14
Die Tage dieses Sommers rannen ihnen durch die Finger wie Wasser aus dem Cranleigh, ebenso klar und sprudelnd und gewichtslos. Zügig wie die Sensen der Bauern die Getreidefelder abmähten, schritt der August voran, sein Antlitz geprägt von messingfarbenen Stoppelfeldern und von hellgoldenen Heugarben, deren trockener, kräftiger Geruch die Luft erfüllte. Seine Farben, allen voran das Grün, waren nicht mehr frisch, sondern leicht verschossen von der Sonne und wie mit einer Patina überzogen; sein staubbeladenes, ginstergelbes Licht hatte an Schärfe eingebüßt und verwischte alle Konturen. Dem August fehlte die Spritzigkeit des Juni, die Leichtigkeit des Juli; er kannte aber auch noch nicht die in Sonnenfarben getauchte Geschäftigkeit des September. Sein Wesen war von einer satten Gemächlichkeit, in der die Birnen und Äpfel an den Ästen sich färbten und zu ihrer vollen Süße reiften. Und obwohl die Schatten länger wurden, lag der Gedanke an den Herbst noch in weiter Ferne, in diesem Jahr, das mit einem solch sonnigen und trockenen Sommer gesegnet war.
Auf Shamley Green schien es gar, als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Als ob der Sommer ewig fortdauern würde. Aber vielleicht wollte man hier auch einfach nur, dass dieser Sommer nie zu Ende ginge, all diese Tage des Zusammenseins, angefüllt mit Scherzen und Lachen und Fröhlichkeit; all die Tage in den Wiesen und in den Wäldern und im Garten. Jene Tage, an denen Jeremy und Grace wie auf ein Zeichen hin von ihrem Buch aufschauten, die Andeutung eines Lächelns auf dem Gesicht und sie sich dann wieder in ihre Lektüre vertieften und Leonard ihnen dabei aufmerksam zusah. Jene Tage, in denen Ada und Simon nur dafür lebten, einander hinter den Stamm einer Eiche zu entführen, in einen dunklen Winkel des Hauses und in den Schatten, der des Nachts die Rotunde im Garten mit Finsternis flutete. Für all die heimlichen Küsse und geflüsterten Zärtlichkeiten lebten sie, für all diese verbotenen und gestohlenen Momente, die ihnen doch nichts anderes waren als ihr gutes Recht.
Vater Zeit aber scherte sich seiner Natur gemäß nicht um die Wünsche der jungen Leute auf Shamley Green. Efeubekränzt und rauschebärtig, die Sense in der einen, die Sanduhr in der anderen Hand, schritt er unbeirrbar vorwärts und zählte Stunde um Stunde ab, Tag um Tag, bis das letzte Wochenende im August gekommen war.
Eine Dunstglocke stand über der Themse, und dort, wo sich ihre stahlblaue Bahn zu einer engen Biegung krümmte, zwischen Kingston im Süden und Richmond im Norden, mit Sicht auf ein baumbestandenes Inselchen im Fluss, erstreckten sich die Gärten von Estreham.
Die diesige Luft, erfüllt von der Sonne des Spätsommers, tauchte das Anwesen in ein weiches Licht und ließ den Quader aus umbrabraunem und schmeichelnd weiß abgesetztem Backstein schimmern wie einen Topas auf dem saftig grünen Samt des Rasens. Mit seinen Türmen, fialengleichen Schornsteinen und den Reliefs über den Arkaden hatte Estreham fast etwas von einem Schloss, ein Überbleibsel aus einer längst vergangenen Zeit, der glorreichen Epoche der Tudors und der Stuarts.
Schon seit einigen Tagen aus seinem Dornröschenschlaf geweckt, als zahllose emsige Hände Staub wischten und Böden wienerten, Teppiche ausklopften und Silber polierten, Betten frisch bezogen und körbeweise angelieferte Schnittblumen anordneten, ging es an diesem Wochenende auf Estreham House zu wie in einem Taubenschlag. Bereits am Tag zuvor waren die ersten Gäste angereist, verschiedene Onkel und Tanten von Royston nebst Cousins und Cousinen aus Devon und Northumberland, einige Hainsworths aus Lincolnshire, Shropshire und Kent sowie die beiden Schwestern von Lady Grantham aus Lancashire und Durham. Der heutige Tag brachte weitere Ströme von Freunden, Verwandten und Bekannten, die über ein pied-à-terre in London verfügten und die Nacht nach der Verlobungsgesellschaft dort verbringen würden, wie die Basildons aus Berkshire, in deren Familie Roystons Schwester Lydia eingeheiratet hatte, und die zu seiner anderen Schwester Blanche gehörigen Osbournes aus Yorkshire. Und bevor all die Lords und Ladys, die sich mit Teetasse und Champagnerglas in der Hand im Garten versammelten, das junge Paar gänzlich vereinnahmen konnten, stahlen sich Royston und Cecily mit ihren aus Surrey eingetroffenen Freunden zu einem Rundgang durch das geschichtsträchtige Haus davon. Nur Tommy fehlte; er hatte noch nicht herausgefunden, wie er sich dem fortwährenden Kopftätscheln seiner Tanten entwinden, den entzückt girrenden Ausrufen wie »Nein, was bist du doch grooooß geworden!« entgehen konnte, ohne als ungezogen zu gelten.
»Wenn die hochverehrten Ladys und Gentlemen mir bitte folgen wollen!« Royston machte eine einladende Geste die Treppe hinauf. Hinter ihm gingen Grace, von Cecily in Beschlag genommen, und Leonard. Ada und Simon, sich dessen bewusst, ganz unter sich und den Freunden zu sein, hielten sich wie selbstverständlich an der Hand, und Becky, mit großen Augen und mit offenem Mund staunend, stieg neben Stephen die Stufen hinauf; in einigen Schritt Abstand folgte schließlich Jeremy.
»Früher einmal war hier viel Blattgold verarbeitet«, erklärte Royston und fuhr mit der Hand über das Geländer aus kaffeedunklem Holz. In verschwenderischem Schnitzwerk rahmten florale Ornamente Streitrösser und Rittergestalten, Kanonen, Wappenschilde und Schwerter ein, und kunstvoll ausgearbeitete Obstkörbe krönten die Pfosten am Ende jedes Treppenabsatzes. »Das hat aber über die Jahrhunderte sehr gelitten, und weil mein Vater es im Gesamtbild zu überladen gefunden hätte, ließ er die verbliebenen Reste entfernen, anstatt sie zu erneuern.«
Gemälde unterschiedlicher Stilrichtungen, Mobiliar von jakobinisch bis georgianisch, Deckenmalereien und Tapisserien, Leuchter aus Silber und Messing und Bronze, Wandbespannungen aus Damast und Seide und sogar aus gemustertem und geprägtem Leder – es sprach für das Verhältnis der Ashcombes zu diesem Haus, dass sie es bislang nicht in einem moderneren Stil umgestaltet hatten. Roystons Liebe zu diesem Haus, sein Stolz auf dessen Vergangenheit spiegelten sich nicht nur in seinem warmen Blick wider und in der Art, wie er sich durch die Räumlichkeiten bewegte, wie er Holz und Stein berührte; seine Empfindungen für dieses Bauwerk schlugen sich auch in einem tiefen Vibrieren seiner Stimme nieder.
»Der ist von Asprey«, flüsterte Cecily Grace zu und betrachtete verliebt den Ring an ihrer linken Hand, den ganzen Tag schon Gegenstand allgemeiner Bewunderung. Ein Dutzend kleiner Diamanten versprühte bei jeder von Cecilys Bewegungen regenbogenfarbene Funken und umschloss einen daumennagelgroßen Opal, der wie für Cecily gemacht schien: Je nach Lichteinfall schimmerte seine gesprenkelte Oberfläche in den Farben der zukünftigen Viscountess Amory auf – in dem kühlen Gold ihres Haares, in einem Blau, das mit der Strahlkraft von Cecilys Augen wetteiferte, und in dem zarten Ton ihrer rosigen Wangen. »Eine Rarität!«
Vom Treppenhaus traten sie auf einem filigran gemusterten Parkettboden in einen scheinbar endlosen Korridor. Royston ging mit ausgebreiteten Armen rückwärts, lenkte damit das Augenmerk der anderen auf die goldgerahmten Porträts, die sich auf der warm schimmernden Holztäfelung der Wände aneinanderreihten. »Das hier ist die große Galerie.« Seine Stimme hallte von den Wänden und der hohen Decke wider. »Hier könnt ihr einer ganzen Reihe meiner Vorfahren in die Augen sehen, angefangen bei Edward Charles Ashcombe, dem ersten Earl, und seiner Gemahlin Philippa Lydia, die uns unser blaues Blut vermachte. Von dem allerdings mittlerweile kaum mehr als ein Tröpfchen übrig geblieben sein dürfte. Roddies und meines zumindest ist von absolut ordinärem Rot, wie wir uns in sehr – sehr! – jungen Jahren mithilfe eines Taschenmessers selbst überzeugten.« Seine Bemerkung rief leises Gelächter hervor. »An dieser Stelle unserer Führung durch das Haus hätte ich euch zu gerne die blutbefleckte Halskrause präsentiert, die Thomas More bei seiner Hinrichtung getragen haben soll. Oder aber den zu einem Granatapfel geschliffenen Diamanten aus der Schatulle von Maria Stuart. Doch leider«, er hob bedauernd die Schultern und zog ein unglückliches Gesicht, »leider sehe ich mich außerstande dazu. Beides gilt seit etwa einhundert Jahren als verschollen. Einstweilen muss ich euch bitten, hiermit vorliebzunehmen.« Er öffnete eine der massiven Türen und winkte die anderen hindurch. »Et voilà – das für seine Pracht berühmte gelbe Schlafzimmer von Estreham House!«
Ein vielstimmiges Raunen war zu hören, als sie den großen Raum betraten.
Auf den vanillegelben Seidentapeten zeigten Wandbehänge in aufwändiger Stickerei Szenen von der Schifferei auf der Themse, von der Jagd, der Aussaat und der Ernte, und ihre Gewürzfarben wiederholten sich in den von Watteau gemalten Schäferstücken und Gartenfesten und im Muster der Teppiche. Weiß war die Stuckdecke, golden die Leisten und die Pilaster entlang den Wänden, und um den schneehellen Marmorkamin tummelten sich wohlgenährte Putten. An das Gelb der Schlüsselblumen im Frühling erinnerten die Polster der Sessel, und blassgelb wie edle Teerosen war der Satin des riesigen Himmelbetts, das Prunkstück des Raumes.
»Ich hätte einem von euch natürlich zu gern angeboten, hier zu nächtigen«, verkündete Royston, als sich die erste Bewunderung gelegt hatte, »anstatt euch in den spartanischen Gästezimmern unterzubringen.« Die spöttischen Haha-Rufe quittierte Royston mit einem Grinsen. »Ich fürchte allerdings, ihr hättet mir diese freundliche Geste am Ende womöglich übel genommen! Schließlich ist es nicht nach jedermanns Geschmack, mitten in der Nacht von einem schlecht gelaunten Geist aus dem Schlaf gerissen zu werden.«
Ada sah ihn zweifelnd an. »Du willst uns doch nicht erzählen, dass bei euch ein Gespenst sein Unwesen treibt?«
»Eines?« Roystons Brauen hoben sich. »Meine liebe Ads ... Vermitteln wir Ashcombes etwa den Eindruck, als könnten wir uns nur ein einziges Spukgespenst leisten? Neben der erwähnten Dame in Schwarz haben wir eine weitere Dame in weißem Gewand vorzuweisen, die in Vollmondnächten ihren Hund im Garten ausführt – und das buchstäblich kopflos. Und dort drüben ...« Sie folgten ihm zum Fenster, wo er über den von Gästen belebten Rasen hinweg auf den Rand eines Wäldchens aus Kastanien und Walnussbäumen deutete. »Die beiden Schornsteine, die gerade noch aus den Baumwipfeln herausschauen – das ist das ehemalige Gärtnerhaus. Schauplatz einer tragischen Liebesgeschichte, die mit einem Mord und einem Selbstmord endete!«
»Wo?« Ada stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte angestrengt hinaus. »Ich seh nichts!«
»Simon – mit deiner Erlaubnis ...« Royston trat hinter Ada, umfasste mit beiden Händen ihre Taille und hob sie hoch, als wöge sie nicht mehr als ein Federbett, dass sie aufquiekte, mit den Füßen zappelte und sich auf seinen Unterarmen abstützte. »Siehst du’s jetzt? Ein graues Schindeldach?«
»Ja«, rief Ada, halb erstickt vor Lachen. »Ja, jetzt seh ich’s!«
»Gar schauerlich, schauerlich soll es dort des Nachts spuken, uaaahhhh«, raunte Royston ihr mit Grabesstimme zu. Ada kicherte, und behutsam setzte er sie wieder ab. »Weshalb das Haus auch seit Jahrzehnten nur noch als Rumpelkammer genutzt wird. – Weiter geht’s, die Ladys und Gentlemen! Ich muss euch ja schließlich glaubhaft machen, dass Sis in passable Verhältnisse einheiratet ...«
Hinter Ada verklangen die Schritte und Stimmen der anderen, während sie weiter unverwandt aus dem Fenster starrte und nachdenklich auf ihrer Unterlippe knabberte.
»Ada.«
Sie wandte sich um, und ein Leuchten glitt über ihr Gesicht. Simon nahm ihre Hand und zog sie vom Fenster fort; im Schutz eines der Vorhänge aus maisgelber Bouretteseide küssten sie sich, bis sie nach Atem rangen, und Hand in Hand liefen sie los, um zu den anderen aufzuschließen.
Es war eine heiße Nacht auf Estreham House. Nach dem fürstlichen Dinner und den feierlichen Reden zu Ehren des Verlobungspaares drängten sich die Gäste im Ballsaal des Hauses. Den Tag über hatte sich die dampfige Luft am Flussufer weiter aufgeheizt, und unter der funkelnd besetzten tintenschwarzen Himmelsseide regte sich kein Lüftchen. Selbst der Fluss schien ermattet ins Stocken geraten.
Der überschäumenden Feierlaune vor allem der Jüngeren unter den Gästen tat dies jedoch keinen Abbruch. In ihrem Feststaat drehten sie sich zu den Melodien des Orchesters wie die schillernden Glassteine in einem Kaleidoskop.
»Ich weiß wahrhaftig nicht, was er an ihr findet«, sagte Helen Dunmore abfällig und fächelte sich das glühende Gesicht. »Ich hätte ihm einen besseren Geschmack zugetraut.«
»Wem denn?« Der Honourable Roderick Ashcombe sah sich um.
»Dort drüben.« Miss Dunmores japanischer, mit Kirschblütenzweigen bemalter Fächer wies ihm die Richtung. »Simon. Digby. Jones.«
Er blickte hinüber zu Simon und zu Ada in ihrem blassrosa Seidenkleid. Dem sehnsüchtigen Ausdruck auf ihrem Gesicht nach zu urteilen, war es ihr eine Qual, heute Abend nicht mittanzen zu dürfen.
»Mir ist ohnehin unbegreiflich, was alle an diesen Norbury-Mädchen finden«, mokierte sich Miss Dunmore weiter. »Solche Landpomeranzen! In der Londoner Gesellschaft würde kein Hahn nach ihnen krähen.«
Rodericks Blick fiel auf Grace, die gerade von seinem Schwager Henry von der Tanzfläche zurück an ihren Platz geführt wurde. Erhitzt von den schnellen Schritten und Drehungen, ging von ihr ein solches Leuchten aus, dass es sogar noch die funkelnde Stickerei ihrer Abendrobe überstrahlte.
»Och«, gab Roderick bewundernd von sich und wand sich gleich darauf vor Verlegenheit unter Helen Dunmores Blick, der ihm zu verstehen gab, wie sehr sie ihn für einen Verräter hielt.
»Ich fürchte, ich werde allmählich zu alt für diese Art von Vergnügungen.« Henry Basildon, der Earl of Basildon, schnitt eine Grimasse, die seinem geröteten Gesicht ungeachtet seines grau melierten Haares und des seriösen Backenbarts etwas Lausbübisches verlieh.
Grace lachte. »Davon habe ich nicht das Geringste bemerkt, Lord Basildon.«
»Das mag geschmeichelt sein, aber es bedeutet dennoch Balsam für meine Seele«, erwiderte er erheitert und verneigte sich vor Grace, die mit einem angedeuteten Knicks antwortete.
»Du denkst doch nicht etwa daran, dich auszuruhen?« Roystons Schwester Lydia, mit knapp dreißig gut fünfzehn Jahre jünger als der Earl, hakte sich bei ihrem Gatten unter, der sich verstohlen mit dem Taschentuch über die schweißfeuchte Stirn tupfte.
Roystons ältere Schwestern hatten zwar die grauen Augen, die alabasterhelle Haut und die klassischen Züge ihrer Mutter geerbt, doch mit dem braunen Haar der Ashcombes auch deren Warmherzigkeit und Humor, was sie zu einer ähnlich angenehmen Gesellschaft machte wie Royston.
»Wehe mir!«, stöhnte Lord Basildon und schien dennoch keineswegs unglücklich, mit seiner Gattin auf die Tanzfläche zurückzukehren.
Grace wandte sich halb um, als jemand sie am Arm fasste.
»Rette mich, Grace – oder gib mir wenigstens Deckung!«, flüsterte Leonard ihr zu und verdrehte die Augen.
»Vor wem?« Ihr Blick folgte dem seinen und fiel auf zwei junge Mädchen, kaum älter als Ada, die Leonard aus riesigen wasserblauen Augen anstarrten.
Grace biss sich auf die Unterlippe, um nicht loszulachen. »Ich gebe dir gerne Geleitschutz«, flüsterte sie ihm zu. »Solange du mich nicht zum Tanzen entführen willst.« Ihr cognacbraunes und grünes Kleid mit den Ornamenten aus Metallfäden, dasselbe, das sie im Mai auf Givons Grove zum ersten Mal getragen hatte, klebte ihr unangenehm am Rücken.
»Magst du lieber an die frische Luft?«
Grace nickte, und er zog sie mit sich fort, an den beiden Mädchen vorbei, deren Gesichter sich daraufhin enttäuscht in die Länge zogen. Leonard und Grace drückten sich zwischen den Gästen hindurch, auf die weit geöffneten Flügeltüren zu und nahmen sich noch zwei Gläser Champagner vom Tablett eines der livrierten Diener.
Kaum hatten sie die Schwelle zur Terrasse überschritten, prustete Grace los. »Was war das denn bitte?«
»Das?« Leonard trank einen großen Schluck und deutete dann mit seinem Glas hinter sich. »Das waren Myrtle und Myra, die heillos überspannten Cousinen von Royston!«
Grace stellte ihr Glas auf der Brüstung der Terrasse ab und schwang sich selbst hinauf, bevor sie ihr Glas wieder in die eine Hand nahm und sich mit dem Fächer in der anderen Luft zuwedelte. »Gewöhn dich schon mal dran, dass sie bald zu deiner Verwandtschaft gehören!«
»Diese Vorstellung macht dir natürlich Spaß, was?« Leonard grinste und trat vor sie hin.
»Mhhh«, machte Grace und verzog das Gesicht zu einer übertrieben grüblerischen Miene. »Ja«, sagte sie schließlich nickend, »ja, das tut es!«
Ihr einstimmiges Lachen ebbte ab, ohne dass einer von beiden wieder das Wort ergriff. Ein eigentümliches, beklommenes Schweigen baute sich zwischen ihnen auf. Grace nippte an ihrem Glas, ließ die Beine baumeln und schaute in den von den Schattenrissen umherflanierender Paare belebten Garten hinab.
Schließlich hielt sie es nicht länger aus, sie musste ihrem Herzen Luft machen. »Len ... Zwischen uns ist doch alles gut, oder nicht?«
Er sah sie über den Rand seines Glases hinweg an, trank einen Schluck und wandte dann die Augen ab. »Sicher. Warum fragst du?«
»Ich ...« Sie atmete tief durch und schwenkte den Champagner im Glas. »Ich hatte in den letzten Wochen den Eindruck, du gehst mir aus dem Weg.«
Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Du warst ja auch anderweitig in Anspruch genommen ...«
Grace’ Wangen wurden noch heißer, als sie es ohnehin schon waren. Es wäre töricht gewesen, anzunehmen, dass es Leonard hätte verborgen bleiben können, wie sie und Jeremy zueinander standen – ausgerechnet Leonard, der sie so gut kannte wie kaum jemand sonst. Und trotzdem war es ihr unangenehm, dass er sie so vollkommen durchschaut hatte. Leonard war in allem das Gegenteil von Jeremy, doch vor allem war Leonard ihr engster Freund, wie ein Bruder, wie ein zweites, ein männliches Selbst. Sie wollte nicht zwischen ihm und Jeremy wählen müssen.
»Unsere Freundschaft bedeutet mir sehr viel, Len«, flüsterte sie, ohne ihn anzusehen.
»Mir auch, Grace. Und von meiner Seite aus wird sich daran niemals etwas ändern.«
»Von meiner Seite aus auch nicht.« Sie hob das Gesicht zu ihm an und lächelte, ein Lächeln, dessen Erwiderung er ihr schuldig blieb.
Stattdessen runzelte er die Stirn und sagte mit einem für ihn ungewohnten Ernst: »Grace, ich will mich nicht einmischen, aber ...« Er verstummte und schien seine Worte noch einmal neu zu überdenken. »Wie gut kennst du Jeremy wirklich? Hast du dich das schon einmal gefragt?«
Grace zuckte zusammen. Leonard hatte den Finger in eine offene Wunde gelegt. Sie hatte durchaus noch oft an Mrs Danvers gedacht und daran, dass Jeremy nie von ihr erzählt hatte. Es gibt so einiges, das du über mich nicht weißt, Grace.
»Gibt es denn etwas, das ich deiner Meinung nach wissen sollte?«
Leonard trat noch näher zu ihr hin und sah ihr in die Augen. »Du solltest wissen, dass ich immer für dich da sein werde, wenn du mich brauchst. Ganz gleich, was auch geschehen mag.«
Grace fühlte sich unbehaglich, und sie bog unwillkürlich den Kopf zurück. »Du hast meine Frage nicht beantwortet!«
Leonard lachte. »Ach was, mit Jeremy wird schon alles stimmen! Sieh’s mir nach, wenn ich mich aufführe wie ein überfürsorglicher großer Bruder! Muss wohl daran liegen, dass ich mein Schwesterchen bald verheiratet weiß.« Er stellte sein Glas auf der Brüstung ab und streckte Grace beide Hände hin. »Komm, genug ausgeruht – lass uns tanzen. Die Nacht ist schließlich noch jung!«
Grace stellte ihr Glas neben seines, klappte ihren Fächer zu und ließ ihn an seinem Band vom Handgelenk baumeln, verharrte aber auf der Balustrade, die Hände unter die Oberschenkel geschoben und den Kopf in nachdenklicher Haltung gesenkt.
»Grace.« Leonard nahm ihr Gesicht in seine Hände. »Gracie. Ich will keinen Keil zwischen dich und Jeremy treiben. Er ist mein Freund. Ihr seid beide meine Freunde. Ich will ...« Seine Stimme wurde leiser, geradezu zärtlich. »Ich will einfach nur, dass du glücklich bist.«
Grace sah ihm fest in die Augen, und ebenso fest klang es, als sie erwiderte: »Das bin ich, Len.«
Ihre Stimmen, ihre Schritte auf den Steinplatten entfernten sich und wurden gleich darauf verschluckt von der Musik, die aus dem Ballsaal herausdrang. Unterhalb der Terrasse kam Bewegung in zwei bislang reglose Silhouetten.
»Scheint so, als wären wir dazu verdammt, unfreiwillige Lauscher zu sein«, seufzte Stephen und nestelte sein Zigarettenetui hervor.
»Scheint so«, stimmte Jeremy zu.
»Sollte uns zu denken geben«, murmelte Stephen, die Zigarette zwischen den Lippen, und gab erst Jeremy Feuer, dann sich selbst.
Jeremy sog den Rauch ein und blies ihn dann aus. »Bleibt wohl nicht aus, wenn man sich in dunklen Ecken herumdrückt wie wir zwei.« Er kratzte sich mit dem Daumennagel einen Tabakkrümel von der Unterlippe. »Du solltest dich allerdings endlich entscheiden, ob du Becky nun willst oder nicht. Anstatt einen Schritt auf sie zuzugehen und dann wieder davonzulaufen.«
»Wenn das nur so einfach wäre«, murmelte Stephen, winkelte ein Bein an und stützte sich mit dem Fuß an der Terrassenwand ab. Seine zaghaften Versuche, sich Becky ein wenig anzunähern, um Klarheit zu erlangen, was er wirklich für sie empfand, wurden von ihr mit einer solchen Überschwänglichkeit erwidert, dass er in ihrer Gegenwart nach Luft zu ringen begann. Doch sobald er eine Weile allein war, fehlte ihm Becky mit ihrem fröhlichen Geplapper, ihrem sprudelnden Gelächter und ihren seelenvollen Blicken.
Stephen legte den Kopf zurück und lehnte ihn an die Balustrade. »Hast du immer genau gewusst, was du willst?«
Jeremy blieb für einige Züge lang stumm. »Ja«, sagte er dann. »Immer.« Er stieß den Rauch heftig aus. »Nicht immer sofort, das nicht. Aber nach einiger Zeit schon.«
Stephen heftete den Blick auf seinen Freund. »Auch bei Grace?«
»Ja. Auch bei Grace.« Etwas Behutsames, fast schon Zerbrechliches schwang in Jeremys Stimme mit, und es kam Stephen so vor, als wäre Jeremy auf eine ganz neue Weise mit sich im Reinen.
Schweigend rauchten sie ihre Zigarette zu Ende und traten sie auf dem Kies aus.
»Jeremy«, sagte Stephen dann, die Hände in den Hosentaschen vergraben. »Versteh mich nicht falsch ... Aber hat Len recht? Gibt es etwas, das Grace über dich wissen sollte?«
Jeremys Schultern hoben sich in seiner Frackjacke. »Da gibt es bestimmt das eine oder andere ... Falls es dich jedoch beruhigt: Ich habe Grace gegenüber ein reines Gewissen. Genügt dir das als Antwort?«
Im Grunde kannte Stephen Jeremy nicht besonders gut, nicht so gut wie Royston oder wie Leonard. Trotzdem kam es ihm so vor, als bestünde zwischen ihm und Jeremy ein besonderes Band. Wenn er es recht bedachte, wäre ihm Jeremy als Schwager sogar lieber gewesen als Leonard.
»Ja, das genügt mir«, erwiderte er schließlich.
»Würdest du mir Grace dann morgen für ein paar Stunden anvertrauen? Unter vier Augen?«
»Natürlich«, kam Stephens Antwort ohne Zögern, und trotzdem fasste er nach. »Verrätst du mir, was du vorhast?«
Jeremy atmete tief durch und sah in die Nacht hinaus. »Nichts Unehrenhaftes, das kann ich dir versprechen.« Leiser fügte er hinzu: »Und das einzig Richtige. Hoffe ich.«