35

Einmal mehr hielt der Sommer Einzug in Surrey. Das wie lackiert glänzende Grün des April, das an Äpfel erinnerte und an Limonen, bekam im Laufe des Wonnemonats die tiefere, satte Färbung der warmen Jahreszeit. Die Flügel der Fenster oben in Grace’ Zimmer standen weit auf, gaben den Blick frei auf den Eichenwald, dessen Laub innerhalb weniger Tage vom saftigen, aber noch lichten Frühjahrskleid zu sommerlicher Dichte herangereift war. Ein ganzes Vogelorchester tschirpte und tirilierte und flötete, und zwischendurch war der hallende Ruf des Kuckucks zu hören und das hämmernde Staccato eines Spechts. Irgendwo in der Ferne, auf dem Hof eines der Pächter, krähte ein Hahn.

Grace hörte nur mit halbem Ohr hin, sie horchte auf das Rattern von Rädern und das Schlagen von Hufen, die sich dem Hauptportal näherten und in den Hof einbogen. Stimmen ertönten, die sich unten im Haus fortsetzten und dann in Henrys aufgeregtem Gebell untergingen.

Eigentlich hatte Grace sich an ihren Sekretär gesetzt, um den Brief von Jeremys Mutter zu beantworten, der gestern eingetroffen war. Sie schrieben sich nicht oft, aber regelmäßig, und jedes Mal war es ein Trost für Grace, den Umschlag mit dem Poststempel von Lincoln zu öffnen und die vertraut gewordene steile Handschrift zu sehen. Pip jedoch, die mit Grace hier heraufgekommen war, hatte schneller das Interesse daran verloren, ein Garnknäuel mit den Krallen zu bearbeiten, als Grace ihre Schreibmappe hervorgeholt und geöffnet hatte und ihr mit erzürntem Gemaunze befohlen, sich gefälligst um sie zu kümmern. Seither saß Grace einfach nur da, streichelte und kraulte die vor sich hin schnurrende Katze in ihrem Schoß und hing ihren Gedanken nach. Ihr Blick fiel auf den Stapel dickbäuchiger Mappen in einem der Fächer in der Rückwand des Sekretärs, alle prall gefüllt mit Zeitungsausschnitten, die sie über die Jahre hinweg gesammelt hatte, über Ägypten und den Sudan und den Feldzug der britischen Armee. Alle, bis auf die oberste, die die jüngste war und noch mager und die Grace nun hervorholte und vor sich hinlegte, aufschlug und die wenigen Artikel darin durchblätterte; Ausschnitte auf Englisch, Französisch, Deutsch und auch auf Italienisch, durch das sich Grace mühevoll hindurchbuchstabierte.

Nachdem Gladstone sich im vergangenen Juni wegen des unglücklichen Ausgangs der Khartoum-Expedition gezwungen gesehen hatte, seinen Hut zu nehmen, war er seit Februar nun doch wieder Premierminister, und die Frage, ob man Irland zugestehen sollte, sich künftig selbst zu verwalten, hatte Ägypten und den Sudan aus den Zeitungen und ebenso aus den Köpfen der Menschen verdrängt. Nicht zuletzt weil die Nachrichten aus dem Sudan nur noch spärlich nach Europa tröpfelten. Der Mahdi selbst hatte Gordon weniger als um ein halbes Jahr überlebt, und die Umstände seines Todes blieben von Rätseln umrankt. Man munkelte, er sei vergiftet worden, von einem engen Getreuen oder von einer seiner zahlreichen Frauen – was dem Gerücht Nahrung gab, er sei letztlich an seinem ausschweifenden Lebenswandel zugrunde gegangen, während er nach außen hin stets Askese gepredigt hatte. Aber vielleicht war er nur ganz einfach dem Typhus zum Opfer gefallen, der in der zerstörten, mit verwesenden Leichen übersäten Stadt von Khartoum wütete und sich von dort aus weiter durch das Land fraß. Begraben wurde der Mahdi in Omdurman, der neu gegründeten Hauptstadt des Sudan, und beerbt von drei seiner engsten Vertrauten, den Kalifen, von denen Abdallahi ibn Muhammad der mächtigste war und über den Norden herrschte und ehrerbietig nur »Khalifa« genannt wurde. Ein ehernes Regiment führte dieser in seinem Teil des Landes, streng nach den Sitten und Gebräuchen des Islam, nach dem Wort des Koran und dessen Rechtsprechung. Alles Fremde, alles, was nicht muslimisch war, wurde unter Strafe verbannt und dem Vergessen anheimgegeben. Der Sudan wurde beinahe zu einem weißen Fleck auf der Landkarte: zwar größtenteils kartographiert, aber mittlerweile vom Rest der Welt fast vollkommen abgeschnitten.

Was blieb, war die Verehrung für Major General Gordon als Sinnbild für Heldentum, als Leitfigur des Widerstandes und all jener Tugenden, auf die man in England so stolz war: Mut. Tapferkeit. Härte. Ausdauer. Ehre. Im Gedächtnis Großbritanniens verschmolzen Gordon und Khartoum zu einer Einheit, und ihre Namen standen für eine erlittene Schmach, die darauf wartete, eines Tages gerächt zu werden. So gut wie vergessen jedoch waren die Namen jener Menschen, die in den Jahren des Aufstands in den Weiten des Sudan verschollen waren. Ein aus Wien stammender Offizier und Finanzinspektor namens Rudolf Freiherr von Slatin. Frank Lupton, ein englischer Provinzgouverneur. Martin Hansal junior, der Sohn des Konsuls von Österreich-Ungarn in Khartoum und der gleichfalls aus Österreich stammende Pater Ohrwalder sowie eine Reihe italienischer Ordensschwestern. Von Slatin wusste man, dass er sich als persönlicher Gefangener des Khalifa in Omdurman befand – anhand der Briefe, die seine Angehörigen in Österreich erreicht hatten. Denn der Khalifa gestattete es durchaus, dass seine Gefangenen Briefe verschickten, wenn ihm das im Gegenzug Geld einbrachte; Geld, das er für den Unterhalt des Gefangenen verlangte. Und man nahm an, dass sich noch weitere vermisste Personen im Gefangenenlager des Khalifa zu Omdurman aufhielten. Berichte, die Grace gierig aufsog wie ein Schwamm und die ihr immer durch den Kopf gingen, wenn sie an Jeremy dachte.

Sie fuhr zusammen, als es an ihrer Tür klopfte, und hastig schlug sie den Deckel der Mappe zu. »Ja?«

»Hier bist du«, sagte Constance Norbury lächelnd, als sie eintrat. »Was verkriechst du dich denn hier drinnen bei diesem herrlichen Wetter?«

»Eigentlich wollte ich einen Brief schreiben, aber Madame hier«, sie hob das graue Fellknäuel kurz hoch und bettete es wieder in ihren Schoß, »mit ihren Ansprüchen hatte natürlich Vorrang. Hattest du einen schönen Vormittag?«

»Ja, in der Tat.« Ihre Mutter trat zu ihr und küsste Grace auf die Wange. »Ich soll dich lieb von den Hainsworths grüßen. Das habe ich dir mitgebracht.« Sie legte ein an Grace adressiertes Kuvert auf den Sekretär, und Grace öffnete es sogleich, überflog die innenliegende Karte, die zur Verlobungsfeier von Lady Cecily Hainsworth im Juli einlud. Ihr Zukünftiger hatte einen langen, komplizierten französischen Namen, ergänzt durch verschiedene Adelstitel.

»Das kann sie sich schenken«, murmelte Grace und warf die Karte auf die Tischplatte zurück.

»Ich weiß, du bist momentan nicht sonderlich gut zu sprechen auf Cecily«, ließ ihre Mutter sich vernehmen und nahm die Einladung an sich, bevor Grace sie womöglich kurzerhand in den Papierkorb warf. »Aber wenn Cecily der Ansicht ist, ihre Verlobung mit Royston sei ein Fehler gewesen, so ist das allein eine Angelegenheit zwischen den beiden. Und es ist doch besser, sie hat es rechtzeitig erkannt, vor der Hochzeit, bevor sie beide in einer Ehe gefangen gewesen wären, die ihnen nur Kummer bereitet hätte.« Grace warf einen verstohlenen Blick auf ihre Mutter, doch nichts in deren Gesicht ließ Rückschlüsse darauf zu, ob sie ihre eigene Ehe, die lange so glücklich gewesen war, mittlerweile ebenso empfand. »Du solltest dich eher mit Cecily freuen, dass ihr nun ein neues Glück vergönnt ist.«

Grace sah ihre Mutter offen an. »Es war gemein, wie sie mit Royston umgesprungen ist, Mama. Hinterlistig und gemein.«

»Früher hattest du immer Verständnis für ihre Launen.«

Grace zuckte mit den Achseln. »Früher war manches anders«, erwiderte sie leise, beinahe wehmütig, und mit einem Aufseufzen fügte sie hinzu: »Früher hat sich Cecily mir gegenüber auch wie eine Freundin verhalten, und heute höre ich kaum noch etwas von ihr.«

»Ungeachtet dessen bleiben die Hainsworths uns in Freundschaft verbunden.« Constance Norbury ging vor ihrer Tochter in die Knie und sah sie von unten herauf an, während sie zuerst Pip am Ohr kraulte und dann Grace über den Arm strich. »Lady Grantham hat mir heute im Vertrauen erzählt, dass Leonard nur auf den richtigen Moment wartet, um dich um deine Hand zu bitten. Du bräuchtest ihm nur ein kleines bisschen entgegenzukommen. Du müsstest ihm einfach nur zu verstehen geben, dass er dir nicht ganz gleichgültig ist.«

Grace sah ihre Mutter fassungslos an. »Ich kann Len nicht heiraten, Mama«, flüsterte sie tonlos.

Nun war es an Constance Norbury, verwundert dreinzublicken. Seit Leonard Hainsworth aus dem Sudan zurück war und sich damit vertraut machte, eines Tages die Besitzungen der Familie von seinem Vater zu übernehmen, war für jedermann zu sehen und zu spüren, dass das Verhältnis zwischen ihm und Grace wieder so eng und herzenseinig war wie früher, bevor es Jeremy Danvers gegeben hatte. Was Constance mit Erleichterung und Freude beobachtet hatte, auch um Grace’ willen, denn der Schmerz ihrer Tochter hatte ihr ohnehin schon gequältes Mutterherz mitleiden lassen. Ihr Blick fiel auf die Mappe vor Grace, und als sie die Hand danach ausstreckte und über die herauslugende Ecke eines Zeitungsausschnitts strich und Grace die Augen niederschlug, wusste sie, dass sie richtig geraten hatte.

»Er kommt nicht zurück, Grace«, flüsterte sie ihrer Tochter zu. »Nicht nach über einem Jahr. Je eher du die Vergangenheit begräbst, desto besser für dich.«

Grace hob den Blick. »Hättest du so schnell aufgegeben, wenn Papa in einem Krieg als vermisst gegolten hätte?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete ihre Mutter ehrlich. »Aber irgendwann hätte ich mir zumindest Gedanken über mein eigenes Leben machen müssen. Du wirst in ein paar Wochen sechsundzwanzig, Grace – du kannst nicht dein Leben nur damit zubringen, hier auf Shamley herumzusitzen und zu warten. Und nach menschlichem Ermessen auch noch vergeblich.«

Grace schwieg. Ihre Mutter hatte einen wunden Punkt berührt. Nicht nur, dass es keinerlei Hinweise gab, dass Jeremy noch am Leben sein könnte. Bei den selten gewordenen Anlässen, zu denen Grace sich noch in Gesellschaft bewegte, hatten die Blicke der Gäste eine klare Sprache gesprochen: Worauf wartet Grace Norbury denn noch? Allzu viel Zeit bleibt ihr nicht mehr, eine gute Partie zu machen, sie ist ja schon fast ein spätes Mädchen. Ist ihr etwa keiner gut genug? Nicht einmal Leonard Hainsworth, der Baron Hawthorne? Oder stimmt etwas nicht mit ihr und er hat ihr deswegen noch keinen Antrag gemacht? Es kümmerte Grace nicht, dass man so über sie redete, es war ihr nur lästig, und es störte sie in ihrer Trauer, die immer noch so viel Hoffnung enthielt. Eine Hoffnung, die niemand außer ihr zu verstehen oder auch nur zu billigen schien.

»Wenn du mir schon rätst, die Vergangenheit zu begraben«, sagte sie schließlich leise, »wäre es dann nicht auch an der Zeit, dass ihr euch wieder vertragt, du und Papa?«

Das sanfte Gesicht ihrer Mutter verhärtete sich. »Wir sind nach wie vor als Eltern für euch Kinder da. Alles andere geht nur uns beide etwas an.«

»Aber uns –«, setzte Grace an, doch ihre Mutter fiel ihr ins Wort. »Vielleicht möchtest du Royston Guten Tag sagen? Er ist mit Stephen unten im Garten.«

»Welch seltener Gast!«, rief sie aus, als sie durch den Garten ging, auf die Bank zu, die neu war auf Shamley Green, ebenso wie die befestigten Wege, die den Rasen seit dem Frühjahr durchzogen und die der Colonel hatte anlegen lassen, damit Stephen mit seinem Rollstuhl umherfahren konnte. »Hallo, Royston!«

Royston erhob sich, blies den Rauch aus und drückte Stephen rasch die Zigarette in die Hand, die er bei ihm geschnorrt hatte. »Hallo, Grace!« Er umarmte sie fest. »Tut das gut, dich zu sehen!«

»Hättest du schon eher haben können«, neckte sie ihn. In Roystons Gegenwart bekam man unweigerlich gute Laune, waren die Zeiten auch noch so schwer, war das Herz auch noch so traurig. »Du bist ja ein richtiger Einsiedler geworden.« Royston nahm seine Zigarette wieder entgegen und setzte sich, und Grace ließ sich neben ihm nieder. Henry, der den Gast vorhin so freudig begrüßt hatte, klopfte mit der Rute auf das Gras und winselte auffordernd. Als man ihm keine Beachtung schenkte, legte er den Kopf zwischen die Vorderpfoten und lauerte sichtlich auf einen günstigen Moment, einen der drei vielleicht doch noch zum Spielen verlocken zu können.

Royston sog den Rauch tief ein und ließ ihn dann langsam ausströmen. »Ja – ich brauchte einfach etwas ... Zeit. Zeit und Ruhe.«

»Hättest du dir mehr Gedanken bei der Auswahl deiner Herzdame gemacht, wäre dir das alles erspart geblieben«, bemerkte Stephen schonungslos aus dem Rollstuhl neben der Bank und schnippte das Ascheende seiner Zigarette in den Rasen.

»Danke, Stevie.« Royston schlug ihm kräftig auf die Schulter. »Ich weiß es zu schätzen, solch einen mitfühlenden Charakter wie dich als Freund zu haben!«

»Wie geht es dir?«, erkundigte sich Grace und rieb ihm über den Oberarm.

Royston nickte bedächtig. »Ganz gut, denke ich.« Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Ich hab’s schon gehört. Mit Cecily und ihrem Frosch.« Grace verbiss sich das Lachen über den für Franzosen gern verwendeten Spottnamen. Royston zuckte mit den Achseln und zog an seiner Zigarette. »Ändert nichts an der Sache, sie hatte mich ja schon vorher abserviert. Wenn’s sie glücklich macht, bitte. Ich hab schon lange aufgehört, mir das Hirn darüber zu zermartern, was ich hätte anders machen können, damit sie bei mir bleibt. – Wie geht’s Ads?«

Grace sah sich um und deutete auf einen länglichen Fleck in Grau und Braun weiter hinten im Garten. »Sitzt dort drüben im Liegestuhl. Es geht ihr besser«, verkündete sie mit einem erleichterten Aufatmen. »Der Besuch der Digby-Jones über Weihnachten hat Wunder gewirkt. Seither isst sie mehr, und es scheint insgesamt aufwärtszugehen. Sie malt und zeichnet sogar wieder.«

»Weil Grace, unsere Übermutter, sie geschickt erpresst«, erklärte Stephen bissig. »Erst wenn unser Schwesterchen wieder genug Gewicht zugelegt hat und überhaupt einen halbwegs normalen Eindruck macht, darf sie zwei Wochen mit den Digby-Jones in London verbringen.«

»So hab ich das ganz bestimmt nicht zu ihr gesagt«, gab sie gereizt zurück.

»Zu schade, Stevie«, meinte Royston leichthin, den Arm beschützend um Grace’ Schultern gelegt, »dass bei dir offenbar Hopfen und Malz verloren ist. Sonst könnten wir ja mal versuchen, aus dir Griesgram wieder einen halbwegs netten oder zumindest erträglichen Menschen zu machen.«

Stephen setzte zu einer scharfen Erwiderung an, wurde jedoch von einem Ausruf abgelenkt.

»Huhuuuuuu«, ertönte es hinter ihnen vom Haus her, und als die drei sich umwandten, kam Becky auf sie zugelaufen, einen mit einem Tuch abgedeckten Teller in den behandschuhten Händen. Henrys Kopf ruckte hoch, dann schoss er bellend und schwanzwedelnd auf Becky zu, sprang an ihr hoch und wich ihr nicht mehr von der Seite.

»Scheiße«, knurrte Stephen ohne Rücksicht auf seine Schwester und klemmte sich die Zigarette zwischen die Lippen. »Haltet mir den Plagegeist bloß vom Leib!«, nuschelte er, löste die Bremsen des Rollstuhls und schob die Räder mit beiden Händen an, sodass er in halsbrecherischem Tempo den Weg hinabschoss.

»Huhu, Gracie! Hallo, Royston! Schön, dich zu sehen!«, rief Becky im Vorbeilaufen und rannte hinter Stephen her.

»Autsch«, machte Royston beklommen.

»Sie kennt kein Halten mehr in ihrer Fürsorge, und er weiß darauf nur mit Grobheiten zu antworten«, murmelte Grace und sprang auf. »Ich kann das nicht länger mit ansehen.«

»Hiergeblieben!« Royston hielt Grace fest und zog sie unsanft zurück auf die Bank. »Stevie muss selber einsehen, dass es ihm nicht hilft, wenn er sich wie der letzte Widerling verhält. Und Becky ist ebenfalls alt genug und für sich selbst verantwortlich. Ihr Pech, wenn sie ihr Herz ausgerechnet an ihn verschwendet.« Roystons Worte brachten die Erinnerung an ganz ähnliche Worte zurück, die Jeremy einmal zu ihr gesagt hatte, an jenem Tag auf Estreham, als Ada und Simon verschwunden waren, kurz bevor das Gewitter losbrach, und die Kehle wurde ihr eng.

»Und wie sieht’s in dir aus, Grace?«, hörte sie Royston neben sich flüstern.

Grace verschränkte die Arme vor der Brust, streckte die Beine aus und zuckte mit den Schultern. »Wie schon.« Sie atmete schwer ein und hob den Kopf. »Kann ich dich was fragen?«

»Klar doch.« Royston beugte sich vor, um den Zigarettenrest in dem Aschenbecher auszudrücken, der neben einem Fuß der Bank stand.

»In Abu Klea ...« Sie zögerte, als er in seiner Bewegung erstarrte, sprach dann aber weiter. »Was war das Letzte, was du von Jeremy gesehen hast?«

»Puh, Grace«, wich er aus. »Len war der Letzte, der Jeremy gesehen hat. Das solltest du besser ihn fragen.«

»Das habe ich, Royston. Ich möchte es aber gern von dir wissen.«

Royston stützte die Unterarme auf die Knie und faltete die Hände, starrte lange zu den Eichen hinüber. »Seinen Rücken«, sagte er schließlich. »Wie er losgerannt ist, zusammen mit Len. Ich habe heute noch seine Stimme im Ohr. Gebt mir Deckung, hat er gebrüllt. Ich wollte ihnen nachlaufen – und dann sah ich Stevie, und der steckte gewaltig in der Klemme. Mein Gott, es ging alles so schnell.« Er löste seine Finger und rieb sich mit einer Hand über das Gesicht, stützte dann das Kinn hinein. »Im Nachhinein wird’s einem ganz anders, wenn man darüber nachdenkt, wie sehr man unwillentlich zum Herrn über Leben und Tod wird. Weil man in Bruchteilen von Sekunden die Entscheidung fällt, wem man beisteht und wen man seinem Schicksal überlässt. Und das ist dann nicht einmal eine wohlüberlegte Entscheidung, dafür ist einfach keine Zeit.« Royston sah Grace an und senkte die Stimme zu einem heiseren Flüstern. »Glaub mir, Grace: Ich hab seither so oft darüber nachgedacht, ob ... ob Simon noch leben würde, wenn ich den beiden gefolgt wäre. Ob es mit Jeremy anders ausgegangen wär’. Aber ich konnte Stevie einfach nicht im Stich lassen.«

»Dafür«, brachte sie mit belegter Stimme hervor, »dafür bin ich dir auch dankbar. Das sind wir alle.«

»Komm her.« Er zog sie an sich. »Ich hab ihn überall gesucht, Grace«, raunte er heiser gegen ihr Ohr. »Ich hab alles versucht. Das musst du mir glauben.«

Grace nickte und wollte noch etwas sagen, doch laute Stimmen, übertönt von einem spitzen Aufschrei und von Hundegebell, ließen die beiden auseinanderfahren. Becky stand zitternd auf dem Rasen, Tuch und Teller zu ihren Füßen und das Gebäck auf dem Rasen verstreut. Sie brach in Schluchzen aus und kniete sich hin, um alles aufzuheben und Henry davon abzuhalten, sich auf die süßen Teilchen zu stürzen, während Stephen wutentbrannt davonrollte.

»Entschuldige, ich muss zu ihr«, sagte Grace, stand auf und lief zu Becky hinüber.

Royston sah zu, wie Grace ihre weinende Freundin in den Arm nahm, während Henry gierig einen Keks nach dem anderen verschlang. »... mir einfach aus der Hand geschlagen ...«, hörte er Becky schluchzen. »... nur gut gemeint ...«

Mit bedrückter Miene schüttelte Royston den Kopf und ging über den Rasen hinüber zu Ada. »Hallo, Ads.«

Hastig schlug Ada das Deckblatt über ihren Skizzenblock, den sie gegen die angezogenen Knie gelehnt hatte. »Hallo, Royston.«

»Ich wollte dich nicht stören.«

»Nein, schon gut.« Sie streckte die Beine unter der Wolldecke aus und legte sich zurück, deutete auf die Kante des Liegestuhls. »Setz dich doch.«

Es tat Royston in der Seele weh, sie so zu sehen, blass und die matten Augen tief in die Höhlen gesunken, Nase und Kinn spitz im eingefallenen Gesicht. Wenn Ada sich tatsächlich auf dem Weg der Besserung befand, wollte er lieber nicht wissen, wie sie ausgesehen hatte, als es ihr schlecht ging.

»Mit Verlaub, du siehst furchtbar aus«, entfuhr es ihm unwillkürlich.

Ada gab ein Schnauben von sich. »Vielen Dank auch.«

Royston grinste. »Immer wieder gern, junges Fräulein.« Er deutete auf den Skizzenblock, den Ada umklammert hielt. »Darf ich’s sehen?«

Ada zögerte, nickte schließlich und reichte ihm den Block. Als er das Deckblatt zurückschlug, schluckte er, und seine Augen wurden feucht. Lange starrte er auf die Skizze: Simon, einen Rugbyball unter dem Arm, wie er angestrengt vorwärtsspurtete. Er hörte das satte Thunk!, wenn das Ei aus Leder auf dem Boden auftraf, und das Gebrüll der Jungs, das in spielerischem Ernst, in freudigem Kampf über das Rugbyfeld schallte. Hier! Hier! Gib ab, du Nase! Jungs waren sie gewesen, die nichts wussten vom Ernst des Lebens, von der Grausamkeit des Krieges und von der Bitternis des Todes, und der Schmerz wühlte seine Klauen tief in Royston hinein.

»Du ... du hast ihn gut getroffen«, sagte er schließlich leise. »Seine Züge, seinen Gesichtsausdruck, die Art, wie er sich bewegt hat – es ist alles da.«

»Ich hab solche Angst, dass mir die Erinnerung an ihn verloren geht«, wisperte Ada. »Es ist bald fünf Jahre her, dass ich ihn zuletzt gesehen habe.«

»Das wird nicht passieren«, erwiderte Royston und gab ihr den Block zurück. »Alles, was dir wichtig ist, wird dir auch im Gedächtnis bleiben.«

Adas Finger strichen am Rand des Blocks entlang, den sie auf dem Schoß hielt. »Hast ... hast du ihn noch einmal gesehen ... danach?« Als Royston bejahte, setzte sie hinzu: »Glaubst du, er hat sehr gelitten?«

»Das weiß ich nicht«, gab Royston zurück, und seine Stimme klang gepresst. »Aber wenn, dann wohl nicht sehr lange. Er hat ...« Royston schluckte hart ob der Bilder, die in ihm aufstiegen. Simons regloser Leib, die klaffenden Wunden darin. All das Blut. »Friedlich sah er aus. Ja, friedlich.« Simon in seinen Armen, der schwer war, so schwer. »Len und ich haben ihn begraben, Ads.«

Sie nickte, und zwei Tränen rannen ihr über die Wangen. »Das ist gut. Ich danke euch.«

Er berührte sie leicht am Arm. »Er würde nicht wollen, dass du so leidest. Trauern ja – aber nicht leiden.«

Ein winzig kleiner Zornesfunke glühte in Adas Augen auf, machte sie beinahe wieder lebendig. »Das ist solch ein dummer, dummer Spruch! Du glaubst gar nicht, wie oft ich den schon gehört habe und wie sehr er mir zu den Ohren rauskommt!« Weitere Tränen liefen ihr über das Gesicht. »Es tut so weh, Royston! Es tut immer noch so weh, nach der ganzen Zeit!«

Er rutschte näher, legte den Skizzenblock behutsam zur Seite und zog Ada in seine Arme, an seine breite Brust, in der sich etwas zusammenzog, als er spürte, wie dünn sie war, zerbrechlich wie ein Vogeljunges, das aus dem Nest gefallen war. »Ich weiß. Mir auch, kleine Ada. Nicht so wie dir, aber mir tut es auch immer noch weh.« Nach kurzem Schweigen fuhr er fort: »Wenn ich eins gelernt habe in diesem verdammten, sinnlosen Krieg, dann, wie kostbar das Leben ist. Gut«, er lachte dürr auf, »ich mache vielleicht nicht allzu viel aus dem meinen. Ich versuch nichts weiter, als den Besitz zu erhalten, den meine Vorfahren mir hinterlassen haben. Gewiss nicht das bedeutungsvollste Lebensziel, vielleicht noch nicht einmal ein besonders lohnendes. Aber immerhin ein Ziel.«

Kurz vor dem Waldrand zügelte Grace ihre Stute und ließ sich aus dem Sattel gleiten. Sorgsam schlang sie die Zügel um den Ast eines Haselnussstrauches, klopfte dem Pferd zärtlich auf die Backe und ging auf das Dickicht zu, blieb dann aber stehen. Letztes Jahr im Mai war sie schon einmal hier gewesen und gleich wieder geflohen, sie hatte es nicht ausgehalten. Sie ballte die Hände zu Fäusten, um sich selbst Mut zuzusprechen, und stapfte durch das hohe Gras, durch das Unterholz.

Das Blau vor ihr traf sie bis ins Mark, dieser See aus tiefstem Ultramarin, von Tausenden und Abertausenden Glockenblumen, deren zarter Duft die Luft erfüllte und die am Rand zu einem farbigen Dunst verschwammen. Mit zitternden Händen fuhr Grace sich über die tränennassen Wangen und stieg hinein in dieses azurne Blumenmeer und streckte sich aus auf dem Blumenbett.

Lange lag sie so da, die Augen auf das grün flirrende Laubdach der Eichen über ihr geheftet. Jeremy. Jeremy. Grace rollte sich auf den Bauch und grub die Finger in den feuchten Boden. Jeremy.