46

Jeremy blinzelte aus dem dünnen Schattenstreifen heraus in die grelle Sonne. Die Umrisse mehrerer Männer zeichneten sich auf dem Platz vor dem Saier ab, eine ununterscheidbare finstere Masse, die sich zielstrebig auf ihn zubewegte. Der Schweiß brach ihm aus, und er zwang das Gefühl von Angst hinunter, das ihm die Brust zudrückte wie mit einer Schraubzwinge. Stumm sagte er sich vor, er habe nichts zu befürchten, er habe sich nichts zuschulden kommen lassen – obwohl er wusste, dass dies nicht unbedingt eine Rolle spielte. Nicht hier, in Omdurman. Denn was war hier schon verlässlich oder gar sicher, wenn die Willkür der Wächter und Aufseher, die Launen von Idris es-Saier Gesetz waren, über dem nur das Wort und der Wille des Khalifa standen, dem Herrscher über Leben und Folter und Tod?

Es beruhigte ihn auch nicht sonderlich, als der Schattenriss Konturen bekam und Farben und sich in einzelne Gestalten auflöste: mehrere Derwische, die Rudolf Slatin umringten. Seine Sinne waren urplötzlich hellwach und geschärft, sein Leib angespannt, und dennoch ließ er sich nichts anmerken, als er die bloßen Füße, durch Eisen und eine Kette gefesselt, von der Lagerstatt herunternahm und sich aufsetzte. Slatin trat aus dem Kreis seiner Bewacher heraus und kam auf Jeremy zu.

»As-salamu aleikum, namenloser Soldat«, begrüßte er ihn mit aneinandergelegten Handflächen.

»Guten Tag, Herr Slatin«, erwiderte Jeremy auf Deutsch.

Slatins struppige Augenbrauen hoben sich. »Sie sprechen meine Muttersprache?« Er selbst jedoch blieb beim Englischen.

»Ein wenig.« Sich deutsche, französische und arabische Vokabeln in Erinnerung zu rufen und im Gedächtnis zu wiederholen, Gedichte lautlos zu rezitieren oder sich selbst komplizierte Rechenaufgaben zu stellen und zu lösen, bewahrte Jeremys Verstand davor, noch einmal beinahe im Wahnsinn zu versinken wie in jenen Tagen, als er im Fieber lag. Zumindest nahm er an, dass er wieder bei klarem Verstand war; ganz sicher war er sich dessen seither nicht mehr.

»Sie gestatten?« Slatin deutete auf das angareb, das mit geflochtenen Lederstreifen bespannte Holzgestell unter Jeremy, und als dieser nickte, ließ er sich neben ihm nieder. Sein Blick fiel auf die kleine Ausgabe des Koran in französischer Übersetzung, in der Jeremy zuvor gelesen hatte, und er nahm sie zur Hand. »Haben Sie sich nun doch anders besonnen?«

»Keineswegs. Ich nehme nur mit dem einzigen Buch vorlieb, das ich hier zur Verfügung habe. Ich denke nicht im Geringsten daran, zum Islam überzutreten.«

»Schade.« Slatins Bart zuckte bedauernd, und er legte den Koran wieder beiseite.

»Habe ich Ihnen all das zu verdanken?« Jeremy zeigte auf das angareb unter einem kleinen pfostengetragenen Dach aus Palmwedeln, auf dem er mittlerweile seine Tage und Nächte im Freien zubrachte, auf den Wasserkrug darunter und auf die geleerte Essensschale; schließlich auf die djibba und die sauberen Hosen, die man ihm als Ersatz für seine alten Sachen gegeben hatte, die von den Peitschenschnüren zerfetzt und mit Blut und Eiter und seinen Ausscheidungen getränkt gewesen waren.

Slatin verzog das Gesicht. »Sie überschätzen die Macht, die mir hier eingeräumt wird, gewaltig.« Sein Blick wanderte über die Einzäunung aus Dornengestrüpp um den Saier und über die weiter gewachsene Umfriedungsmauer. »Dass man Sie medizinisch versorgt und dort herausgeholt hat und Sie seither von der Arbeit in der Ziegelei verschont bleiben, verdanken Sie allein dem Khalifa.« Jeremy bemerkte, dass Slatin nervös die Hände verschränkte, als seine Bewacher bei der Erwähnung dieses Namens zu ihnen herübersahen. »Durch Ihren äußerst ungeschickten Fluchtversuch ist er auf Sie aufmerksam geworden und wollte von mir alles erfahren, was ich über Sie weiß.« Seine hellen Augen streiften Jeremy voller Spott. »Was ja nun nicht besonders viel ist.«

Jeremy schwieg, und auch Slatin sagte einige Herzschläge lang nichts.

»Sie als Soldat ...«, ergriff er dann wieder das Wort. »Verstehen Sie etwas von Schießpulver? Genauer gesagt – kennen Sie sich aus mit der Herstellung von Salpeter?«

Dass Salpeter neben Holzkohle und Schwefel zu drei Vierteln den Hauptbestandteil von Schwarzpulver darstellte, wusste Jeremy, und auch, dass Salpeter aus Erde gewonnen wurde, die besondere Salze enthielt. Er hatte einmal etwas darüber gelesen, vor langer, langer Zeit, in einem anderen Leben, als er noch ein ehrgeiziger Kadett in Sandhurst gewesen war. Sprengstoffkunde war Teil des Prüfungsstoffs gewesen, wenn auch nur auf rein theoretischer Basis. Möglicherweise bekam er dieses Wissen noch aus dem Gedächtnis zusammen – sofern es ihm denn auch wirklich einen Nutzen brächte, und daran hatte er durchaus seine Zweifel; womöglich handelte es sich bei dieser Anfrage Slatins nur um eine tückische Falle des Khalifa.

»Vielleicht«, lautete deshalb seine Antwort.

Slatin lachte trocken auf. »Sie haben wahrhaftig nichts begriffen! Hier in Omdurman gibt es nur ein Ja oder ein Nein, kein Vielleicht!«

»Erst will ich etwas von Ihnen wissen.« Jeremy senkte seine Stimme zu einem Flüstern, und als Slatin ihn aufmerksam ansah, fügte er noch leiser hinzu. »Wie komme ich hier wieder raus?«

Slatins Augen hellten sich zu gläserner Durchsichtigkeit auf. »Sie sind nicht ganz bei Trost! Sehen Sie nicht, dass das unmöglich ist? Was glauben Sie, wie oft ich nach einer Möglichkeit zur Flucht gesucht habe? Selbst wenn Sie hier«, sein Zeigefinger beschrieb einen Kreis, »herauskommen, selbst wenn sie die«, er wies auf die Fußeisen Jeremys, »loswerden sollten, etwa wenn der Khalifa sie Ihnen großzügig abnehmen lassen würde so wie mir – aus Omdurman selbst entkommen Sie nicht. Wohin sollten Sie auch gehen? Und vor allem – wie? Zu Fuß kommen Sie nicht weit, schon gar nicht ohne Wasser. Niemand wird Sie als Weißen in einem Boot oder in einer Karawane mitnehmen, Ihnen etwas zu essen oder ein Kamel verkaufen, wenn sich jeder denken kann, dass Sie ein Flüchtling sind. Dafür fürchten die Menschen den Khalifa zu sehr. Und wenn Sie sich einfach nehmen, was Sie brauchen, wartet der Galgen auf Sie.« Slatin sann einige Herzschläge lang über seine eigenen Worte nach. »Wenn Sie klug sind, passen Sie sich hier an. Treten zum Islam über, schwören dem Khalifa die Treue. Lassen sich von ihm vielleicht eine Frau geben und zeugen ein paar Kinder, das sieht er immer mit Wohlwollen. Und warten einfach darauf, dass irgendwann der Wind aus einer anderen Richtung weht.«

Niemals, dachte Jeremy. Sein Magen zog sich zusammen bei der Erinnerung an das Mädchen, das ihm zur Flucht verholfen und das so bitter dafür gebüßt hatte. Niemals. Lieber sterbe ich auf der Flucht.

Slatin klopfte sich auf die Oberschenkel und stand auf. »Also, welche Antwort kann ich dem Khalifa von Ihnen übermitteln?«

Jeremy dachte kurz nach. »Ja, ich kann Salpeter herstellen«, verkündete er dann.

Jeremy hatte sich noch nicht lange wieder auf dem angareb ausgestreckt und sich zu erinnern versucht, was er über die Herstellung von Salpeter wusste, als zwei mit Speeren bewaffnete Derwische sichtlich unwillig dahermarschiert kamen, sich vor ihm aufbauten und ihn anblafften. »Yalla! Yalla! Vorwärts! Vorwärts!«, das verstand er. Er schwang die aneinandergeketteten Füße herunter, den Rumpf hinterher und ließ sich auf die Erde fallen. Wütend schrien sie ihn an, stachen mit dem stumpfen Ende der Speere auf ihn ein, und hastig rappelte sich Jeremy wieder auf, machte einen tapsenden Schritt in den Fußeisen und noch einen. Beim nächsten Schritt drehte er den rechten geschwollenen Fuß einwärts, und erneut stolperte er und stürzte zu Boden und kam unter Brüllen und Stockschlägen wieder auf die Beine. Bis zu seinem nächsten Sturz ließ er sich mehr Zeit, und dieses Mal begannen die beiden Derwische eine hitzige Auseinandersetzung, während Jeremy taumelnd wieder auf die Füße kam. Beide wirkten ratlos, schienen sich aber auch darin einig zu sein, den Weg nicht auf diese mühevolle Weise fortsetzen zu wollen. Dann redete der eine eifrig auf den anderen ein, bis dieser schließlich nickend sein Einverständnis gab. Sie packten Jeremy an den Oberarmen und schleiften ihn aus der zariba hinaus und zu einem im Boden steckenden Pfahl, neben dem eine Kette und ein kürzerer Pflock lagen. Einer der Derwische steckte die Kette durch das eine Fußeisen, befestigte sie am Pfahl und benutzte den Pflock, um das Fußeisen aufzuhebeln, verfuhr dann ebenso mit dem anderen Eisen. Jeremy gab keinen Laut von sich während dieser Prozedur, die ihm die Haut an den Fußknöcheln aufschürfte und ihm den dicken, geschwollenen Spann blau quetschte. Die beiden Männer packten ihn wieder und machten ihm deutlich, dass er nicht an Flucht zu denken brauche, indem sie ihm mit der Faust ins Genick schlugen und ihm den Speerstab ins Kreuz hieben.

Jeremy wandte den Blick ab, als seine Augen auf die Galgen am Rande des mäßig belebten Marktplatzes fielen. An einem davon baumelte ein Junge, vielleicht dreizehn, vierzehn Jahre alt, das Gesicht mit den himmelwärts verdrehten Augen bläulich verfärbt, und die Zunge hing aus dem Mund wie eine purpurne, fest gestopfte Wurst. Die Derwische führten Jeremy zu einem Ziegelhäuschen am Rande des Platzes, an dessen türlosem Eingang ein weiterer speerbewehrter Wächter lustlos herumlungerte. Die drei wechselten einige kurze Worte und stießen ihren Gefangenen in das Häuschen hinein.

Bis auf ein rotes Glühen über dem Boden, gleich hinter dem Eingang, war es hier dämmrig, und Jeremy brauchte eine Weile, bis sich seine Augen nach der Sonnenglut draußen an das trübe Licht gewöhnt hatten. An der hinteren Wand waren einige kleine Stoffsäcke aufgestapelt; auf der rechten Seite stand ein mit Erde gefüllter Flechtkorb, daneben lagen allerlei Dinge durcheinander: zersprungene Ziegelsteine, aus Holz geschnitzte Löffel, ein metallenes Kaffeekännchen mit langem Schnabel, wassergefüllte Krüge und angeschlagene irdene Schalen. Das Glühen rührte von entzündeter Holzkohle her, die man in einer Metallschale auf den Boden gestellt hatte. Offenbar war das Prinzip zur Salpetergewinnung durchaus bekannt, nur das genaue Vorgehen nicht. Jeremy bekam einen Stoß in den Rücken und eine gebellte Aufforderung und krempelte sogleich die Ärmel seiner djibba auf, was die breiten, geriffelten Narben an seinen Handgelenken enthüllte, die er von seinem ersten Tag in Omdurman zurückbehalten hatte.

Denk nach, befahl er sich selbst. Denk nach. Versuch dich Schritt für Schritt zu erinnern. Und wenn dir etwas nicht einfällt, versuch die Lücke mit Logik zu schließen.

Er nahm eine Schale, füllte sie mit einigen Handvoll der Erde und goss Wasser dazu, verrührte die Mischung und goss die Flüssigkeit in einem dünnen Strahl in das Kaffeekännchen, das er anschließend auf die Holzkohle stellte. Mit verschränkten Armen lehnte er sich dann an die Wand, was ungehaltene Rufe der Männer, die ihm bislang neugierig zugesehen hatten, zur Folge hatte. Jeremy machte eine beschwichtigende Geste. Ab und zu spähte er in das Kännchen und goss Wasser nach, wartete, bis das Wasser verkocht war, und goss wieder Wasser nach. Zwei, vielleicht drei Stunden etwa würde es dauern, bis in dem Kännchen ein dünner Sirup entstanden wäre. Sofern er sich richtig erinnerte, könnte er diesen dann auf die Ziegel gießen, und sobald der gebrannte Lehm die Feuchtigkeit aufgenommen hätte, würden Kristalle auf der Oberfläche zurückbleiben. Streute man diese auf die glühende Holzkohle, müsste es zischen und farbige Funken sprühen, die darüber Aufschluss gäben, wie hochwertig der Salpeter war.

Das verdampfende Wasser füllte den engen Raum mit stickiger Schwüle, und Jeremy beobachtete, wie seine Bewacher unruhig von einem Bein auf das andere traten, sich gegenseitig grinsend foppten und knufften wie gelangweilte Kinder, dann unverhohlen zu murren begannen. Schließlich drehten sie sich um und gingen hinaus, wobei einer der drei ihm, offenbar als Warnung, noch mit dem Speer drohte.

Jeremy goss erneut Wasser nach und sah sich in aller Ruhe um. Die Säcke in der gegenüberliegenden Ecke erregten seine Neugier, und langsam ging er hinüber, die Augen vorsichtig auf die Derwische geheftet, die draußen unter dem Palmendach in der Mitte des Marktplatzes hockten. Er bückte sich und öffnete den obersten Sack, spähte hinein. Ein glänzendes graphitgraues Pulver befand sich darin, und Jeremy zuckte sogleich zurück, als hätte er sich die Finger daran verbrannt. Er griff hinein, holte eine Handvoll Pulver heraus, befühlte es mit den Fingerspitzen, roch daran, und Fassungslosigkeit schlug über ihm zusammen. Sein Blick wanderte hinüber zu der glühenden Holzkohle, jagte dann wild umher, als würde sogleich eine Falle über ihm zuschnappen, in die er ahnungslos hineingetappt war. Die Verblüffung darüber, wie jemand so dumm, so leichtfertig sein konnte, Schwarzpulver im selben Raum aufzubewahren, in dem er ein Holzkohlefeuer entzündete, schlug um in Hass. Offenbar war man sich so sicher, seinen Willen gebrochen zu haben, dass man gar nicht in Betracht zog, er könnte dieses großzügige Angebot nutzen, und schließlich durchzog ihn ein ungeheures Glücksgefühl.

Er schüttete das Schwarzpulver zurück, ging zum Eingang und sah hinaus. Einer der drei Männer war aufgestanden und zum Rand des Marktplatzes hinübergegangen, wo ein wie eine Dörrpflaume verhutzelter, weißbärtiger Greis auf einer ausgebreiteten Decke Brotfladen feilbot. Der alte Mann duckte sich ängstlich, und der Derwisch nahm sich einfach drei der Fladen, brachte sie grinsend zu seinen beiden Kumpanen, ließ sich wieder neben ihnen nieder, und alle drei schlugen genüsslich die Zähne in ihren Imbiss. Jeremys Kopf war kühl und klar, sein Verstand arbeitete wie ein präzise vor sich hin tickendes Uhrwerk, während er verschiedene Möglichkeiten erwog und wieder verwarf, Mengen überschlug und Zeiten abschätzte, schließlich einen Schritt nach dem anderen plante und durchdachte.

Er ging wieder zu den Säcken zurück und nahm den obersten herunter. Beginnend beim Eingang schüttete er eine dicke Schlangenlinie durch den Raum bis zu den Schwarzpulversäcken, die er umschichtete und geschickt anordnete, bevor er alle Krüge in der gegenüberliegenden Ecke auskippte, wo der festgetretene, staubige Boden das Wasser sofort gierig aufsog. Vor dem Kohlefeuer kniete er nieder und blies kräftig hinein, bis es grell aufgloste und Funken stoben, fischte mit einem der Holzlöffel ein rotgolden glühendes Klümpchen heraus und trug es zum Anfang der behelfsmäßigen Lunte. Vorsichtig legte er den Löffel dort ab, wartete so lange, bis das Holz kokelte, zu rauchen anfing und die ersten Flämmchen aufzüngelten, bevor er aufstand und auf den Marktplatz hinaustrat.

Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Derwische ihn anstarrten und dann, als er einfach weiterging, brüllend aufsprangen und zu ihren Speeren griffen. Jeremy drehte sich nicht um, er hörte auch so das Zischen, das Fauchen, das Knallen der ersten kleinen Explosionen. Die Art, wie das Gebrüll der Männer ins Schrille umschlug, verriet ihm, dass sie eins und eins zusammengezählt hatten. Sein Mund verzog sich zu einem halben Lächeln, als hinter ihm ein Aufruhr losbrach.

Ein gewaltiger Donnerschlag peitschte durch die Luft, dann noch einer und noch einer, und das Getöse verschluckte die angstvollen Schreie. Die Druckwelle traf Jeremy von hinten, machte ihn taumeln. Etwas traf ihn hart an der Schulter, doch er ging unbeirrt weiter. Um ihn herum rannten Menschen in heller Panik durcheinander. Er bekam Ellenbogenstöße in die Seite, und er wurde angerempelt, aber er achtete nicht darauf, so wie auch niemand auf ihn achtete.

Frei. Frei. Frei, schlug sein Herz, und leicht und kräftig schlug es. Jeremy legte den Kopf in den Nacken und lachte, lachte aus vollem Hals, wie er es zuletzt als kleiner Junge getan hatte, vor vielen, vielen Jahren.

»Was war das?« Grace sah Abbas erschrocken an, als sie ein Donnerkrachen aus der Stadt hörten, deren Saum aus locker hingetupften Hütten sie schon fast erreicht hatten. Sie brachten ihre Kamele zum Stehen, während weitere grelle Schläge herüberdröhnten. Beide starrten zu der Rauchwolke hinüber, die über den niedrigen Häusern aus rötlichen Ziegelmauern aufstieg, sahen Menschen zwischen den Hütten umherwimmeln.

»Nichts Gutes«, erwiderte Abbas mit finsterer Miene. »Wir kehren um.«

»Nein!« Grace zuckte selbst zusammen unter der Grellheit ihres Schreis. »Nein, Abbas, bitte nicht!«

»Einen Tag oder zwei, bis alles wieder ruhig ist«, versuchte er sie zu beschwichtigen.

»Nein, Abbas«, blieb Grace beharrlich. »Ich halte das keinen einzigen Tag länger aus!«

Seine Pranke wies auf die Stadt vor ihnen, die sich sichtlich in Aufruhr befand, und auch in Abbas schien ein Sturm aufzuziehen. Seine Stirn umwölkte sich, und er kniff die Augen zusammen »Mir schenkt dort heute keiner Gehör!«

»Bitte«, flüsterte Grace.

Abbas senkte den Blick und murmelte eine lange Tirade auf Arabisch, die nicht sonderlich freundlich klang, ließ dann aber zu Grace’ grenzenloser Erleichterung sein Kamel in die Knie gehen und auch das dahinter angebundene Lastenkamel.

»Wie heißt dein Freund?«, wollte er wissen, nachdem Grace ebenfalls abgestiegen war.

»Ich komme mit«, rief sie eifrig und hängte sich ihre Tasche um.

Abbas fuhr herum und packte sie bei den Schultern. »Nichts wirst du! Nicht, wenn ein solcher Aufruhr herrscht! Ich gehe – oder keiner.«

Grace senkte den Kopf und schluckte, blinzelte die ersten Tränen der Enttäuschung weg. »Jeremy«, flüsterte sie schließlich. »Er heißt Jeremy. Captain Jeremy Danvers.« Sie suchte in ihrer Tasche und zog die mittlerweile angeschmutzte und zerknitterte Photographie heraus, hielt sie Abbas hin und deutete mit dem Finger auf Jeremy. »Das hier ist er.«

Abbas knurrte und riss ihr die Photographie aus der Hand. »Hast du noch Geld?«

Grace nickte und zog den Beutel hervor, aus dem Abbas sich großzügig bediente.

»Hast du deine Waffe bei dir? Ist sie geladen?«, fragte er dann, und wieder nickte Grace und klopfte sich auf die Hüfte, wo sie den Revolver im Hosenbund trug. Abbas drückte sie unsanft in die Hocke nieder. »Du sitzt hier, bis ich zurück bin. Du gehst nicht weg und sprichst mit niemandem. Du lässt dir die Kamele nicht stehlen und nichts von den Sachen. Schießen nur in der Not. Verstanden?!«

Grace konnte einmal mehr nur nicken. Sie fühlte sich wie ein zu Unrecht gescholtenes Schulmädchen, und in ihr rangen Stolz, Widerspruchsgeist und Angst und das Vertrauen, das sie zu Abbas gefasst hatte, und zittrige Aufregung durchzog sie ebenso wie eine ungestüme Hoffnung. Abbas brummte etwas auf Arabisch, und die Hand am Gurt seines umgehängten Gewehres stapfte er davon, in Richtung der Hütten und Häuser von Omdurman.

Sie setzte sich auf den Boden und sah ihm nach, bis ihr Nacken steif wurde und schmerzte, dann wickelte sie sich tiefer in ihren Schal und versuchte sich in Geduld zu üben. Ihre Knie begannen zu zittern, und sie umschlang sie fest, kauerte sich tiefer und tiefer zusammen, um sich selbst zu beruhigen. Bitte, lieber Gott, mach, dass er Jeremy findet! Mach, dass er Jeremy findet, heil und gesund! Wenn er noch am Leben ist ... wenn er überhaupt dort ist ... Der Gedanke an Jeremy war die ganze kräftezehrende Reise über ihr Leitstern gewesen, hatte sie alles aushalten, alles erdulden lassen, und die bloße Vorstellung, dass sie den ganzen weiten Weg für ein Hirngespinst auf sich genommen hatte, schnürte ihr die Luft zum Atmen ab. Sie wusste nicht, wie sie dann den Rückweg überstehen sollte, noch einmal die ganze Strecke mit all den Mühen und Anstrengungen, aber ohne Hoffnung im Herzen, die Kraft gab und Mut und Ausdauer. Und sollte Abbas in den nächsten Stunden etwas zustoßen in Omdurman, wäre sie verloren.

Ich bitte dich, lieber Gott, lass das alles nicht umsonst gewesen sein! Ich flehe dich an, gib ihn mir zurück! Ich flehe ... ich flehe um dein Mitleid ... Du, einzige Liebe. Vom Grund der finstern Schlucht, auf den mein Herz gestürzt. Ich flehe – ich flehe ...

Abbas kam nicht weit in die Stadt hinein. Immer noch irrten verängstigte Menschen umher und rempelten ihn an, doch er stieß sie einfach weg. Derwische, die Speere drohend erhoben, die Schwerter gezückt, versuchten die Menschen in der Stadt unter Gebrüll und Schlägen zur Ordnung zu zwingen. Obwohl Abbas nicht das erste Mal in Omdurman war, war sein Gesicht keines, das als allseits wohlbekannt galt. Sein arabisches Blut war darin zu lesen, und das machte ihn zum Fremden in einer Stadt, in der alles Fremde von vornherein verdächtig war. Um sich selbst war Abbas nicht bang. Er fürchtete den Tod nicht; zu oft hatte er ihm ins Auge geblickt, und es war allein Allahs Wille, wann und wie das irdische Dasein endete. Doch vor der Stadt wartete Miss Grace auf ihn, die sich ihm anvertraut hatte, und Ehre und Gewissen verlangten von ihm, dass er sie heil und unbeschadet wieder nach Cairo brachte. Als er zum zweiten Mal den misstrauischen Blick eines Derwischs auf seinem Gesicht, auf dem umgehängten Gewehr spürte, wandte er sich ohne Eile, ohne Hast um und machte sich auf den Weg zurück. Auch wenn er wusste, welch bittere Enttäuschung er Miss Grace damit bereiten würde.

Jeremy wanderte weiter, weiter aus der Stadt hinaus, um die Nacht irgendwo da draußen zu verbringen, am Ufer des Nils, wo es mehr Wasser gab, als er jemals würde trinken können, und wo er so viel von Omdurman, vom Saier von sich abwaschen könnte wie möglich. Morgen würde er in die Stadt zurückkehren, würde versuchen, etwas zu essen zu beschaffen und ein Reittier. Vielleicht hatte Slatin recht und es war tatsächlich unmöglich, von Omdurman fortzukommen; Jeremy hatte keine genauen Entfernungen im Kopf, nur eine grobe Vorstellung von diesem Teil des Sudan, anhand der Karten, die er sich damals, in seinem früheren Leben, eingeprägt hatte, aufgrund der Wege, die er in diesem Land zurückgelegt hatte, als Offizier von Assuan über Korti nach Abu Klea und als Gefangener von Abu Klea nach Omdurman. Vielleicht hatte Slatin recht und Jeremy würde umkommen auf der Flucht, irgendwo in der Wüste elend verschmachten. Aber zumindest würde er dann als freier Mann sterben.

Er rieb sich mit dem Handrücken über die Augen, nahm dann den Ärmelsaum seiner djibba zu Hilfe, doch das hitzeflirrende Bild auf seiner Netzhaut blieb. Drei abseits des Weges auf dem kargen Boden kauernde Kamele, abgemagert und struppig, sichtlich erschöpft von einer langen Reise. Jeremy ging langsam darauf zu, überzeugt, mit dem nächsten Schritt würden sich die Tiere in Luft auflösen, weil sie nichts anderes waren als eine Luftspiegelung, eine Fata Morgana, die seine Sinne, vielleicht auch sein verwirrter Verstand ihm vorgaukelten.

Doch die Kamele waren immer noch da, wandten die Köpfe hierhin und dorthin und glotzten gelangweilt mit plinkernden Augendeckeln in der Gegend herum. Jeremy war auf der Hut, witterte einmal mehr eine Falle und ging in einem weiten Bogen auf die Tiere zu, näherte sich schräg von hinten, um zu sehen, was sich hinter den Leibern verbarg, wer dort auf der Lauer liegen mochte. Mit dem nackten Fuß stieß er an einen dicken, trockenen Ast, und Jeremy bückte sich, hob ihn auf und wog ihn prüfend in der Hand, bevor er weiterging.

Eine Frau, das Haar und einen Teil des Gesichts verhüllt, hockte hinter den Kamelen auf der Erde. So kraftlos zusammengesunken, wie sie dasaß, schien es eine alte Frau zu sein, die zu überwältigen ihm keine Schwierigkeiten bereiten dürfte. Wie sie mit dem Oberkörper unaufhörlich vor und zurück wippte und dabei vor sich hin murmelte, war sie vielleicht auch eine Irre, die man hier ausgesetzt hatte. Jemand, der sich ins Reich der Dämonen, die den Verstand zerfraßen, verirrt und den Weg zurück nicht mehr gefunden hatte. Jenes Reich, das Jeremy nur allzu bekannt war.

Ich flehe um dein Mitleid, Du, einzige Liebe. Vom Grund der finstern Schlucht, auf den mein Herz gestürzt. Jeremy schüttelte unwillig den Kopf, um die Worte zu verscheuchen, die sich in sein Bewusstsein drängten, und mehr noch den Anflug von Mitgefühl, der in ihm aufstieg. Er packte den Ast fester und tat noch einen Schritt vorwärts.

Hinter ihm klickte es leise und trocken. Das unverkennbare Geräusch eines Gewehrs, dessen Hahn gespannt wird. Vorbei. Seine Finger öffneten sich, und er ließ den Ast zu Boden fallen. Langsam hob er die Hände und drehte sich ebenso langsam um. Ein Bär von einem Mann stand vor ihm, mindestens ebenso groß und kräftig wie Royston damals, von einer Hautfarbe wie Kaffee mit viel Milch. Das markige, bartlose Gesicht konzentriert zusammengezogen, visierte er ihn über den Lauf des Gewehrs an. Jeremys Mund krümmte sich zu einem spöttischen Lächeln.

»Schieß doch«, knurrte er ihn auf Englisch an, worauf sich die Stirn des anderen etwas glättete, ohne dass er jedoch die Waffe sinken ließ. »Schieß doch einfach! Worauf wartest du noch!« Jeremys Stimme wurde lauter. »Schieß! Ich bin froh darum! Alles, nur nicht zurück dorthin! Los, drück ab!«

Ein erstickter Schrei drang an sein Ohr, und er duckte sich, als ein Schatten auf ihn zuflog, geriet ins Taumeln, als etwas sich gegen ihn warf – ein menschlicher Körper. Jemand schlang die Arme um ihn und benetzte seine Halsbeuge mit Tränen. Dann traf ihn ein Duft, den er unter Tausenden herausgerochen hätte, nach Schlüsselblumen und nach nassem Gras, fast verborgen unter einer holzigen, warmen Schärfe wie von Zimt. Er blinzelte verwundert, als vor seinen Augen ein Tuch herabglitt und weizenhelle, strohtrockene Haare zum Vorschein kamen.

»Ich hab dich gefunden«, raspelte eine Stimme, heiser vor Durst und Staub und Aufgewühltheit und darunter doch weich, so weich und immer noch kräftig. »Ich hab dich gefunden.«