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Keiner seiner beiden Töchter nahm Colonel Norbury das Märchen ab, sie hätten sich im hereinbrechenden Gewitter verloren und getrennt voneinander irgendwo untergestellt, bis der Regen aufgehört hatte, aber es gab für ihn auch keine greifbaren Anzeichen, dass es sich womöglich anders zugetragen hatte. Es spielte ohnehin keine Rolle mehr.
Am anderen Morgen fuhr Ben unter einem grauen, regenlastigen Himmel Simon und Jeremy nach Guildford, wo sie den Zug der London & Southwestern Railway nahmen, der sie nach Norden brachte. Es war eine schweigsame Fahrt, während der jeder von beiden seinen Gedanken nachhing und aus dem Fenster auf das beschauliche vorbeizuckelnde Surrey hinausschaute.
Bis Simon in Woking umstieg und nach Westen weiterfuhr, durch das saftig grüne, malerische Somerset Richtung Yeovil, und von dort weiter mit einem Wagen in sein Elternhaus von Bellingham Court nahe des Weilers Ilminster. Jeremy indes blieb bis zur Endstation von Waterloo im Zug sitzen, durchquerte das von Menschenstimmen und Pferdehufen und Wagenrädern lärmende, das geschäftige, von Ruß und Dunst durchzogene Steinlabyrinth Londons nach King’s Cross und fuhr mit der Eisenbahn nach Norden, durch die Ebene um Peterborough und durch die marschigen Fens hinauf nach Lincoln zu seiner Mutter.
Viel zu schnell waren die letzten Tage vergangen, die letzten Tage in ihrem Leben als behütete Söhne und Brüder, und doch ersehnte jeder von ihnen den einen Tag, an dem sie in den Zug steigen konnten, der sie nach Süden brachte, an die Küste, nach Havant und weiter nach Chichester, in die Kaserne des Royal Sussex. Die Vorfreude sprudelte kribbelnd durch ihre Adern, und nicht allein die Vorfreude darauf, wieder zusammen zu sein. Vor allem die Vorfreude darauf, in die scharlachrote Uniform zu schlüpfen, ihr Quartier zu beziehen und ihr neues Leben zu beginnen. Als Männer und als Offiziere, für Gott und für England und für die Krone.
Und während sie sich in den eng getakteten Tageslauf einfügten und übten, Befehle von oben entgegenzunehmen und an die Soldaten weiterzugeben, während sie Schlachtenformationen paukten und einstudierten; während sie am Galgen baumelnde Strohpuppen im Galopp mit dem Bajonett aufspießten und den Umgang mit den Martini-Henry-Gewehren übten und damit Ziele in fünfhundert, gar sechshundert Yards Entfernung sicher zu treffen lernten, nahm der Sommer Abschied. Langsam, langsam raffte er seine Wärme, seinen Sonnenschein zusammen und hinterließ noch einen letzten Gruß an den Bäumen, die sich im deftigen Licht des September golden und kupfern färbten. Bevor er endgültig ging und der Oktober mit seiner kahlen Bräune ein Farbflämmchen nach dem anderen löschte.
Und dann, eines Sonntags im späten Oktober, standen sie mit zappeliger Ungeduld im Leib am Bahnsteig von Chichester, in ihren schmucken Ausgehuniformen, eine Zierde für ihr Regiment, für die Armee, und nahmen im Gedränge und Gerufe, im Geremple und Geschiebe, das aus den Türen der Eisenbahnwagen quoll, ihren Besuch in Empfang. Den Colonel und Lady Norbury, Ada und Grace und Becky, Lord und Lady Grantham und die Digby-Jones. Royston kümmerte es wenig, dass Lady Evelyn sich und den Earl entschuldigen ließ, da sich die weite Fahrt von Devon für die wenigen Stunden ja wohl kaum lohne; er hatte es nicht anders erwartet und sehnte sich ohnehin allein danach, Cecily in die Arme zu schließen und mit stolzgeschwellter Brust seine hübsche Verlobte durch die Stadt zu führen. Und Tommy schickte Grüße aus Cheltenham, wo er sich in der kurzen Zeit schon ganz gut eingelebt hatte.
Sie wirkten wie eine große, glückliche Familie, wie sie alle zusammen lachend und schwatzend durch die Gassen mit den schmucken Häuschen hinter schmiedeeisernen Zäunen schlenderten, die Kathedrale aus verwittertem grauen Stein mit ihren Spitzbögen, dem Kreuzgang und dem Kampanile besichtigten, später zu Tee und Kuchen einkehrten. Zumindest sahen sie so aus für die Menschen von Chichester, denen sie unterwegs begegneten, und für ihre Kameraden aus der Garnison, die ihrerseits ihren Lieben die Stadt zeigten. Man musste entweder schon sehr genau hinschauen oder Colonel Norbury näher kennen, um die gletschergleichen Blicke zu bemerken, die er Ada und Simon und auch Grace und Jeremy zuwarf. Dabei gaben sie sich alle Mühe, sich nichts anmerken zu lassen, eine Qual an diesem Tag, wo doch die Zuneigung, die Verliebtheit durch die Wochen der Sehnsucht neue Nahrung erhalten hatte. Und eine Folter war es, dass es keinen Raum, keine Zeit gab, zu zweit allein zu sein, für einen Kuss, für eine Umarmung oder auch nur für eine geflüsterte Zärtlichkeit.
»Bis Weihnachten«, sagte Simon, der es sich, ungeachtet des grimmigen Blicks des Colonels, nicht nehmen ließ, Ada in den Wagen der schnaufend bereitstehenden Eisenbahn zu helfen.
»Bis Weihnachten«, flüsterte sie, und ihre kleine behandschuhte Hand drückte fest die seine.
Bis Weihnachten – bis Weihnachten! Bis Weihnachten auf Givons Grove, wohin Lord und Lady Grantham sie alle eingeladen hatten, das versprachen sie einander im dampfigen Nebel auf dem Bahnsteig von Chichester.
Chichester, den 18. November 1881
Liebste, allerliebste Ada,
ich weiß nicht, wie ich Dir’s beibringen soll – aber wir werden uns nicht sehen zu Weihnachten! Gerade eben haben wir erfahren, dass wir abkommandiert sind, um das Bataillon auf Malta zu verstärken – alle fünf, und in ein paar Tagen schon geht es los! Sicher – das ist eine Auszeichnung, dass wir offenbar keinen Mist gebaut, sondern uns gut bewährt haben, und trotzdem machen alle ein langes Gesicht, die fortsollen. Ausgerechnet jetzt, so kurz vor Weihnachten ... Ich hab etwas gekauft für Dich und bring es zur Post, bevor wir uns einschiffen müssen. Mach’s aber erst am Weihnachtstag auf!
Und ich schreib Dir aus Malta, sooft ich kann – und denken – denken werd ich jede Sekunde an Dich. Das mache ich ohnehin – in Gedanken bin ich immer bei Dir!
In Liebe,
Dein Simon!
Noch bevor sich der zähe Novembernebel auflöste und der erste Schnee fiel, traten sie ihre Reise an und ließen England hinter sich. Malta, ein spärlich begrünter Fels im kobaltblauen Meer, karg und zerklüftet wie der abgewetzte und vergilbte Backenzahn eines Wiederkäuers, wurde ihr neues Zuhause. Es war ein seltsames Weihnachten für sie alle, auf Bellingham Court und auf Givons Grove, auf Ashcombe House und auf Shamley Green, dieses erste Weihnachten ohne die jungen Männer. Ein seltsames Weihnachten war es auch in der Garnison auf Malta, wo sie die Festtage unter anderen Offizieren anstatt mit den Lieben zu Hause verbringen mussten, und doch blieb wenig Zeit, süßen Erinnerungen nachzuhängen. Die Tage waren lang und betriebsam, während sie ihre Plätze im Gefüge des Bataillons einnahmen und auszufüllen versuchten. Eintönige Tage waren es, die im gleichmäßigen Rhythmus des Kasernenlebens verstrichen, zwischen Morgenappell und Zapfenstreich, immer die gleichen marschierenden Schritte, die bellenden Befehle, die krachenden Schüsse, die über den Exerzierplatz hallten und von den Mauern zurückgeworfen wurden.
Jene Tage des neuen Jahres 1882, während in Surrey der Schnee hoch lag, weiß und weich und pulvrig. Als er verharschte und schließlich schmolz und darunter die nackte Erde zum Vorschein kam, die langsam zu grünen begann. Dann, als die ersten Knospen an den kahlen Ästen aufbrachen und sich entfalteten, als England sich ein Frühlingskleid in zartem Grün und Weiß und Rosa überstreifte und ein neuer Sommer an die Tür klopfte und Einlass erhielt.
Malta, den 4. August 1882
Liebe Grace,
dies ist unsere letzte Nacht auf Malta. In einigen Stunden brechen wir auf, nach Alexandria. Es war unangenehm in den letzten Wochen, nicht zu wissen, wann es losgeht und ob es überhaupt losgehen wird. Jetzt hat zumindest das Warten ein Ende.
Ich hoffe, wir sind gut vorbereitet auf das, was uns dort erwartet. Leonard, Royston und ich versprechen Dir, auf Stephen achtzugeben, und dasselbe werden wir bei Simon tun, für Ada; sie sind doch die Jüngsten unter uns.
Den Rimbaud, den Du mir im Oktober mitgebracht hast, habe ich schon eingepackt. Ich sage Dir nochmals Danke dafür. Solange er bei mir ist, werde ich das Gefühl haben, dass auch Du nicht allzu weit von mir entfernt bist.
Ich schreibe Dir aus Alexandria, sobald ich kann.
Jeremy