29
Im Norden des Sudan zeichnet der Nil in einer weiten Schleife ein Fragezeichen in die Landschaft, zu dem Khartoum der Punkt darunter ist. Diese Biegung des Nils umschließt die Wüste von Bayuda, die kleine Schwester der großen Nubischen Wüste, und im Januar 1885 nach christlicher Zeitrechnung erlebte die Wüste von Bayuda ein noch nie da gewesenes Schauspiel.
Eine dunkle Wand kroch über den harten Grund aus Sand und Stein, auf dem nur ein paar verkrüppelte Dornbüsche wuchsen. In der Morgensonne mit ihrem harten Licht und in der tief stehenden Sonne des Nachmittags, die die Wüste zu zähflüssigem Metall schmelzen ließ, schoben sich Schatten unter der Wand hervor, lang und dürr wie tausend Spinnenbeine, die vorwärtszogen, immer weiter vorwärts; nur um die Mittagszeit, wenn die Sonne senkrecht stand, schwebte die Wolke schattenlos über dem Boden.
In Äonen hatte der Wind den Boden abgeschmirgelt, die Ebenen aus grauem Ton dazwischen rissig und schrundig gegerbt. Messerscharf und wie zersplitterte Kohle ragten Steinstückchen heraus, die jedoch für die Hufe der Kamele kein Hindernis darstellten. Gleichmütig trotteten sie in dem aufgewirbelten Staub dahin, Dutzende von Kamelen, eines neben dem anderen, eine Reihe zu vierzig nach der anderen, eine breit gezogene Kolonne der sprichwörtlichen Schiffe der Wüste, die sich lautlos vorwärtsbewegten. Umso geräuschvoller waren die Stimmen ihrer Reiter, lebhaft, vergnügt, geradezu aufgekratzt, so als müssten sie die stillen Schritte ihrer Reittiere, so ungewohnt nach dem altvertrauten Geklapper von Pferdehufen, übertönen, während die Hufschläge der schlanken, schnellen Husarenrösser sich in der Weite der Wüste verloren. Vielleicht aber waren diese Reiter auch einfach aufgeregt und glücklich, in dieses Abenteuer aufzubrechen, für das erwählt zu sein sie die Ehre hatten, in grauen Uniformröcken und in ockergelben Hosen, mit einst weißen, jetzt mit einer Mischung aus Schlamm und dem Sud aus Akazienrinde braun eingefärbten Helmen und auf Kamelsätteln, so rot wie Blut.
Es waren die Offiziere und Soldaten der Wüstenkolonne Wolseleys, am 30. Dezember von ihrem Lager in Korti, fast am Anfang des Fragezeichens im Lauf des Nils, aufgebrochen, um die Wüste von Bayuda nach Metemmeh zu durchqueren und von dort aus nach Khartoum vorzudringen. Die Besten der Besten waren es, die sich auf den Weg gemacht hatten, Gordon und die Menschen von Khartoum zu befreien, insgesamt achttausend Mann. Während fünftausend Mann in Korti verblieben, um den Weg für den Rückzug freizuhalten, waren die restlichen dreitausend aufgeteilt worden. Eine Hälfte nahm den beschwerlichen Weg über den Nil auf sich, entlang der Biegung des Fragezeichens, bei dem Schluchten und vor allem drei der insgesamt sechs gefürchteten Katarakte des Flusses zu überwinden waren, Stromschnellen über Felskanten und über Granitbarrieren, die besonders jetzt, im Winter, da der Fluss nur wenig Wasser führte, mit den Booten kaum passierbar waren. Drei Katarakte, von denen man wusste; was der Flusslauf des Nils auf seinem Grund noch verbergen mochte, war zum Teil noch nicht kartographiert und noch unbekannt. Die über zweihundert Walfänger, die Vorräte für die Truppen und für Khartoum enthielten, würden mittels Seilen und der Muskelkraft von Mensch und Tier über die Katarakte gehievt werden müssen. Ein kleiner Kavallerieverband, halb englisch, halb ägyptisch, würde zudem die Ufer entlang des Weges im Auge behalten. Der andere, etwas kleinere Verband von elfhundert Mann nahm in zwei Gruppen nacheinander den schnelleren, aber kaum weniger beschwerlichen Weg durch die Wüste von Bayuda, und unter dieser Vorhut befand sich auch das Royal Sussex.
»Ach, Jungs«, seufzte Royston aus der Tiefe seines Leibes und sah sich um, »ist das nicht ein herrliches Fleckchen hier?« Beseelt ruhte sein Blick auf dem Amphitheater aus zerklüftetem und gespaltenem Stein, das sich unter ihnen auftat. Leonard, Stephen und Jeremy, die mit ihm auf der Kante der Felswand saßen, mit den Beinen baumelten und rauchten, grinsten sich an.
»Als wir hier angekommen sind, hat es mir bedeutend besser gefallen«, meinte Stephen wehmütig. Vorgestern waren sie hier angelangt, bei den Brunnen von Jakdul, nach ihrem etwas mehr als dreitägigen Marsch durch die Wüste von Bayuda, jenseits einer Landschaft, die dem Brett eines kostbaren Damespiels aus Onyx und Bernstein glich, durchsetzt mit sanft gekräuselten Sanddünen. Drei Brunnen waren es, während der Regenzeit gefüllte natürliche Becken, die am Tag ihrer Ankunft noch eisig grün glänzende Flächen gewesen waren, so tief, dass der Grund unter dem klaren Wasser schwarz gewirkt hatte. Die Felsen waren mit Gräsern bewachsen, und zuweilen schossen scharlachrote Libellen surrend durch die Luft, die kühl war und nicht nur den Leib, sondern auch die Seele erfrischte. Nachdem sie mit Eimern Ketten gebildet hatten, um die Kamele zu tränken, selbst den schlimmsten Durst zu löschen und ihre Vorräte aufzufüllen, war vom Wasser in den Brunnen nicht mehr allzu viel übrig geblieben. Morgen würden sie deshalb in Richtung Abu Klea aufbrechen, wo sie erneut auf Wasser stoßen würden. Als ob wir den Hauch des Todes mitbringen, ging es Stephen durch den Sinn. Wohin wir auch gehen, hinterlassen wir Leichen und totes Gestein.
Royston fuhr sich über die whiskybraunen Stoppeln der letzten Tage in seinem Gesicht. »Findet ihr, ich sollte mir den Bart stehen lassen?«
»Warum das denn?« Stephen sah ihn irritiert an, blies den Zigarettenrauch aus und fasste sich unwillkürlich selbst an die kratzige Wange.
»Gäbe mir vielleicht etwas ... Distinguiertes, oder nicht? Schaut sie euch doch an«, Royston machte eine Geste hinter sich, zu dem provisorischen Lager hin, wo die ranghöheren Offiziere Karten studierten und Strategien erörterten, abseits der einfachen Soldaten, über denen der bläuliche Qualm unzähliger Tabakspfeifen schwebte. »Burnaby und Trafford und all die anderen ... Da trägt jeder einen Bart!«
In einigem Abstand kauerten die bepackten Kamele mit stumpfsinnigem Blick auf der Erde, bewacht von den einheimischen Kameltreibern. Der Großteil der Wüstenkolonne, nach Eintreffen der Nachhut am heutigen Tag wieder vollständig, war bereit für den Marsch nach Abu Klea; man wartete nur noch auf den Befehl zum Aufbruch, während eine kleine Abordnung, darunter auch Kompanien des Royal Sussex, hier bleiben würden, um dem Korps den Rücken freizuhalten.
Leonard grinste. »Bei Stilfragen wendest du dich besser vertrauensvoll an Sis. Aber ich meine mich zu erinnern, dass mein Schwesterchen Bärte in jeglicher Form grauenhaft findet.«
»Oh«, machte Royston und kratzte sich verlegen das Kinn, als könnte er so den Bartansatz schnell loswerden.
»Ich hasse diese Viecher!« Wutentbrannt humpelte Simon heran und wischte mit dem Handrücken angeekelt über sein offen stehendes, staubiges und schweißfleckiges Hemd, auf das sein Kamel gerade einen Schleimpropf gespuckt hatte. »Wäh!« Er rieb seine Hand an einer moosigen Stelle auf dem Stein sauber. »Dabei habe ich es so umsichtig und liebevoll beladen, wie ich nur konnte!«
Royston, Leonard und Stephen bogen sich vor Lachen, und auch Jeremy blickte belustigt drein.
»Schön, dass ihr euch auf meine Kosten so amüsieren könnt«, maulte Simon, als er zu ihnen trat. Er zerrte sein Hosenbein aus dem Stiefelschaft, zog es bis übers Knie hinauf und zeigte auf einen purpurn und gelb gefleckten Ring um seine knochige Kniescheibe, der deutliche Zahnabdrücke erkennen ließ. »Guckt euch das an, wie übel das immer noch aussieht, nachdem mich dieses Biest vorgestern während des Ritts mit einer Drehung seines Schlangenhalses erwischt hat!«
Leonard lachte. »Sei froh, dass es dich wenigstens nicht abgeworfen hat – ebenso gut könntest du jetzt mit einem gebrochenen Bein oder mit einem gebrochenen Arm im Lazarettzelt von Korti liegen!«
Simon grummelte eine unverständliche Erwiderung, während er den Hosensaum wieder in den Stiefel stopfte und sich zu ihnen setzte.
»Immerhin«, meinte Jeremy und zündete sich die frisch gedrehte Zigarette an, »hat man sich alle Mühe gegeben, uns mit den Kamelen vertraut zu machen.«
Vor dem Aufbruch von Korti hatte man die Wüstenkolonne sechs Wochen lang einem bis dahin ungekannten Drill unterzogen. Die Männer mussten erst lernen, wie man sich einem Kamel überhaupt näherte, ohne dass es die Zähne bleckte und zubiss, und wie man aufstieg, ohne dass das Tier einen sofort wieder abwarf, was tatsächlich etliche Fleischwunden und auch gebrochene Knochen zur Folge gehabt hatte. Dann ging es darum, im Sattel zu bleiben, wenn die Tiere bockten und im Kreis herumwirbelten, und schließlich hatten sie gelernt, wie sie die Tiere dazu brachten, in der Formation eines Karrees für den Kampf in die Knie zu gehen und wieder aufzustehen; für das Knien und das Aufstehen des gesamten Karrees durften sie nicht länger brauchen als eineinhalb Minuten, was ihnen mittlerweile keine Schwierigkeiten mehr bereitete.
»Hör mir auf«, wetterte Royston. »Mir tut noch jeder Muskel weh, wenn ich daran denke. Von den Blasen an meinem Allerwertesten gar nicht zu reden.« Wie um seine Worte zu unterstreichen, schob er die Hüfte vor und rieb sich über das Hinterteil.
Leonard sah Jeremy mit einem zugekniffenen Auge an. »Ihr Tonfall lässt vermuten, dass Sie mit der Organisation dieses Unternehmens nicht ganz zufrieden sind, hochverehrter Captain Danvers.«
Jeremy schwieg, während er ein paar Mal hintereinander an seiner Zigarette zog. Soweit er das von seinem Standpunkt innerhalb der Befehlskette aus beurteilen konnte, war dieser Feldzug zur Rettung Khartoums zwar kühn, wenn nicht gar abenteuerlich, aber dennoch gut durchdacht und klug geplant. Unwägbare Risiken gab es bei jedem Feldzug. Er selbst jedoch trug die Verantwortung für seine Soldaten, dafür, dass sie genug Wasser zu trinken bekamen, dass sie keinen Hunger litten und dass sie im Kampf alles an funktionstüchtigem Material zur Verfügung hatten, um sich und die anderen verteidigen zu können. Und genau hier waren Mängel zum Vorschein gekommen, Mängel und Schwierigkeiten, die Jeremy Kopfzerbrechen bereiteten. Er zögerte noch, es den anderen zu sagen, aber schließlich waren sie nicht nur seine Freunde, sondern darüber hinaus ebenfalls Offiziere, die ihrerseits Verantwortung trugen.
»Ich werde den Eindruck nicht los, dass wir nicht wirklich angemessen ausgerüstet und vorbereitet sind für das, was uns erwartet«, sagte er schließlich leise. »Allein die Sache mit den Wasserflaschen ...« Die Wasserhäute nach einheimischem Vorbild, mit denen man das Wüstenkorps ausgerüstet hatte, waren prinzipiell eine gute Sache. Nur hatten sie nicht gewusst, wie man verhinderte, dass das Wasser durch die Poren des Leders verdunstete und dass man Löcher nicht einfach zunähen konnte. Bis sich einer der einheimischen Kameltreiber erbarmt und ihnen gezeigt hatte, wie man die Häute mit Zweigen und Kameldung flickte, hatten sie quälenden Durst gelitten, und einige Soldaten waren auf dem Weg durch die Wüste zusammengebrochen.
»Dann die Sättel, die eigens für unsere Bedürfnisse angefertigt wurden, die für die Kamele aber offenbar nicht geeignet sind und ihnen Wucherungen verursachen, an denen sie eingehen. Überhaupt – wir haben zu wenig Kamele. Wir könnten schon längst in Abu Klea sein, wenn wir nicht unbepackte Kamele nach Korti hätten zurückschicken müssen, um die übrigen Männer und das Material von dort hierherzubringen. Am meisten«, Jeremy schnippte die ausgerauchte Kippe seiner Zigarette weg, »am meisten macht mir der Gedanke Sorge, dass wir hier irgendwo in der Wüste in einen Kampf verwickelt werden. Wenn ich mir vorstelle, die Martini-Henrys sind nicht nur dem Flugsand, sondern auch der Hitze ausgesetzt ... Und das Metall der Bajonette ist einfach zu weich, wie wir ja schon in el-Teb und Tamai feststellen mussten.«
»Weiß unser Captain Oberschlau mal wieder alles besser?«
Simon, Royston und Stephen stöhnten im Chor auf, als sie die Stimme von Freddie Highmore hinter sich vernahmen. Jeremy zog nur die Brauen zusammen und spannte die Mundwinkel an. Dass Highmores Bewerbung um einen Platz unter den Coldstream Guards des Wüstenkorps erfolgreich gewesen war, war von ihnen nicht unbedingt begrüßt worden.
Leonard wandte sich zu ihm um. »Weißt du, Highmore – wenn ich dich so ansehe, beschleichen mich Zweifel, ob wir tatsächlich die Besten der Besten sein sollen. Es sei denn, du hast dir einfach eine Uniform geschnappt, obwohl du ursprünglich als Kameltreiber eingeteilt warst!«
Royston, Simon und Stephen prusteten los, und auch Jeremys Mund zuckte.
Highmores blässliche Augen wanderten von Leonard über Royston, Simon und Stephen, die sich ebenfalls zu ihm umgedreht hatten, hin zu Jeremy, der erst jetzt langsam den Kopf umwandte. »Ihr seid ja wohl diejenigen, die es kein Stück verdient haben, hier zu sein! Verräter an unserem Rang und unserem Stand seid ihr! Schaut ihn euch doch an«, sein Kinn ruckte in Richtung Jeremy, der inzwischen tief gebräunt war und dessen Haar trotz des Tropenhelms, den er während des Ritts der letzten Tage zum Schutz gegen die Sonne getragen hatte, mit kastanienfarbenen Glanzlichtern durchsetzt waren. »So wie der aussieht, könnte er fast selber einer von den Fuzzys sein! Am Ende müssen wir noch fürchten, dass er zum Feind überl–«
Leonard war aufgesprungen, und Royston und Simon taten es ihm gleich.
»Halt bloß dein dummes Maul«, herrschte Royston ihn an und baute sich drohend vor ihm auf, die Faust in die Luft gereckt und so fest geballt, dass die Knöchel weiß unter der braunen Haut hervorschimmerten. »Sonst vergess ich tatsächlich Rang und Stand und du kannst morgen nicht mehr aus den Augen gucken!«
»Zieh Leine, Highmore«, zischte Leonard. »Und lass dich nicht mehr in unserer Nähe blicken!«
»Jawohl!«, pflichtete Simon ihnen bei.
»Hey, ihr da drüben – was ist da los?!« Captain Trafford, ihr Kompanieführer im Royal Sussex, war auf die Auseinandersetzung aufmerksam geworden und sah herüber. Seine stramm aufgerichtete Gestalt verhieß Ärger.
»Alles in Ordnung, Sir!«, rief Royston ihm zu.
»Ja, Sir, alles bestens!«, kam es von Leonard, bevor er energisch mit dem Kopf ruckte, um Highmore zu bedeuten, dass er abhauen solle. »Wird’s bald!«, setzte er nach.
»Ein solches Dreckspack seid ihr – einer wie der andere!«, schnaubte Freddie Highmore, trollte sich dann aber.
Aufseufzend ließen sich die drei wieder auf der Felskante nieder, Leonard unmittelbar neben Jeremy, dem er aufmunternd auf die Schulter klopfte. »Was ich vorhin noch sagen wollte ...« Ein Grinsen zog über sein Gesicht. »Falls es dir entgangen sein sollte: Unsere Kompanie hatte den wenigsten Verlust an Wasser und konnte den anderen sogar noch etwas abgeben. Es kann auf jeden Fall nicht schaden, in meiner Nähe zu bleiben. Du weißt ja, ich bin der geborene Glückspilz!«
»Oho, da ist heute jemand zur Abwechslung ganz bescheiden«, frotzelte Royston und zündete sich eine neue Zigarette an. »Aber denkt doch mal dran, was wir alles zu erzählen haben, wenn wir wieder zu Hause sind. Angefangen von unserem Plumpudding à la soudanaise zu Weihnachten in Korti«, er lachte, als Simon ein würgendes Geräusch von sich gab, »und dem schwungvoll getrommelten Weihnachtskonzert auf den Packkisten am Lagerfeuer in der Wüste. So ein Weihnachten werden wir alle so bald nicht mehr erleben!«
»Oder als dir dein Kamel abgehauen ist und du ihm eine Dreiviertelmeile hinterhergerannt bist«, zog Simon ihn auf, was Royston mit einer gespielt gekränkten Miene und mit beleidigt vor der Brust verschränkten Armen beantwortete.
»Nicht zu vergessen«, Leonard beugte sich vor und senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern, »Brigadekommandeur Buller, der darauf bestanden hat, einen Vorrat an Veuve Clicquot mit in die Wüste zu nehmen!«
Die fünf brachen in Gelächter aus, das viel zu schnell wieder abebbte. Die arglose Heiterkeit, mit der sie damals in Ägypten angekommen waren, war zerschlissen unter den Strapazen des Krieges. Wann immer sie noch aufflackerte unter den fünfen, brachte sie die Erinnerung zurück an sorglosere Zeiten und die Hoffnung auf ein Morgen, an dem das alles hier hinter ihnen lag.
»Ist es euch auch so gegangen«, ließ sich Stephen vernehmen, als wieder Stille eingekehrt war, »dass euch der Weg durch die Wüste viel länger vorkam als nur vier Tage? Wie eine halbe Ewigkeit?«
»Mhm«, machte Royston und zog an seiner Zigarette, »ja, wie mehrere Wochen. Ich bin ein paar Mal eingenickt unterwegs, weil es so eintönig war und nur zäh vorwärtsging. Ein Kamel«, er ließ den Kopf zur Seite hängen und wackelte damit, als wäre sein Hals aus elastischem Gummi, um den Schaukelgang der Tiere nachzuahmen, und erntete damit leises Gelächter, »ist nun einmal kein rassiges Rennpferd. Nicht einmal ein tapferes Schlachtross. Hätten wir nicht alle halbe Stunde anhalten müssen, weil die Lastkamele sich in den Leinen verfangen hatten, dann wäre ich über kurz oder lang im Tiefschlaf aus dem Sattel gepurzelt.«
Simons Kopf ruckte hoch. »Heute ist doch der vierzehnte, oder?« Als die anderen bestätigend nickten, breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Seine grauen Augen schimmerten hell und blickten weit, weit hinaus in die Ferne. »Heute in zwei Monaten ist Adas Geburtstag«, flüsterte er. »Dann ist sie mündig, so wie ich.«
Simons einundzwanzigster Geburtstag lag fast ein Jahr zurück. Ende Januar hatten sie ihn in Cairo ausgiebig gefeiert, so wie auch Stephens Volljährigkeit im Oktober zuvor.
»Dir ist schon klar«, warf Letzterer nun ein, mit einem kumpelhaften Grinsen, das jeden Moment ins Zynische abzugleiten drohte, »dass du trotzdem an meinem alten Herrn vorbeimusst?«
»Ach«, kam es von Simon, der siegesgewiss grinste. »Wenn wir Khartoum erst eingenommen haben, dann sind wir Helden. Dann kann selbst der Colonel nicht mehr Nein sag–«
Das Signalhorn, das die Männer dazu aufrief, sich für den Abmarsch bereitzumachen, unterbrach ihn. Hastig standen sie auf, traten ihre Zigarettenstummel auf dem Boden aus und marschierten los. Royston rauchte im Gehen noch die letzten Züge, und Simon hielt ihn am Ärmel fest.
»Royston, einen Moment noch ...« Er wartete, bis die anderen einige Schritte Vorsprung hatten, dann fuhr er fort: »Ich wollt’ dich was fragen – oder dich vielmehr um etwas bitten.« Simons Züge waren in den letzten dreieinhalb Jahren kantiger geworden und damit regelmäßiger. Er wirkte gereift, ohne dass er seine Jungenhaftigkeit verloren hätte. Ein Eindruck, der sich durch die Bartstoppeln in seinem Gesicht noch verstärkte, und umso mehr, als sich darin nun feierlicher Ernst mit aufgeregter Vorfreude mischte. »Wenn wir das hier überstanden haben und wieder in England sind, werd ich um Adas Hand anhalten. Würdest du – würdest du dann mein Trauzeuge sein?«
Roystons Brauen hoben sich. »Darüber machst du dir jetzt schon Gedanken?«
Simon zuckte verlegen mit einer Schulter, und sein großer Mund bog sich zu einem glücklichen Lächeln. »Das hilft mir über alles hinweg. Wenn ich daran denke, dass sie auf mich wartet. Wenn ich mir ausmale, wie es sein wird, wenn ich ihr den Antrag mache, und wie unsere Hochzeit sein wird.« Er nickte langsam. »Ja ... Immer wenn ich mir das vorstelle, geht’s mir einfach gut.«
Royston warf seine Kippe weg und streckte Simon seine Pranke hin; sein Bass rutschte noch tiefer in seinen Leib hinab vor Ergriffenheit. »Es wird mir eine Ehre sein!«
Nur zehn Meilen schafften sie an diesem Tag, auf einem unebenen Grund aus losen Kieseln, der den Weg selbst für die Kamele mühselig machte. Die prickelnde Aufregung des Aufbruchs in Korti hatte sich unter der Glut der Wüste von Bayuda abgenutzt, und die gewisse Leichtherzigkeit, die sich während der Verschnaufpause an den Brunnen von Jakdul eingestellt hatte, hatte ebenfalls nicht lange vorgehalten. Die schartigen, zerklüfteten Hänge im Osten, die, von Staubfähnchen umnebelt, ihren Weg begleiteten, waren wie ein böses, ein bedrohliches Omen. Und die Stille, durch die sie ritten, die Leere, die sie umgab, wirkte umso beunruhigender. Einige Offiziere tasteten unbewusst nach ihrem Webley-Revolver, den sie im Holster am Gürtel trugen, versicherten sich, dass sie ihr Schwert kampfbereit bei sich trugen.
Vielleicht war es ein einem Soldaten innewohnender Instinkt, der ihnen einflüsterte, auf der Hut zu sein, gerade weil sie bislang noch keinen Feind zu Gesicht bekommen hatten, nur ein paar verängstigte Stammesmänner, die sofort das Weite suchten. Vielleicht war es aber auch ihr logisch denkender Verstand, der ihnen sagte, dass ein solcher Truppenaufmarsch wie der ihre den Männern des Mahdi gewiss nicht verborgen bleiben könnte.
Es schien, als hätten die Felsen Augen und warteten nur. Warteten, bis sie nahe genug herangekommen waren.
Frische Hufspuren von Pferden, von einem der immer wieder aus dem Tross ausscherenden und losreitenden Kundschafter der Husaren entdeckt, und ein Remingtongewehr, das er gefunden hatte, bestätigten ihre düsteren Vorahnungen: Sie waren hier, die Männer des Mahdi. Hier irgendwo. Auch wenn sie sie nicht sahen und nicht hörten.
Sie verbrachten eine unbequeme, unruhige Nacht auf einer sandigen Ebene, in einem hastig aufgeschlagenen Lager. Eine kurze, eine kalte Nacht war es, und sie wickelten sich fest in ihre Uniformjacken und in ihre Wolldecken. Leonard Hainsworth träumte von Grace, wie sie ihre Stute auf der blühenden Wiese wendete und ihn anlachte, wie sie zu ihm hinritt, sich vorbeugte und ihn küsste, in diesem dünnen, weißen Sommerkleid mit den grünen Ranken, das er so an ihr mochte. Len, hörte er sie zwischen zwei Küssen flüstern, oh Len. Eine kurze Nacht, in der Stephen von seinem Leben nach diesem Krieg, nach der Armee träumte, von einem Leben, das ihm gehörte, ihm ganz allein, und in der Simon davon träumte, wie es sein würde, Ada im Arm zu halten, wenn er einschlief, das Gesicht in ihrem duftenden Haar vergraben, in diesem Duft nach Laub und nach Wald, und wie es sein würde, morgens beim Aufwachen als Erstes ihr Gesicht zu sehen und ihren schmalen, schlafwarmen Leib dicht an dem seinen zu spüren, Haut an Haut. Royston träumte davon, nach Hause zu kommen, nach Estreham, und in dem Moment, als er die Tür öffnete, flog Cecily ihm entgegen, lachte und weinte und jubelte zugleich und bedeckte sein Gesicht mit Küssen, und Jeremy lag noch ein paar Atemzüge lang wach, zerrissen zwischen dem Gedanken an Grace und beunruhigenden Ahnungen, was den Weg betraf, der noch vor ihnen lag, der ganze weite Weg bis Khartoum. Bis er in einen Schlaf fiel, der tief war und traumlos.
Sorgfältig an diesem Nachtlager war nur die Positionierung der Wachen gewesen, die man um die kostbaren Kamele herum aufgestellt hatte. Kamele, von denen nicht wenige während des Marsches am nächsten Tag langsamer gingen und langsamer, bis sie stehen blieben und tot zusammenbrachen. Eine ebenso traurige wie verräterische Spur an Kamelkadavern hinterließ das Wüstenkorps auf seinem Weg zum kegelförmigen Berg von Jabal an-Nus und zum nächsten Nachtlager am Jabal Sarjayn.
Und noch immer war es still, auch noch, als dort um drei Uhr morgens zum Weckappell geblasen wurde und sie erneut aufbrachen, um vor Sonnenuntergang die Oase von Abu Klea zu erreichen. Durch ein Tal aus schwarzem, brüchigem Fels führte sie ihr Weg, das vielleicht eine Meile breit war, sich jedoch mit jedem Schritt verengte und immer steiler anstieg, auf einen Pass zu, der irgendwann zwischen den Steinwänden verschwand. Geistergleich kamen ihnen Hufschläge entgegen, laut und nachhallend – die Husaren, eine Stunde vor dem Appell auf einen Erkundungsritt ausgesandt. Feind in Sicht, riefen sie, atemlos von dem fliegenden Ritt. Sind ihnen um Haaresbreite entkommen! Feind voraus! Tausende von ihnen!
Sie saßen in der Falle. Ein seitliches Ausweichen war nicht möglich und ebenso wenig ein Rückzug. Die Brunnen von Jakdul waren leer geschöpft, und zurück bis nach Korti würde ihr Wasservorrat nicht reichen.
Es gab nur einen Ausweg: vorwärts, hinunter nach Abu Klea, sehenden Auges in den Feind hinein.