sie sah keinen Grund, Tommy zu sagen, dass Ada, Royston, Stephen und Becky ebenfalls wussten, was Leonard getan hatte – das blieb ihrer aller Geheimnis, eines Tages in trauter Runde geteilt und seither wohlgehütet von ihrer eingeschworenen Gemeinschaft.
Er setzte sich wieder und spielte mit seinem Teelöffel. »Warum ist Abbas eigentlich zurückgekommen?«
Grace lächelte. »Er hat gesagt, Allah habe es ihm befohlen. Ich glaube ihm sogar. Ich habe nie wieder so einen weisen Menschen getroffen wie ihn. Wir – wir verdanken ihm viel. Alles, im Grunde.«
»Weißt du, Grace ...« Tommy legte den Löffel hin und knetete seine Finger. »Ich war damals noch sehr jung, aber natürlich habe ich immer gewusst, wie sehr Len dich liebt. Trotzdem hat mich etwas daran schon damals beunruhigt. Aber er war mein großer Bruder, ich habe ihn geliebt und bewundert, und ich habe nie infrage gestellt, was er tat oder sagte. Ach, Grace ...« Er stützte den Ellenbogen auf den Oberschenkel und rieb sich die Stirn. »Ich liebe Emma, sonst hätte ich sie nicht gebeten, meine Frau zu werden. Dennoch hatte ich immer das Gefühl, ich würde sie zu wenig lieben, weil ich ständig Len vor mir gesehen habe, wie er sich dir gegenüber verhalten hat. Ich glaube, ich habe jetzt verstanden, dass seine Liebe zu dir einer gewissen Besessenheit ähnelte. Das ... das war keine gesunde Art von Liebe. – Oder?«, fügte er verunsichert hinzu.
Grace dachte einen Moment lang nach. »Ob es zu Anfang so war, vermag ich nicht zu sagen. In Assuan ... in Assuan auf jeden Fall, ja. Vielleicht auch schon in Cairo. Es gibt eine Art von Liebe, die so groß ist, dass sie einen in den Wahnsinn treibt und ins Verderben führt. Das hat Abbas einmal zu mir gesagt. Offenbar hat er in wenigen Augenblicken etwas an Len bemerkt, was uns entgangen ist. Mir zumindest.« Offen sah sie Tommy an. »Wirst du es deiner Mutter erzählen?«
Er verschränkte die Hände. »Ich denke nicht. Es wird ihr nicht helfen, sondern alles nur noch schlimmer machen. Len war immer ihr erklärter Liebling. Wobei, natürlich, ich meine, deinetwegen sollte ich vielleicht doch alles ans Licht ...« Er machte eine hilflose Geste in ihre Richtung, doch Grace schüttelte den Kopf. »Nein, Tommy. Lass nur. Es ist gut so, wie es ist.«
Als er gegangen war, trat Grace in den Salon und sah durch die geöffneten Türen hinab in den Garten, in dem sich ihre Familie unter der großen Eiche versammelt hatte, während um sie herum eine Schar junger Hunde bellend Fangen spielte und Sal und Pip müßig in der Sonne lagen.
Der Colonel saß auf einem Stuhl, den Stock an den Tisch gelehnt und den betagten Henry zu seinen Füßen, und lauschte seinem ältesten Enkelsohn Matthew, der sich auf das Knie seines Großvaters stützte und seinen Großeltern gerade etwas erzählte. Ihr Sohn, Grace’ und Jeremys, den sie bereits bei ihrer Rückkehr aus Cairo in sich getragen hatte. Ein stiller, ein ernsthafter Junge, der eines Tages einmal Shamley Green und den Titel eines Baronets erben würde. Durch eine Laune der Natur hatte er zwar das dunkle Haar und die schweren Züge seines Vaters geerbt, aber die hellblauen Augen seines Großvaters, die zuvor eine Generation übersprungen hatten. Ein Junge mit einem großen Herzen war er. Grace konnte sich noch lebhaft daran erinnern, als sie ihm einmal, da mochte er vielleicht gerade drei gewesen sein, die Schuhe zugebunden hatte und er lang gezogen fragte: Mamaaaa ... Warum riecht der Onkel Stevie manchmal so komisch? Grace’ Herz hatte einen Schlag ausgesetzt, dann hatte sie ihren Sohn in die Arme genommen und ihm erklärt, dass Onkel Stevie im Krieg gewesen war, zusammen mit Papa und Onkel Roy, und dabei so schwer gestürzt war, dass etwas in ihm kaputtgegangen sei; seither müsse er Windeln tragen, so wie Matthew vor nicht allzu langer Zeit und so wie sein kleiner Bruder William jetzt, aber während sie beide dem entwuchsen, würde das bei ihrem Onkel immer so bleiben. Matthew hatte lange nachdenklich auf seiner vollen Unterlippe gekaut, dann auf dem Absatz kehrtgemacht und war davongespritzt. Als Grace ihn suchen gegangen war, hatte sie von hier aus, von der Tür zum Garten, gesehen, wie Matthew erst auf die Gartenbank geklettert und von dort in den Rollstuhl hinübergestiegen war, um sich auf Stephens Schoß zu setzen, die Ärmchen fest um den Hals seines Onkels geschlungen.
Es rührte Grace an, wie liebevoll der Colonel seinem Enkel über den glatten, schweren Schopf strich, während er ihm zuhörte, wie dicht ihre Mutter ihren Stuhl an den des Colonels gerückt hatte und wie zärtlich ihre Finger auf dessen Oberarm ruhten. Ihr zweiter Sohn, der kleine William, bei dem nicht nur in dem weizenblonden Haar und den braunen Augen, den feinen, fast schon engelsgleichen Zügen, sondern auch in der Wildheit das irische Erbe der Shaw-Stewarts durchschlug, saß ausnahmsweise einmal brav auf dem Schoß seiner Großmutter Sarah Danvers, die mit ihm zusammen ein Bilderbuch durchblätterte. Das Angebot, ein Zimmer auf Shamley Green zu beziehen, hatte sie freundlich, aber bestimmt abgelehnt und sich dafür von ihrer bescheidenen Witwenrente eine kleine Wohnung in Guildford genommen, von wo aus sie aber fast jeden Tag nach Shamley herüberfuhr.
Auf dicken Beinchen in kurzen Hosen stand Nathaniel Simon Roderick Ashcombe im Gras und zeigte mit einem begeisterten Ausruf irgendwohin im Garten, wo er offenbar gerade etwas Spannendes entdeckt hatte. Mit gerade einmal fünfeinhalb Jahren bereits Viscount Amory, war er ein stets gut gelaunter, charmanter kleiner Kerl mit hinreißenden Grübchen in dem pausbäckigen Gesicht und mit den bernsteinfarbenen Augen und dem dunkelbraunen Haar seines Vaters. Allerdings hatte er nichts als Unfug im Kopf, sobald er mit seinen Cousins von Shamley Green zusammen war. Eine ihrer liebsten Vergnügungen bestand darin, sich abwechselnd auf dem Schoß ihres Onkels Stevie durch den Garten kutschieren zu lassen, während die anderen beiden nebenherliefen und warteten, bis sie an der Reihe waren.
Manchmal, wenn Adas Blick auf Nathaniel ruhte, war ihr die Verwunderung darüber anzusehen, wie ihr schmaler, mädchenhafter Leib einen für sein Alter so großen und kraftstrotzenden Jungen hatte hervorbringen können. Die kleine Fiona hingegen, nach ihrer irischen Ururgroßmutter benannt, die in einem Rüschenkleidchen auf dem Schoß ihres Vaters thronte, war Ada wie aus dem Gesicht geschnitten; klein und zart und mit riesigen Augen, dunkel wie Schwarzkirschen. Royston beugte sich zu seiner Frau hin und küsste sie auf die Wange. Wie zwei Frischverliebte tuschelten und lachten sie miteinander, und es war ihnen in jedem Augenblick anzusehen, wie groß ihr gemeinsames Glück war.
Zwar hatte Ada ihre Tätigkeit als Lehrerin am Bedford nach ihrer Heirat aufgeben müssen, aber Royston überließ ihr jährlich ein großzügiges Budget, um Mädchen aus einfachen Verhältnissen den Besuch einer weiterführenden Schule und eines Colleges zu ermöglichen; Mädchen, um die sich Ada persönlich kümmerte, sie hin und wieder ins Konzert einlud oder ins Theater. Wann immer es ihre Zeit erlaubte, all die großen und kleinen Verpflichtungen als Lord und Lady Ashcombe, die Ada furchtlos meisterte, fuhren Royston und Ada nach Italien und nach Frankreich und nahmen zwei oder drei Mädchen mit, deren Familien sich eine solche Reise nicht leisten konnten. Nur manchmal glitt Adas Blick ins Leere, bekam einen schmerzlichen Glanz, und dann war ihr anzusehen, wie sehr sie noch immer um Simon trauerte, um ihre erste große Liebe. Aber dann war Royston da und schloss sie in die Arme und gab ihr Halt.
Royston stand auf, setzte seine kleine Tochter auf Stephens Schoß und nahm Nathaniel bei der Hand, damit der ihm zeigte, was er denn so spannend fand. Stephen begann sogleich, mit seiner Nichte herumzualbern, bis Fiona lachte, ihr perlendes Kleinmädchenlachen, und Becky legte ihr Buch beiseite, stellte sich hinter Stephen, legte ihm die Arme auf die Schultern, und während sie ihre Wange an die ihres Mannes schmiegte, kitzelte sie das kleine Mädchen unter zärtlichem Gegurre, bis es kiekste vor Vergnügen.
Ada erhob sich ebenfalls, tat ein paar Schritte und ging neben dem Stuhl von Lady Evelyn in die Knie, die etwas abseits saß, und sprach sie mit einem weichen Ausdruck im Gesicht an. Es war für alle anstrengend, wenn Lady E. zu Besuch hier war, aber Ada bestand darauf, ihre Schwiegermutter ab und zu einzuladen, und kümmerte sich besonders liebevoll um sie, ohne dass ihr diese das in irgendeiner Form vergalt. Aber vielleicht mochte es gerade Ada mit ihrer Sanftmut, ihrer Geduld gelingen, das steinerne Herz von Lady Evelyn eines Tages doch noch zu erweichen oder gar eine Versöhnung zwischen ihr und ihrem Sohn Roderick herbeizuführen, dem sie nie verziehen hatte, dass er gegen ihren Willen Helen Dunmore geheiratet und mit ihr drei rothaarige, sommersprossige Kinder in die Welt gesetzt hatte.
Und vielleicht, vielleicht gäbe es hier unter ihnen irgendwann einmal auch wieder einen Platz für Cecily.
Jeremy schwang sich aus dem Sattel, erhitzt von dem schnellen Ritt durch die Wälder von Berkshire, durch die reifenden Felder und die blühenden Wiesen von Surrey, und übergab dem wartenden Stallburschen die Zügel. »Danke, Hanson.«
Einen Augenblick lang blieb er stehen und ließ seinen Blick durch den Innenhof von Shamley Green schweifen. Über die üppig blühenden Blumenkübel vor den roten Backsteinfassaden, über die grauen Dächer und die weißen Fensterrahmen und Türen. Auch nach sieben Jahren mutete es ihn seltsam an, dass dies nun sein Zuhause war, dieses Haus, in das er damals als Stephens Freund gekommen war, unwillig eigentlich, weil ihm dessen Einladung hierher fast schon zu persönlich vorgekommen war. Jener Novembertag, an dem er Grace zum ersten Mal zur Begrüßung die Hand gegeben hatte. Grace. Seine Miene erhellte sich kaum merklich, während etwas in ihm weich und warm wurde. Es war Grace, die es zu seinem Zuhause machte, Grace und ihre Familie, die nun auch die seine war. Grace, an deren Absichten er früher so oft gezweifelt hatte und die jeglichen Zweifel beseitigt hatte, indem sie für ihn bis in den Sudan gereist war, weil sie sich geweigert hatte, an seinen Tod zu glauben. Grace, mit der er seither Tisch und Bett und sein ganzes Leben teilte und die ihm zwei Söhne geschenkt hatte.
Nach Omdurman hatte er geglaubt, jenseits aller Furcht angelangt zu sein. Doch obwohl er es liebte, wie Grace’ Leib sich rundete und schwerer wurde, wie ihre Bewegungen langsamer, beinahe andächtig wurden und wie es sich anfühlte, wenn er die Hand auf ihren Bauch legte und es darin strampelte, hatte ihn die Furcht beschlichen, so zu werden wie sein Vater. Eine Furcht, die nur langsam wich, nachdem Constance ihm seinen neugeborenen ersten Sohn in den Arm gelegt hatte, noch keine Stunde alt. Dieses fremde, winzige, hilflose und doch vor Lebenskraft berstende Wesen, das ein Teil von ihm war und von Grace, zu dem er so wenig beigetragen hatte, während es in Grace herangewachsen und von ihr unter Wehenschmerz zur Welt gebracht worden war. Jeremy liebte es, seinen Söhnen zuzusehen, wie sie wuchsen und gediehen und die Welt entdeckten, wie sie sich an ihre Mutter kuschelten und wie sie ihn, ihren Vater, ansahen, ihn nachzuahmen versuchten, mit ihm spielten und tobten und lachten und wie ihre Haut roch und wie ihr Haar. Grace und ihrer beider Söhne waren ihm große Lehrmeister, denn sie lehrten ihn jeden Tag, wie verletzlich Liebe machte und wie stark.
Grace’ Lider schlossen sich wie von selbst. Noch immer konnte sie Jeremy spüren, noch bevor sie seine Schritte hörte. Sie genoss es, die Wärme seines Körpers an ihrem Rücken zu fühlen, bis sich seine Hand von hinten um ihre Taille legte und er sie an sich zog.
»Hallo, Grace.« Er küsste sie auf das Ohr.
»Hallo, Jeremy.« Sie legte den Hinterkopf an seine Halsbeuge. »Tommy war vorhin hier.«
Sie spürte, wie Jeremy sich versteifte.
»Er hat mich gefragt, was sich damals bei Assuan wirklich abgespielt hat«, flüsterte sie ihm zu. »Ich habe es ihm erzählt.«
Jeremy entspannte sich wieder. »Das ist gut.« Seine Hand glitt tiefer, auf ihren Bauch hinab, dorthin, wo in Grace neues Leben heranwuchs, wie sie seit ein paar Tagen wussten, und Grace’ Hand schob sich über seine.
»Als er ging, wollte er noch wissen, ob du Len je vergeben hast.« Sie drehte sich in seiner Umarmung halb um. »Ich habe dich das nie gefragt, aber ... hast du ihm irgendwann einmal vergeben?«
Um Jeremys Mund zuckte es, während er nachdachte. »Es gibt Dinge, die kann man nicht vergeben. Nicht als kleiner, sterblicher Mensch.« Er atmete tief durch. »Aber ich hoffe, dass er dort, wo er jetzt ist, Vergebung erlangt hat. Und dass das kein Ort ist, der Ähnlichkeit mit Omdurman hat.«
Grace wandte sich ganz zu ihm um und umfasste das Revers seines Jacketts. Ihre Augen wanderten über sein Gesicht, das kantiger geworden war und das jetzt, mit bald siebenunddreißig, die ersten Fältchen zeigte, vor allem rings um die Augen, für die er am Schreibtisch oder beim Lesen inzwischen eine Brille benötigte, während das erste feine Grau sein Haar durchzog. Wie auch Grace’ Züge schärfer gezeichnet waren und ihrer früheren Lieblichkeit eine herbere Note verliehen.
»Wenn ich dich nicht schon so sehr lieben würde«, murmelte sie, »müsste ich es allein für das tun, was du gerade gesagt hast.«
Die Finger ineinander verschränkt, traten sie durch die Tür hinaus in den Garten.
»Papa!« Der kleine William hatte ihn zuerst entdeckt und zappelte sofort auf dem Schoß seiner Oma Sarah umher, bis sie ihn absetzte, sodass er loslaufen konnte. Sein großer Bruder wandte den Kopf, und seine blauen Augen leuchteten. »Papa ist zu Hause!«, rief er im nächsten Atemzug und rannte ebenfalls los, blieb dann aber stehen, um auf seinen kleinen Bruder zu warten und ihn bei der Hand zu nehmen. Gemeinsam sprangen sie barfuß durch das Gras auf ihren Vater zu, der in die Knie ging und mit einem leisen, tiefen Lachen die Arme ausbreitete und seine Söhne auffing und sie an sich drückte, das Gesicht in ihrem weichen Haar vergraben.
Grace’ und Adas Blicke trafen sich. Die beiden Schwestern tauschten ein Lächeln, in dem sich Wehmut mit Glück verband, und jede wusste, was die andere dachte: Ist es nicht erstaunlich: Wir alle haben so viel Schreckliches durchgemacht, jeder von uns, und trotzdem ist letztlich so viel Gutes daraus erwachsen. So viel Liebe vor allem.
Mit ihren Söhnen gingen Grace und Jeremy hinüber zu ihrer Familie, um in deren Mitte den restlichen Sommertag zu verbringen. Einen Sommertag, der die Erinnerung wachrief an einen Sommer, der dreizehn Jahre zurücklag. Jenen Sommer, in dem sie so jung gewesen waren und frei, sich unbezwingbar und unsterblich gefühlt hatten.
Jenen Sommer, in dem Ada Norbury wieder nach Hause kam.
Jenen Sommer, in dem das Leben erst richtig begann.
FINIS