39
Staubig grau stand das Dämmerlicht im Zimmer hinter den geschlossenen Fensterläden. Die sonnengrelle Hitze des Nachmittags blieb ausgesperrt, und dennoch war die Luft stickig, legte sich dampfig auf die Haut und zog klebrig in die Lungen. Grace hatte sich auf dem niedrigen, wackeligen Bett ausgestreckt und wischte sich mit dem Unterarm über die schweißnasse Stirn. Laken und Kissen waren zwar sauber, doch sie rochen trotzdem muffig, so, als hätten sie zu lange in einer Kiste gelegen. Ihre Augen wanderten über die unebene Decke, die nackten Wände, den Stuhl und den Tisch aus rohem Holz mit dem angeschlagenen Krug und der Schüssel darauf. Das Badezimmer befand sich draußen auf dem Gang und war ebenfalls äußerst einfach gehalten. Doch Grace beklagte sich nicht. Sie wollten weitab von anderen Reisenden aus Europa wohnen, und sie wollten vor allem billig leben; schließlich würden sie geraume Zeit mit ihrer Barschaft auskommen und sich auf das Nötigste beschränken müssen.
Von draußen drangen Stimmen herauf, ein fortwährendes Wallen und Brausen und Summen, durchsetzt von einzelnen schallenden Rufen, von Gelächter. Sie stand auf und tapste auf nackten Füßen zum Fenster, öffnete die hölzernen Läden einen Spalt und spähte auf die Gasse hinunter.
Menschen schoben sich hindurch, bronzehäutige Männer in langen weißen, mattblauen und erdfarbenen Gewändern, manchmal mit einer formlosen schlammbraunen Jacke darüber und mit Pantoffeln an den Füßen oder barfuß. Auf dem kurz geschorenen Haar trugen sie einen Fez, ein kleines Käppchen oder eine Art Mütze, die an einen zu kleinen Turban erinnerte. Einige schleppten Säcke oder zogen einen Karren mit aufgetürmten Kohlköpfen hinter sich her; andere standen einfach nur da wie die Männer vor dem kleinen Geschäft gegenüber. Unter dem Erker aus Holz mit seinem geschnitzten engmaschigen Gitter waren hölzerne Läden vor einfachen Öffnungen in der abbröckelnden Hauswand zurückgeklappt, und auf wackelig aussehenden Brettergestellen standen flache Körbe mit Linsen und Bohnen und Tontöpfe mit gewölbtem Deckel; dahinter waren Säcke und Kisten gestapelt. Es war kaum auszumachen, wer dort Lebensmittel verkaufte, wer Kunde war und wer einfach nur Zuschauer. Nur wenige Frauen waren zu sehen, und diese hatten alle ihr Haupt verhüllt, manche bis zur Nasenspitze, und Kinder sprangen in lockeren Gewändern umher, die aussahen wie Nachthemdchen. Eines dieser Kinder lief geradewegs in den gewaltigen Bauch einer dicken Frau hinein, die ein Tablett mit aufgeblähten Brotfladen geschultert hatte, und erntete dafür eine kräftige Backpfeife und einen Schwall Schimpfworte, bevor die Frau sich wieder in Bewegung setzte. In ihrem watschelnden Gang, schwankend wie eine Galeone auf hoher See, hielt sie auf das Ende der Gasse zu, an dem ein in verblichenem Ziegelrot und Ockergelb quer gestreifter Turm aufragte. Und über allem wogten die geschmeidigen, kehligen Laute des Arabischen, die sich auf angenehme Weise in Grace’ Gehör schraubten.
Cairo. Ich bin in Cairo. Allein der Name ließ ihr das Herz groß und weit werden.
Dabei hatte sie kaum etwas von der Stadt gesehen, seit sie mit dem Zug aus Alexandria hier eingetroffen waren, kaum mehr als flüchtige Bilder von einer umtriebigen, lärmenden, fremdartigen Stadt in den Farben von Staub und Sand unterhalb der auf einem Bergrücken thronenden Zitadelle, eine trutzige Festung, hinter deren Mauern die schlanken Minarette in den emailleblauen Himmel stachen und die Kuppeln einer Moschee aufglänzten. Ein Wagen hatte sie hierhergebracht, und das letzte Stück waren sie zu Fuß gegangen. Seither bestand Grace’ ganze Welt aus diesem Hotelzimmer und aus den Gassen in der Umgebung, in denen sie mit Leonard gewesen war, um ein paar Kleinigkeiten einzukaufen oder um etwas zu essen. Seit Tagen schon; Grace hatte aufgehört, sie zu zählen. Die Tage, die sie untätig hier, in diesem Zimmer, verbrachte, während Leonard sich nach einem dragoman, einem einheimischen Reiseführer, erkundigte, der sie in den Sudan bringen sollte. Bislang vergeblich; niemand schien freiwillig in den Sudan reisen zu wollen, noch nicht einmal gegen Geld.
Tage, die verlorene Zeit waren und die an Grace’ Nerven zerrten, und doch war ihr nicht danach, sich mehr von der Stadt anzusehen, vielleicht die Pyramiden, die Kaserne von Qasr el-Nil, die Insel von Gazirah, all die Orte, an denen Jeremy gewesen war, obwohl Leonard es ihr mehrmals vorgeschlagen hatte. Sie wollte sich kein noch so kleines Vergnügen gönnen auf dieser Reise, die keine Vergnügungsreise war und von der kaum jemand wusste. Nur Becky und Ada.
Das kannst du nicht machen!, hatte sie die Stimme ihrer Schwester noch im Ohr, und sie sah sie vor sich, wie sie entsetzt die Augen aufriss. Du kannst mich hier nicht allein lassen! Ein ungeheurer, unvermuteter Zorn war aus Ada, der kleinen, sanften, vor Trauer kranken Ada, hervorgebrochen. Du, du, du – immer geht es nur um dich! Solange ich denken kann, dreht sich immer alles nur um dich! Grace, die schöne Grace, der alles in den Schoß fällt, der immer alles gelingt, die jeder bewundert und liebt!
Vielleicht war es das Blut gewesen, das in Grace’ und Adas Adern floss, das an diesem einen Tag Ende August übergekocht war, nach all den Jahren, in denen die Mädchen in zärtlicher Liebe aneinander hingen und sich kaum je gezankt hatten. Dieses Blut, das halb englisch war, einen Captain zur See und über mehrere Generationen hinweg Männer der Armee hervorgebracht hatte, und halb irisch und leicht in Wallung geriet. All die Jahre hatte dieses im Grunde hitzige Blut friedlich in ihnen geschlummert, durch ihr Geschlecht im Zaum gehalten, besänftigt durch die kleine beschauliche Welt von Shamley Green, die von Wärme und Zärtlichkeit durchdrungen gewesen war und die es so nicht mehr gab.
Das ist doch gar nicht wahr!, hatte Grace, selbst von hoch aufschießendem Zorn gepackt, zurückgeschrien. Um dich hat sich doch immer alles gedreht! Grace, sei bitte leise, Ada hat doch so einen leichten Schlaf! Nicht, Grace, Ada hat Husten! Ada hat Ohrenschmerzen! Nicht so wild, Grace, deine kleine Schwester bekommt Angst!
Ich hasse dich!, hatte Ada daraufhin gebrüllt. Ich hasse dich! Krachend war die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen. Am nächsten Tag war Grace dann fortgegangen.
Grace biss sich auf die Lippen und zwang die Tränen hinunter, die sie hinter ihren Augen brennen fühlte. Im nächsten Augenblick machte ihr Herz einen Sprung, als sie Leonard die Gasse heraufkommen sah, barhäuptig, sein blondes Haar glänzend und sein Sakko lässig über der Schulter. Lächelnd nickte er hierhin und dorthin; nicht weil er jemanden kannte, sondern weil das die Art war, wie er durchs Leben ging. Er verschwand unter dem Fenster, und wenig später konnte sie ihn die Treppe heraufkommen hören, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Es klopfte, und auf ihren Ruf hin steckte er den Kopf zur Tür herein. »Hallo, Grace!« Anerkennend pfiff er durch die Zähne und grinste breit, als er eintrat und die Tür hinter sich schloss. »Steht dir gut!«
Grace sah an sich hinab, auf Leonards Hemd und die Hosen von ihm, deren Gürtel sie eng um ihre schlanke Taille gezurrt und deren Beine sie bis zu den Knöcheln hochgekrempelt hatte. »Du hattest recht – ist eindeutig bequemer und sicher auch angemessener für das, was wir vorhaben!«
Ihr Blick fiel auf ihre Reitstiefel in der Ecke und auf ihre Reisetasche daneben, aus der eine Wolke aus Rüschen hervorquoll. Die Reisetasche, die Becky geschickt durch einen Nebeneingang in den Hof hinaus und in den dort wartenden Wagen schmuggeln konnte, während Leonard in der Eingangshalle ein paar scherzhafte Worte mit Lady Norbury wechselte, ganz so, als holte er Grace tatsächlich nur zu einer Spazierfahrt ab. Nur mit leichtem Gepäck war Grace aufgebrochen, hatte nur so viel eingepackt, um während der Überfahrt von England nach Alexandria das Bild einer wohlerzogenen jungen Lady wahren zu können und keine allzu große Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Alles andere, woran ihr Herz hing, Jeremys Briefe, ihren Baudelaire, seinen Rimbaud, hatte sie zu Hause lassen müssen, und die Reisetasche mit fast allem, was darin war, würde später hierbleiben; in den Sudan würde sie nichts davon mitnehmen können.
Lächelnd trat Leonard zu ihr, warf das Sakko über die Stuhllehne. »Ich hab immer recht!« Er nahm ihre Linke und hielt sie hoch. »Der steht dir auch gut!« Ein schmaler Ring aus Gold mit einem kleinen blauen Stein zierte ihren Ringfinger; Leonard hatte ihn ihr unter allerhand Witzeleien angesteckt, um ihnen beiden den Anschein eines jungvermählten Paares auf Abenteuerreise zu geben.
»Grace«, sagte er leise, »was ist? Du siehst so traurig aus.«
»Mir geht der Streit mit Ads nicht aus dem Kopf«, erwiderte sie im Flüsterton.
»Ach was«, winkte er ab und legte den Arm um sie. »Bis wir wieder zu Hause sind, ist das längst vergessen!« Er sah sie erwartungsvoll von der Seite an. »Muntert es dich auf, dass ich vielleicht jemanden gefunden habe, der uns in den Sudan bringen könnte?«
Sie liefen durch die schwach beleuchtete, nächtliche Gasse, die kaum weniger belebt war als am Tag, und bogen in eine weitere Gasse ein, vorbei an noch immer geöffneten Lädchen, in nachlässiger Manier eingerichtet und ausgestattet, vor denen lachend und in schnellem Zungenschlag schwatzende Männergrüppchen standen, die ihnen neugierige Blicke zuwarfen. Grace war froh, dass sie sich das lockere Gewand übergeworfen hatte, das sie vor ein paar Tagen an einem Büdchen um die Ecke erstanden hatte und das ihre Gestalt formlos machte, und dass ein ebenfalls dort erworbener brauner Schal ihr Haar bedeckte – ihr helles Haar, das hier in Cairo wesentlich mehr Aufsehen erregte als zu Hause in England.
»Weißt du etwas Näheres über diesen Mann?«, wollte Grace wissen, als sie in die nächste Gasse abbogen.
»Nur dass er Abbas heißt und wie er ungefähr aussieht. Angeblich kennt er den Norden des Sudan wie seine Westentasche«, erwiderte Leonard, während er den Blick aufmerksam umherschweifen ließ und Grace fest an der Hand hielt. »Es hörte sich so an, als wenn ihn regelmäßig ziemlich krumme Geschäfte dort hinunterführen würden. Der Rest ging allerdings in einem Wirrwarr aus Englisch, Französisch und Arabisch verloren. Oh – und er spricht wohl sehr gut Englisch. Ich verspüre nämlich wenig Neigung, eine solche Reise zu unternehmen, wenn wir dabei auf meine dürftigen Arabischkenntnisse und auf wildes Gestikulieren angewiesen sind. – Hier muss es sein.«
Laternenschimmer erfüllte einen Raum hinter zwei großen viereckigen, bis zum Boden hinabreichenden Öffnungen in der Hauswand, über denen aufgemalte arabische Schriftzeichen prangten. Lebhaft diskutierende Männer saßen auf Hockern an kleinen Holztischen vor metallenen Kännchen mit langem Schnabel, aus denen sie immer wieder ihre Kaffeetässchen füllten. Bläulich waberte der Tabakrauch über ihren Köpfen, bis auf die Gasse hinaus, auf die man weitere Tische und Hocker gestellt hatte. Ein Mann in einem weißen Gewand, den breiten stiernackigen Rücken ihnen zugekehrt, saß allein am letzten Tisch in der Gasse, ein ebenfalls weißes, eng anliegendes Käppchen auf dem kahl rasierten Kopf.
Leonard zog Grace in einem Bogen um den Tisch herum und trat von der Seite zu dem Mann hin. »As-salamu alaikum«, sprach er ihn an und wechselte dann ins Englische. »Bist du Abbas?«
Der Mann sah nicht auf, sondern griff mit seiner bärengleichen Pranke zu dem weißen Tässchen mit den farbigen geometrischen Mustern und schlürfte geräuschvoll seinen Mokka. Langsam stellte er die Tasse wieder ab.
»Wer will das wissen?«, kam es in einem grollenden Bass von ihm. Sein Englisch war tatsächlich hervorragend, wenn auch mit einem kehligen, harten Akzent.
Leonard bedeutete Grace, sie solle sich auf einen der freien Hocker an den Tisch setzen, und ließ sich selbst gegenüber nieder, zog sein Zigarettenetui aus der Tasche seines Sakkos, ließ es aufschnappen und legte es mitten auf den Tisch. Er nahm sich selbst eine und wartete, bis der Mann sich ebenfalls bedient hatte, gab ihnen beiden Feuer und schlug die Beine übereinander. »Wir wollen in den Sudan«, sagte er leise und blies den Rauch aus. »Kannst du uns hinbringen?«
Grace musterte den Mann, der offenbar tatsächlich Abbas war, während er mit weiterhin gesenktem Blick an seiner Zigarette zog. Ein wuchtiger Schädel steckte auf einem scheinbar halslosen Torso mit breiten Schultern. Seine Hautfarbe war im Laternenlicht nicht näher zu bestimmen, irgendwo zwischen Schwarz und Braun, und obwohl das breite, bartlose Gesicht mit der kräftigen Nase und den vollen Lippen keine Anzeichen des Alters aufwies, schien es auch nicht mehr ganz jung zu sein; genauer ließ es sich nicht schätzen.
»Wohin im Sudan?«, wollte er wissen und nahm einen weiteren Zug von der Zigarette.
Leonard neigte sich vor. »Nach Omdurman«, flüsterte er.
Endlich hob Abbas die Augen an, die unter der stark hervortretenden Brauenpartie tief im Gesicht vergraben lagen und die aussahen wie schwarz glänzende Oliven. Erst musterte er Leonard, dann Grace. Während die Blicke der übrigen Männer im Kaffeehaus an ihr abprallten, war ihr der Blick, mit dem Abbas sie betrachtete, unangenehm. Verstohlen zog sie das Tuch tiefer ins Gesicht, und als sie eine Haarsträhne ertastete, die sich gelöst und unter dem Rand hervorgeschlängelt hatte, schob sie sie rasch zurück.
»Unmöglich.«
»Bitte«, entfuhr es Grace. »Es muss möglich sein!«
Abbas’ Blick wanderte zu Leonard, dann auf die Zigarette, die zwischen seinen Fingern nicht dicker wirkte als ein Streichholz. »Nach Omdurman kommt man als Weißer vielleicht. Aber niemals zurück.«
»Bitte«, wiederholte Grace und zog damit erneut Abbas’ Blick auf sich.
»Du erst recht nicht.« Grace zuckte vor seinem groben Tonfall zurück. »Dem Khalifa wärst du zu alt; er bricht seine Blumen lieber, solange sie noch Knospen sind. Aber jeder Sheikh dort unten würde ein Vermögen bezahlen, um eine Frau mit so hellem Haar zu besitzen. Und jeder Wegelagerer würde auf der Stelle zwanzig Männer töten, um eine wie dich verkaufen zu können.«
Abbas’ Warnung beeindruckte Grace nicht sonderlich; in ihren Ohren hatte sie zu sehr nach einer orientalisch anmutenden Räuberpistole oder nach einer Ausrede geklungen. »Ein ... ein ... Freund von uns ... Wir glauben, er ist als Gefangener in Omdurman. Bitte, Abbas, hilf uns, ihn zu finden und heimzubringen«, bat sie beharrlich.
Abbas jedoch hatte sich bereits wieder dem Kaffeetässchen zugewandt.
Leonard klemmte sich die Zigarette in den Mundwinkel, griff in seine Hosentasche und blätterte unter der Tischplatte ein Geldbündel durch, teilte es, und während er den Rest wieder in die Tasche zurücksteckte, legte er die Hand mit dem anderen Teil auf den Tisch. »Für den Anfang.«
Ungerührt widmete Abbas sich weiter Mokka und Zigarette. Bis er schließlich, ohne hinzusehen, mit dem Daumen unter Leonards Hand entlangstrich, den ausgerauchten Stummel auf die Gasse hinausschleuderte und aufstand. Er war groß, sehr groß, fast noch größer als Royston und mindestens ebenso kräftig. Im Weggehen zischte er ihnen zu: »Übermorgen. Sonnenaufgang. Hier.«
»Ich mag ihn nicht«, sagte Grace später am Abend, während sie in Hemd und Hosen im Schneidersitz auf ihrem Bett saß. Eine Laterne auf dem Tisch warf flackernde Lichtzungen und Schattengeister in das Zimmer und schuf eine halb behagliche, halb abenteuerliche Atmosphäre. Gedankenvoll biss sie in ein Stück Fladenbrot.
Leonard, der neben ihr saß, lachte. »Du magst ihn nur deshalb nicht, weil er sich von deinem bezaubernden Äußeren und von deinem weiblichen Charme unbeeindruckt gezeigt hat, aber meinem Charme nicht widerstehen konnte. Vor allem meinem Geld nicht.« Grace knuffte ihn gegen den Oberarm. »Du musst ihn auch nicht mögen, Grace. Er muss uns nur heil nach Omdurman und wieder zurück bringen.«
»Das ist es ja«, murmelte Grace und sah Leonard an. »Meinst du, wir können ihm trauen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben. Er ist der Einzige weit und breit, der dazu bereit ist.« Grace schüttelte den Kopf, als er die irdene Schale mit Huhn, Linsen und Gemüse, die sie auf dem Rückweg an einem Stand gekauft hatten, näher zu ihr hinschob. »Iss!«, befahl er ihr mit Nachdruck.
»Ich hab keinen Hunger.«
Leonard seufzte und reckte sich über die Bettkante, um die Schale auf dem Boden abzustellen. »Im Sudan wirst du noch dankbar sein um jeden Bissen, den du zwischen die Zähne bekommst.« Mit einer Flasche kam er wieder hoch, entkorkte sie und hielt sie Grace hin.
Misstrauisch beäugte sie die klare Flüssigkeit darin. »Was ist das?«
»Frag nicht so viel – trink!«
Grace nahm die Flasche, nippte daran und schnitt hustend eine Grimasse, als das scharfe, nach Anis schmeckende Getränk auf ihrer Zunge brannte und ihr heiß die Kehle hinabrann. »Das ist ja scheußlich!«
Leonard lachte. »Das ist Arak, das ist wie Medizin. Los, noch einen Schluck. Und noch einen! So ist’s brav.« Als Grace ihm die Flasche zurückgab, nahm er selbst einen tiefen Zug.
Der Arak wärmte Grace im Bauch, und sie lehnte sich zurück, stopfte sich ein Kissen in den Rücken. »Danke, Len«, flüsterte sie. »Dass du diese Reise mit mir machst.«
»Keine Ursache. Wir sind doch Freunde.« Leonard hielt ihr die Flasche erneut hin. Sie schüttelte den Kopf, nahm sie unter seinem auffordernden Nicken dann aber doch und trank, hustete nochmals mit einem kurzen Auflachen und gab sie ihm wieder. Er steckte den Korken wieder darauf und stellte sie auf den Boden, streckte sich neben Grace aus, stützte den Kopf in die Hand. »Bist du sicher, dass du das wirklich willst – bis in den Sudan hinunter?«
Sie sah ihn ernst an. »Ich muss«, kam es weich von ihr, so weich, wie sie sich fühlte mit dem Schnaps im Leib, der ihre Wangen glühen ließ. »Ich werde keine Ruhe finden, wenn ich es nicht wenigstens versucht habe.«
Er nickte. »Ja, das versteh ich. Trotzdem«, er tippte ihr auf die Schulter, »trotzdem solltest du vielleicht noch ein Lebenszeichen nach Hause schicken. Damit sie wissen, dass es dir gut geht. Und vielleicht, wo du gerade bist.«
Um Grace’ Brust schlang sich ein Band und zog sich fest zusammen. Nur von Becky hatte sie sich wirklich verabschieden können. Pass auf dich auf, Gracie, hörte sie sie noch flüstern, die Stimme dick von mühsam zurückgehaltenen Tränen. Komm gesund wieder! Ich sorg dafür, dass Ads nicht petzt, und ich verrat auch sonst niemandem was. Auch Stevie nicht. Ein paar Zeilen auf ihrem Schreibtisch waren alles, was sie zum Abschied hinterlassen hatte.
»Nein, Len«, erwiderte sie leise. »Ich will ihnen nicht unnötig Sorgen machen. Es muss reichen, dass sie wissen, du bist bei mir und gibst auf mich acht.«
»Das tu ich, Grace«, sagte er mit einer Stimme, die tief und zärtlich klang. »Dennoch ...« Seine Stirn zerfurchte sich. »Je länger ich wieder hier in Ägypten bin, desto stärker kommt die Erinnerung an den Krieg zurück. Und an Abu Klea. Ich wünschte, ich könnte dir etwas anderes sagen – aber viel Hoffnung kann ich dir nicht machen, dass wir Jeremy finden werden.«
»Ich weiß«, wisperte Grace, und unter ihren schweren Lidern rannen Tränen hervor. »Aber ich kann doch nicht so einfach aufgeben!« Bittend, beinahe flehend sah sie Leonard an. »Jeder sagt mir, ich müsse endlich verstehen und einsehen, dass er nicht mehr lebt, aber ich kann es einfach nicht!«
»Komm her«, murmelte er und zog sie in die Arme, und sie hielt sich an ihm fest, während er ihr tröstend über das Haar strich und dabei mit den Fingern die letzten, locker sitzenden Nadeln herauskämmte. Er streichelte ihre Schläfen, ihre Wangen, ihren Rücken, und irgendwann spürte Grace seinen Mund auf dem ihren.
Dieser Kuss hatte nichts von den spielerischen Küssen, die sie vor vielen Jahren ausgetauscht hatten, bevor Leonard für einige Zeit ins Ausland und Grace das erste Mal ans Bedford gegangen war. Küsse hinter einer Hecke oder in einem geschützten, dunklen Winkel außerhalb des Ballsaals, die jedes Mal in schallendem Gelächter und in Albereien geendet hatten. Ernsthafter war dieser Kuss, wie Leonard dabei ihre Lippen umschmeichelte, ihre Zunge umwarb, und doch sanft, so sanft für Grace, die sich schwer und weich und warm fühlte, während ihr Kopf ganz leicht war und wie leer gefegt. Sie gab einen kehligen Laut von sich, als sein Mund an ihrem Hals hinabglitt, sich in der Mulde unter ihrer Kehle vergrub und als sein Gesicht sich gegen die Wölbungen unter dem geliehenen Hemd drückte. Sein heißer Atem drang durch den dünnen Stoff ihres Trägerhemdchens darunter, bis auf ihre Haut. Wohlige Schauer überliefen Grace, während seine Hand an ihrem Rippenbogen, an ihrer Taille entlangstrich, über ihre Hüften, und sich zwischen ihre Beine schob, dort einen Hunger auslöste, der einer Gier gleichkam. Grace fühlte sich wie ein überreifer Pfirsich, bereit, gepflückt zu werden, bevor er verdarb. Sie wollte es so sehr, oh so sehr, geliebt werden, noch mehr von dieser Lust erleben, immer mehr. So schön war es, was Leonard mit seinen Händen und mit seinem Mund tat, vertraut und doch auf aufregende Weise fremd; so gut fühlte es sich an. Und so falsch.
Jeremy. Nicht, Len. Nein. Nein. Jeremy. Etwas schnappte in ihr zurück, peitschte sie hellwach, und jeder Muskel ihres Körpers spannte sich an. »Nein«, keuchte sie, »nicht! Hör auf! Hör auf!«
Sie strampelte und trat und schlug blind um sich, schrie auf, als Leonard sie bei den Handgelenken packte und festhielt. Es brauchte einige Herzschläge, bis seine Stimme zu ihr durchdrang. »Schhtt, Grace, ist doch gut! Ganz ruhig! Ist ja alles gut!« Bis sie begriff, dass er nichts erzwingen wollte und sie sich widerstandslos in seine Arme ziehen ließ.
»Es tut mir leid, es tut mir so leid«, schluchzte sie. »Ich bin so durcheinander! Ich weiß einfach nicht mehr, was ich glauben soll! Ich weiß nicht mehr, was richtig ist und was falsch!«
»Ist ja gut«, murmelte er und wiegte sie sanft. »Ist ja alles gut.« Behutsam schob er ihr Gesicht von seiner Brust, streichelte ihre Wange und sah sie an. »Ich wünsche mir mehr als alles auf der Welt, das eines Tages mit dir zu tun, Grace. Ich wünsche mir, dass dieser Ring hier«, er nahm zärtlich ihre linke Hand, »irgendwann einmal keine Komödie mehr sein wird, um andere irrezuführen, sondern dass er eines Tages echt ist. Du bist die eine für mich, Grace, das warst du immer. Aber ich werde warten, bis du es auch willst. Bis du bereit bist. Auch wenn es Jahre dauert.« Er wollte sie auf die Stirn küssen, ließ davon aber ab, als sie zurückzuckte. »Kann ich dich allein lassen?« Sie nickte, und er schob sich vom Bett herunter, stieg in seine Schuhe und griff nach seinem Jackett.
An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Ich werde dich nie zu etwas drängen, Grace, und nie etwas von dir einfordern. Ich werde einfach nur da sein und warten, bis du zu mir kommst. Gute Nacht.«
Stunde um Stunde lag Grace wach und starrte an die Decke des Hotelzimmers, grübelte und zweifelte und wog ab. Das Entsetzen darüber, was sie beinahe getan hätte, zog immer wieder durch sie hindurch, vor allem das Entsetzen darüber, wie groß die Verlockung gewesen war, sich einfach fallen zu lassen, es einfach geschehen zu lassen.
Ihr Verstand sagte ihr, dass alle um sie herum recht hatten: Nach menschlichem Ermessen konnte Jeremy nicht mehr am Leben sein. Und selbst wenn, so war ihr Vorhaben, ihn in Omdurman zu suchen, völlig aberwitzig. Die Wahrscheinlichkeit, dass es für sie eine Reise ohne Wiederkehr würde, war groß. Ein Wagnis, dessen Folgen sie nicht abschätzen konnte; nicht wie bei einem schnellen Ausritt, bei einer Fahrt im Tilbury, und erst jetzt wurde Grace sich bewusst, dass sie Angst hatte.
Noch war es nicht zu spät, noch konnte sie umkehren. Nach Hause fahren und Leonard heiraten. Nach ihrem Abschiedsbrief dachte sicher ohnehin jeder, sie wären durchgebrannt. Es wäre ein gutes Leben an Leonards Seite auf Givons Grove in Surrey, umgeben von all den Menschen, die sie von Kindesbeinen an kannte und liebte. Und ihr Körper hatte ihr heute Abend sehr deutlich gemacht, dass es keinen Grund gab, bang oder mit Abscheu der Hochzeitsnacht und den Nächten danach entgegenzublicken. Es wäre das Leben, auf das sie jahrelang hingelebt hatte. Bis Stephen in jenem November Jeremy nach Hause mitgebracht hatte. Doch wie konnte sie guten Gewissens Leonard heiraten, ihm vor dem Altar Treue geloben, wenn ihr Herz noch immer auf Jeremy wartete, weil es sich standhaft weigerte, an seinen Tod zu glauben?
Er würde sie nie bedrängen, hatte Leonard gesagt, und sie glaubte ihm. Sie vertraute ihm. Doch sie traute sich selbst nicht mehr. Die Versuchung, vernünftig zu sein, würde mit jedem weiteren Tag stärker werden, das spürte sie, und sie spürte auch, wie schwach sie doch war. Sie, der immer alles in den Schoß gefallen war, die sich nie besonders anstrengen musste, um etwas zu schaffen.
Grace setzte sich auf, suchte die hinuntergefallenen Nadeln zusammen und steckte ihr Haar nachlässig auf. Sie kniete sich vor ihr Gepäck hin und suchte alles heraus, was sie für den Sudan brauchen würde. Ein Stück Seife und die notwendigsten Toilettenartikel. Eine Garnitur Unterwäsche und zwei Paar Strümpfe. Eine Wasserflasche aus Leder. Die Umhängetasche aus Stoff, die sie hier in Cairo gekauft hatte. Als sie den Beutel mit Geld in die Hand nahm, zögerte sie. Es war Leonards Geld, denn sie hatte kein eigenes; ohne die Unterschrift ihres Vaters kam sie nicht an Geld heran. Leonards Geld, das sie vor der Reise für alle Fälle untereinander aufgeteilt hatten. Den Revolver, den Leonard ihr zugesteckt hatte, nahm sie ebenfalls mit, samt der Munition, und ein Federmesser. Und die Photographie der Kompanie in Sandhurst, auf die sie nur einen flüchtigen Blick warf. Jeremys Gesicht darauf zu sehen war fast so, als müsste sie ihm leibhaftig in die Augen schauen, nach dem, was sie vorhin beinahe getan hätte. Dann nahm sie von dem Papier, das sie für den Notfall eingepackt hatte, ein Blatt und setzte sich mit einem Bleistift in der Hand an den Tisch.
Lieber Len,
ich bin zu dem Schluss gelangt, dass ich diese Reise allein fortsetzen werde. Komm mir nicht nach, sondern fahr nach Hause. Es ist schäbig von mir, Dich erst zu diesem Unternehmen anzustiften und Dich dann sitzen zu lassen, nach allem, was Du für mich getan hast, das weiß ich wohl, aber ich kann nicht anders. Vielleicht wirst Du mir eines Tages verzeihen können.
Danke, für alles.
Grace
Sie hatte die Zeilen kaum geschrieben, da verließ sie der Mut. Was mache ich da? Mit zitternden Händen rieb sie sich über das Gesicht. Das war nicht mehr die Grace, die sie kannte. Diese Grace verletzte Menschen, die ihr nahestanden und die es gut mit ihr meinten, einfach nur, weil sie ihren Willen durchsetzen wollte. Diese Grace stürzte sich blindlings in ein vollkommen irrsinniges, lebensgefährliches Abenteuer. Ich muss wahnsinnig sein, schoss es ihr durch den Kopf. Ich habe den Verstand verloren. Sarah Danvers’ Worte fielen ihr ein. Menschen können den Verstand verlieren vor Schmerz. Vielleicht nicht nur vor körperlichem Schmerz, sondern auch vor seelischem Schmerz.
Grace lauschte den Geräuschen der Stadt, die beinahe untergingen in dem angstvollen Schlagen ihres Herzens, dem Dröhnen in ihren Ohren. Hier in Cairo zu sein, diesen Weg weiterzugehen, allein, hatte etwas Unwirkliches. Ich muss wahnsinnig sein, dachte sie noch, während sie bereits den Ring vom Finger zog und auf den Brief legte.
Sie stand auf, zog das Gewand über, warf den Schal über ihr Haar und schlang die Enden um den Hals, hängte sich Tasche und Wasserflasche um und packte ihre Stiefel. Auf Zehenspitzen schlich sie hinaus, den Gang entlang und die Treppe hinunter, an der behelfsmäßigen Rezeption vorbei, wo der Nachtwächter, den Kopf neben der brennenden Laterne auf die Tischplatte gelegt, schlief, und schlüpfte zur Tür hinaus.
Das Kaffeehaus hatte noch geöffnet, doch es waren nur noch wenige Gäste im Raum. Grace trat näher und holte tief Atem.
»As-salamu alaikum«, wiederholte sie die Worte, die Leonard zu Abbas gesagt hatte, und wechselte dann wie er ins Englische. »Entschuldigen Sie bitte, wo finde ich dragoman Abbas?«
Die Männer blickten sie ausdruckslos an.
»Dragoman Abbas?«, versuchte sie es noch einmal. Vergeblich.
Ein Bursche von vielleicht fünfzehn, sechzehn, die schlaksige Gestalt in ein bläuliches Gewand gehüllt, ein weißes Käppchen auf dem Kopf und einen Hauch von Bartflaum in dem schmalen, noch weichen Gesicht, löste sich schließlich aus dem Hintergrund des Raumes und kam unter dem Klitsch-klatsch von Ledersandalen auf sie zu. Er sagte etwas auf Arabisch zu ihr und zeigte die Gasse hinauf. Grace machte ein fragendes Gesicht und hob die Schultern, und er bedeutete ihr mit einer winkenden Geste, ihm zu folgen. Mit wiegenden Schritten, wie ein Seemann auf Landgang, schlenderte er voraus, klitsch-klatsch, und Grace ging mit etwas Abstand hinterher, ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Unwillkürlich drückte sie die Tasche fester an ihren Körper, spürte erleichtert die Ausbuchtung, die der geladene Revolver in den Stoff drückte.
Der Junge führte sie die Gasse hinauf und bog danach in einen dunklen Durchgang ein. Grace zögerte kurz, ging ihm dann aber nach, bis zu einer Stelle, an der die Hauswand von der anderen Seite her wieder schwach beleuchtet war. Vor einer Tür blieb er schließlich stehen. »Dragoman Abbas«, erklärte er.
Als Grace auf die Tür wies, nickte er und trat zur Seite, blieb aber dort stehen, die schlanken Hände gefaltet. Grace begriff und holte aus dem Geldbeutel in ihrer Tasche einen Schein hervor, von dem sie hoffte, dass er genügte, und gab ihn dem Jungen.
Mit einer leichten Verbeugung nahm er ihn entgegen, legte ihn zwischen seine Handflächen und hob die Hände an die Stirn. »Shukran«, murmelte er. »Shukran.« Er verbeugte sich noch einmal und verschwand dann mit federndem Schritt um die Ecke. Klitsch-klatsch. Klitsch-klatsch.
Grace atmete tief durch und klopfte an die Tür. Dahinter rührte sich nichts. Sie klopfte noch einmal, und als es weiterhin still blieb, trommelte sie mit der Faust dagegen. Eine tiefe Stimme bellte jenseits der Tür äußerst ungehalten etwas auf Arabisch, und Grace’ Faust donnerte erneut mehrmals gegen das Holz.
Eine unverständliche Schimpftirade näherte sich und ergoss sich über Grace, als die Tür aufging und einen Keil sanften Lichtscheins ausspie, brach aber sofort ab, als Abbas, barhäuptig, barfuß und in einem dünnen Gewand, sie erkannte und mit finster zusammengezogenen Brauen anstarrte.
»Nicht heute. Morgen«, knurrte er und wollte ihr die Tür vor der Nase zuschlagen.
Hastig stellte Grace ihren Fuß in den Spalt und zuckte kurz zusammen, als die Türkante mit voller Wucht gegen den Stiefel krachte. »Heute.«
»Morgen!«
»Heute!« Sie versuchte, ein Lächeln aufzusetzen, doch es geriet zittrig. »Bitte.«
Abbas’ Augen wanderten von Grace in den Durchgang hinter ihr und wieder zurück. »Wo ist dein Mann?«
»Er ... er ist nicht mein Mann.« Grace sah Abbas unverwandt an. »Er wird nicht mitkommen.«
Abbas’ Miene wurde noch düsterer. Grace verlor den Mut, und ihr Kinn senkte sich auf die Brust.
»Warte hier.« Grace zog ihren Fuß zurück, die Tür fiel zu, und dahinter konnte sie ein Rumoren hören, Abbas’ tiefe Stimme und eine Frauenstimme, die erst unwillig klang, dann in schrilles Keifen ausbrach, während Abbas’ Stimme ebenfalls lauter wurde, beinahe brutal drohend. Grace sprang zur Seite, als die Tür aufflog und eine Frau herauslief. Auf dralle Art war sie hübsch, wenn sie auch ein verbissenes Gesicht zog, während sie sich hastig den Schal über dem Haar zurechtzerrte. Unvermittelt blieb sie vor Grace stehen, funkelte sie zornig an und spie vor ihr auf den Boden, ehe sie sich ein paar Geldscheine in den Ausschnitt stopfte und davonmarschierte.
In Grace mischte sich Schuldbewusstsein mit Belustigung, und sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht loszulachen, als Abbas gleich darauf ebenfalls durch die Tür kam, eine lange Jacke über einem weniger dünnen Gewand, das Haupt von einem Tuch verhüllt und Pantoffeln an den Füßen. Über der Schulter trug er einen Sack und ein Gewehr am Gurt umgehängt und an einem Gürtel um den Bauch eine Art Schwert.
»Entschuldigung«, murmelte sie höflichkeitshalber unter einem unterdrückten Glucksen.
Abbas’ Stirn umwölkte sich, und er zog die Mundwinkel nach unten. »Ah«, knurrte er abfällig. »Gibt auf der Welt genug von ihrer Sorte.«
Er ruckte mit dem Kopf zu der Gasse hin, und Grace folgte ihm, hinein in das Gassengewirr Cairos. Lang gezogen und klagend hoben die Rufe der Muezzine an und zitterten durch die Dunkelheit, ein wehmütiger, ein lockender Klang aus vielen Stimmen, aus allen Himmelsrichtungen, der tief verborgene Saiten in Grace’ Seele anschlug. Sie sah zu Abbas hin, doch der schritt unbeirrt aus und machte keine Anstalten, sein Gebet zu verrichten.
Bis sie am Flussufer angelangt waren, dünnte sich die Nacht bereits aus, und die ersten Sterne erloschen. Einige kleine Barken, kaum größer als Nussschalen, dümpelten vertäut im Wasser, und Grace konnte männliche Gestalten ausmachen, deren weiße Gewänder hell leuchteten im Zwielicht, so hell wie die dreieckigen Segel an den kurzen Masten und den langen Rahen. Abbas ging auf eines der Boote zu und rief etwas, und einer der Männer begrüßte ihn mit Handschlag und mit Wangenküssen. Ein schneller Wortwechsel entspann sich, der dennoch friedlich, beinahe vertraut klang, und schließlich warf Abbas seinen Sack über die Reling und kletterte in die Barke. »Vorwärts!«, blaffte er Grace über die Schulter zu, während er aus dem Gurt des Gewehres schlüpfte und seinen Schwertgürtel ablegte.
Der Bootsführer bleckte seine schadhaften Zähne zu einem Grinsen und streckte die Hand nach Grace aus, half ihr in die schwankende Barke und deutete auf eine Stelle auf den Holzplanken, woraufhin Grace sich gehorsam niederließ. Ein zweiter Mann kam angelaufen und sprang über die Reling, landete mit einem Patschen seiner bloßen Füße auf den Planken, und mit wenigen Handgriffen lösten sie die Seile, stießen sich vom Ufer ab und schwenkten die Rahen gegen den Wind.
Die Silhouette von Cairo schälte sich nach und nach aus der sich schnell lichtenden Dämmerung, die schachtelartigen Umrisse, die Kuppeln und Türme und Fialen. Die Knie angezogen, saß Grace aufrecht im Boot und schaute nach vorn, wo sich die Bebauung der Stadt allmählich zerstreute und die Palmen dichter standen und wo schließlich ein breites Band aus dickem, glänzendem grünen Samt den Nil zu beiden Seiten umfing und umschloss. Wie ein dicker roter Blutstropfen am weiß glühenden Himmel ging die Sonne im Osten auf, färbte sich gelb wie der Eidotter einer Henne, der man viele Maiskörnchen zum Picken gegeben hatte. Die Barke schwankte leicht auf den mattblauen und jadegrünen Fluten und trug Grace nach Süden, in ein Land jenseits der Zeit. Und das Plätschern und Rauschen des Nils an den hölzernen Rumpf des Bootes kam ihr vor wie das Geräusch der Brücken, die sie gleichsam hinter sich zusammenbrechen und einstürzen fühlte. Die Brücken zurück in ihr altes Leben.
Sie merkte es kaum, dass ihr die Augen zufielen, die Muskeln ihres Kiefers erschlafften; sie zuckte kurz auf, als eine Hand ihre Schulter umfasste, murmelte Widerworte und wedelte in einer abwehrenden Geste mit lockerer Hand vor sich in die Luft, schlief aber bereits tief und fest, während Abbas seinen Sack näher zog und Grace’ Kopf darauf bettete, dann aus seiner Jacke schlüpfte und sie über ihrem zusammengekauerten Leib ausbreitete.
»Grace?« Mit beunruhigter Miene trat Leonard in das Hotelzimmer, nachdem er mehrmals an die Tür geklopft, aber keine Antwort erhalten hatte. Ein Blick genügte ihm, um zu sehen, dass sie fort war. Er trat zum Tisch, hob den Ring auf und die Nachricht, die Grace ihm hinterlassen hatte.
Seine blauen Augen verdunkelten sich, während sie über die Zeilen auf dem Blatt Papier wanderten, begannen aufzufunkeln, und Tränen stiegen ihm in die Augen. Er zerknüllte die Nachricht in der Faust und machte auf dem Absatz kehrt, um seine Sachen zu packen.