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Assuan, den 23. August 1884

Liebe Grace,

ich schreibe Dir in aller Eile, so wie die anderen gerade auch noch schnell einige Zeilen nach Hause verfassen – wir sind im Aufbruch begriffen. Genaueres wissen wir auch noch nicht, nur dass es ohne Zweifel hinunter in den Sudan geht, nach Khartoum. Wahrscheinlich hörst Du nichts mehr von mir, bis wir von dort zurück sind. Ich melde mich aber, sobald ich kann.

Jeremy

Grace rieb mit der behandschuhten Faust ein Guckloch in die von innen beschlagene Scheibe der Kutsche. Draußen zuckelte der Dezembernachmittag in Lavendelblau und Steingrau vorüber. Felder und Wiesen schlummerten unter einer dicken Schneedecke, und die Bäume, die aussahen, als frören sie ohne ihr Laub, hatten sich flauschige Mützen über die kahlen Äste gezogen. Die ersten Häuser von Guildford tauchten auf, und als lotrechte Säulen stieg der Rauch aus den Schornsteinen in den bleiernen Himmel auf.

Der Wagen hielt, und Grace fuhr zusammen, warf schnell einen Blick hinaus und nahm die Füße in den Stiefeletten von dem eisernen, mit glühenden Kohlen gefüllten Wärmer auf dem Kutschenboden. Hastig öffnete sie den Wagenschlag und sprang hinaus auf den festgetretenen Schnee am Straßenrand, der unter ihren warmen Sohlen sogleich anschmolz. »Bemüh dich nicht, Ben, bleib ruhig sitzen!«, rief sie zum Kutschbock hinauf. Ihr Atem formte bei jedem Wort dicke Wölkchen vor ihrem Gesicht, und auch Jack und Jill schnaubten Dunstschwaden aus.

»Na, na, Miss Grace«, entgegnete der in mehrere Schichten von warmer Kleidung eingemummte Kutscher erheitert. »Ich bin zwar nicht mehr der Jüngste, aber so arg zum alten Eisen gehör ich nun auch wieder nicht! Runtersteigen und Ihnen aus dem Wagen helfen krieg ich schon noch hin!«

»Das weiß ich«, gab Grace mit einem kleinen Lächeln zurück. »Aber das ist wirklich nicht nötig!« Sie langte in den Innenraum und holte die kleine lederne Reisetasche heraus, bevor sie den Wagenschlag wieder zuschnappen ließ.

»Wann möchten Sie denn wieder abgeholt werden, Miss Grace?«

»Komm doch einfach wieder hierher, wenn du alle Pakete für meine Mutter abgeholt hast. Dann kannst du dich bei Thelma in der Küche bei einem Tee wieder aufwärmen. Wär dir das recht?«

Ben schmunzelte in den bis zur Unterlippe hochgewickelten Schal hinein. »Selbstredend, Miss Grace. Schönen Nachmittag Ihnen!« Er gab den Pferden die Zügel und schnalzte mit der Zunge, und der Wagen rollte an.

»Danke, Ben! Bis später!« Grace winkte ihm nach und stapfte dann durch den Schnee, der unter ihren Schritten ein gummiartiges Knirschen von sich gab. Sie schlug den Messingring des Türklopfers gegen das altersdunkle Holz und musste nicht lange warten, bis die Tür geöffnet wurde und ein Schwall warmer Luft, gewürzt mit dem Aroma von Vanille, Zimt und Kardamom, über die Schwelle flutete. »Guten Tag, Ruby!« Grace klopfte sich auf dem Fußabstreifer den Schnee von den Stiefeletten und schüttelte ihren weiß bestäubten Rocksaum aus.

»Guten Tag, Miss Norbury!« Das Dienstmädchen der Peckhams, das mit seiner schmächtigen Gestalt und den großen graugrünen Augen im runden Gesicht keinen Tag älter aussah als fünfzehn, obwohl es um einiges älter war als Grace, wie diese wusste, deutete einen Knicks an und ließ sie ein. »Sie möchten bestimmt zu Miss Peckham!«

»Ja bitte«, erwiderte Grace und wehrte ab, als Ruby die Tür hinter ihr geschlossen hatte und ihr die Tasche abnehmen wollte. »Geht schon; sieht schwerer aus, als sie ist.« Grace stellte die Tasche ab und zog die Handschuhe aus.

»Gracie!« Im Türrahmen zur Küche erschien Becky, rotwangig und eine helle Spur von Mehl oder Staubzucker auf der Stirn. Über ihrem Wollkleid mit den hochgekrempelten Ärmeln trug sie eine liebevoll bestickte, rüschengesäumte Schürze, an der sie sich gerade die Hände abwischte. Mitten in der Bewegung erstarrte sie und sah ihre Freundin mit weit aufgerissenen Augen an. »Hast du ... hast du etwas gehört?«

Grace biss sich auf die Unterlippe und schüttelte mit niedergeschlagener Miene den Kopf.

Seit August waren sie nun ohne unmittelbare Nachricht aus dem Sudan. Alles, was sie hatten, waren die Meldungen in den Tageszeitungen, und die zeichneten ein düsteres Bild der Lage. Noch im Mai war die Stadt Berber, im Norden Khartoums am Nil gelegen, in die Hände des Mahdi gefallen, und damit war auch der Fluchtweg nach Suakin abgeschnitten. Unermüdlich sandte Major General Gordon Soldatentrupps aus, um eine Schneise durch Feindesland zu schlagen, und alle wurden bis auf den letzten Mann niedergemäht. Und ebenso unermüdlich schickte er Boten auf den Weg, um aus Cairo, aus Suakin und vor allem aus London Hilfe anzufordern und von der Not in der Stadt zu berichten, Boten, von denen nur wenige ihr Ziel erreichten oder gar Nachrichten zurückbrachten; die übrigen wurden auf ihrem Weg von den Mahdisten ermordet. Zehntausend Menschen, wie es hieß, seien in der Stadt eingeschlossen; nach anderen Schätzungen zwanzig- oder gar dreißigtausend, von Hunger und Cholera und dem wütenden Ansturm der Mahdisten bedroht. Als ein gewaltiges Rauschen im Blätterwald der englischen Zeitungen äußerte sich der allgemeine Unmut über das Zögern von Premierminister Gladstone, Entsatztruppen zu schicken. Sogar Ihre Majestät die Königin verwendete sich für Gordon und Khartoum. Anfang August hatte Gladstone schließlich nachgegeben und Sir Garnet Wolseley zum Oberbefehlshaber dieses Unterfangens ernannt, der eine Elitetruppe zusammenstellte. Nur die besten Offiziere, die fähigsten Männer aus allen Regimentern wurden dafür ausgewählt. Einige von ihnen, Pioniere mit Erfahrung in unwegsamem Gelände, wurden sogar aus Kanada herbeigeholt; sie würden im Sudan zu den Truppen stoßen, die vor Ort waren und sich bereits auf den Weg in den Süden gemacht hatten. Allen voran das Royal Sussex, das sich in el-Teb und Tamai so hervorragend bewährt hatte. Und die Zeit drängte. Gordon selbst hatte in einer seiner letzten Botschaften den 14. Dezember als letzten Zeitpunkt genannt, bis zu dem Khartoum seiner Einschätzung nach durchhalten könnte. Eine Frist, die mittlerweile abgelaufen war.

Ein Ruck ging durch Becky, und sie fiel Grace um den Hals und drückte die Freundin fest an sich. »Es ist so schön, dass du hier bist!«

Grace lachte leise und streichelte über Beckys Rücken. »Hab ich dir doch versprochen!«

»Wir sind gerade am Backen«, erklärte Becky unnötigerweise. »Für den Weihnachtsbasar.« Sie löste sich von Grace und langte hinter sich, um die Taillenbänder der Schürze aufzuziehen, während Grace die Handschuhe in ihre Manteltaschen stopfte, den Mantel auszog, ihren gefütterten Hut abnahm und beides Ruby übergab. Becky huschte in die Küche, zerrte sich die Schürze über den Kopf und hängte sie an einen Haken hinter der Tür. »Du magst bestimmt einen Tee, oder?«

»Danke, Ruby! – Gerne, Becky!« Grace nahm ihre Tasche und steckte kurz den Kopf in die Küche, während Becky Teewasser aufsetzte. Auf dem mehlbedeckten und mit Teigwürmchen übersäten Tisch in der Mitte herrschte ein Durcheinander aus geöffneten Papiertüten und Stoffsäckchen, Eierschalen, Schüsseln und allerlei Rührgeräten. In dem überhitzten, äußerst heimelig wirkenden Raum stand dick der köstliche Duft von frischem süßen Gebäck. »Guten Tag, Thelma!«

»Guten Tag, Miss Norbury!« Auf dem für eine Köchin überraschend hageren, zerfurchten Gesicht unter der weißen Haube erschien ein Strahlen, und sie deutete einen Knicks an. »Sie kommen gerade recht! Die ersten Plätzchen sind fertig zum Probieren!« Mit glücklichem Stolz hielt sie Grace ein Blech perfekt gelungener, sahnig weißer und zart angebräunter Makronen hin, bevor sie es auf dem Herd absetzte.

»Das Angebot nehme ich nur zu gern an«, erwiderte Grace. »Oh, Thelma, ich war so frei, Ben anzubieten, er könnte sich nachher hier bei Ihnen mit einer Tasse Tee wieder aufwärmen, sobald er die Bestellungen für meine Mutter abgeholt hat. Ich hoffe, das kommt Ihnen nicht ungelegen.«

»Nein, ganz und gar nicht«, antwortete die Köchin, während sie mit einem Geschirrtuch als Schutz gegen die Hitze die Klappe des Backofens öffnete und hineinspähte. »Ben ist mir immer willkommen, und für ihn haben wir bestimmt auch ein oder zwei Makronen oder Lebkuchen übrig! Die gute Bertha haben Sie nicht zufällig auch mitgebracht?«

»Bertha hat sich für unabkömmlich erklärt; sie ist nämlich ebenfalls mit der Weihnachtsbäckerei beschäftigt!«

»Tja-ha«, machte Thelma kampfeslustig. »Dann wollen wir doch mal sehen, wessen Makronen Ben besser schmecken – Berthas oder meine!« Sie zwinkerte Grace zu, und die zwinkerte zurück. In dieser Zeit der Ungewissheit war es das dichte Geflecht der Menschen, die ihr von Kindesbeinen an voller Wärme zugetan gewesen waren, das ihr Halt und Geborgenheit gab.

»Danke, Thelma, sehr lieb von Ihnen!«

Grace folgte Becky durch den dunklen, niedrigen Flur. Becky warf immer wieder einen Seitenblick auf die Reisetasche, verlor jedoch kein Wort darüber.

»Setz dich doch«, sagte Becky, als sie in die Stube des Pfarrhauses traten, wo im Kamin ein munteres Feuer brannte. Aus dem Büfettschrank holte sie das gute Teegeschirr und stellte es auf den Tisch. Der runde Tisch unter der blassblauen Decke, die vier massiven Stühle und mehrere schwere, altmodisch verschnörkelte Schränke ließen den kleinen Raum überladen wirken. Die engen Fensterchen wurden von dicken Plüschportieren in einem verschossenen Kupferbraun bedrängt, und überall auf der verblichenen Blümchentapete hingen Kupferstiche mit Szenen aus der Bibel, gerahmte Bibelverse und fromme Lebensweisheiten, entweder in gedruckter Fassung oder aber zu Lebzeiten von Beckys Mutter auf Leinen gestickt.

»Hab vielen Dank, Ruby.« Das Dienstmädchen stellte das Tablett mit der Teekanne und einer Schale Makronen, Lebkuchen und Ingwerkeksen auf den Tisch und machte einen Knicks, bevor es wieder ging.

»Schau mal!« Grace wuchtete die Tasche auf ihren Schoß und ließ die Schlösser aufklicken, während Becky ihnen einschenkte. »Ich hab dir alles rausgesucht, worum du mich gebeten hast.« Nach und nach holte sie Bücher heraus und stapelte sie zwischen ihren beiden Teegedecken auf. »Shelley. Keats. Wordsworth. Das hier«, sie hielt Becky einen schmalen, in dunkles Leder gebundenen Band hin, »ist Byrons Manfred – der lag Stevie immer besonders am Herzen.« Becky stellte die Kanne ab und ließ sich langsam auf dem Stuhl gegenüber von Grace nieder. Mehrmals rieb sie die Hände an ihrem Rock ab, ehe sie das Buch entgegennahm, andächtig, beinahe ehrfürchtig. »Mit den Brontës«, Grace legte noch zwei Bücher oben auf den Stapel, »konnte er zwar nie viel anfangen; ich hab sie aber immer gerne gelesen, und vielleicht gefallen sie dir ja auch.« Sie stellte die Tasche auf den Boden und griff zu ihrer Tasse.

Reverend Peckham hatte nicht viel übrig für derlei Literatur, schon gar nicht als Lektüre für seine Tochter, sein jüngstes Kind nach zwei Söhnen, die längst aus dem Haus waren und eine eigene Familie gegründet hatten. Sollte der Herr im Himmel seine Gebete erhören, so würde Becky niemals heiraten, sondern für ihren Vater da sein, bis er eines Tages in die Ewigkeit einging. Das Zweitbeste wäre, Becky vermählte sich mit seinem Nachfolger als Pastor der Holy Trinity Church von Guildford, allenfalls noch mit einem anderen Kirchenmann. So war Becky, etwas mehr als zwei Jahre jünger als Grace, allein dazu erzogen worden, einen Haushalt selbstständig zu führen und all die Aufgaben in der Pfarrgemeinde zu übernehmen, die in die weibliche Sphäre fielen, die Leitung der Sonntagsschule eingeschlossen. Außer der Heiligen Schrift und dem Gesangbuch, lehrreichen und erbaulichen Schriften zu Küche und Kirche hatte der Reverend im Pfarrhaus keinen anderen Lesestoff für seine Tochter geduldet. Ein Mangel, den Becky immer mit scherzhaften Bemerkungen überspielt hatte, auch und gerade Stephen gegenüber. Doch je länger er nun fort war, desto größer war ihr Bedürfnis geworden, sich mit dem zu beschäftigen, was Stephens geistige Heimat ausmachte. Nicht zuletzt in der verzweifelten Hoffnung, ihn auf diesem Weg für sich gewinnen zu können.

Becky starrte das Buch in ihren Händen an, eine kleine Ewigkeit, wie es schien. Dann schlug sie es vorsichtig auf, blätterte behutsam die ersten Seiten um. Ihre Augen wanderten über die Zeilen, und ihre Lippen formten lautlos die Worte, die sie las. Sie ließ das Buch wieder sinken und fiel in sich zusammen, eine Geste der Mutlosigkeit. Ängstlich sah sie Grace an. »Und wenn ich nicht das Geringste davon verstehe?«

Grace setzte die Tasse auf der Untertasse ab und rückte mit ihrem Stuhl näher, legte die Hände auf Beckys Knie. »Dann fragst du mich einfach, ja? Ich erzähl dir gern alles, was ich darüber weiß.«

Becky nickte beklommen und legte das Buch auf den Tisch, schob es auf dem Tischtuch sachte hin und her, als müsste sie es an eine unsichtbare Markierung anpassen. »Ach, Gracie!«, brach es unvermittelt aus ihr heraus, »ich hab dir das nie gesagt, aber ich hab mir immer gewünscht, ich wär so wie du! So klug und schön und mutig und beliebt – und so ... so dünn!« Ihre großen Augen schimmerten feucht.

»Nein, Becky, das musst du nicht!« Grace rutschte bis an die Kante des Stuhls und legte der Freundin die Hand auf die Wange. »Du bist genau richtig, so wie du bist! Du bist hübsch und lebensklug und tüchtig – und ein ganz wunderbarer Mensch, einer der liebenswertesten Menschen, die ich kenne!«

»Aber«, schluchzte Becky auf, »aber ich denke immer wieder, wenn ich anders wär – dann ... dann würd Stevie mich vielleicht auch lieben können! Seine letzten Briefe waren so ... kurz. Und so trocken und nichtssagend und ...«

»Becky.« Grace nahm ihre Hände fest in die ihren. »Stevie geht’s nicht gut in diesem Krieg, wie’s wohl keinem von ihnen gerade gut geht. Wie soll er da zärtliche Briefe schreiben? Wart doch ab, wie es ist, wenn er wieder nach Hause kommt.«

Ihre Freundin nickte, doch ihre Unterlippe und ihr Kinn zitterten, und eine dicke Träne rollte ihr über die Wange. »Es ist das vierte Weihnachten, Gracie! Das vierte Weihnachten ohne Stevie und die anderen!«

»Ich weiß«, erwiderte Grace tonlos und strich ihrer Freundin über das hochgesteckte Haar. Das Warten, das unendliche Warten zermürbte sie alle, und dennoch wollte sich mit dem Verstreichen der Zeit, mit dem Einschleichen einer gewissen Müdigkeit einfach keine erleichternde Taubheit einstellen. Man gewöhnte sich zwar daran, an das Sehnen und Hoffen und Bangen, aber es wurde nicht leichter, nicht weniger schmerzlich. Das Warten war wie eine quälend langsame Fahrt durch einen endlosen, rußfinsteren Tunnel, und die Hoffnung auf den versprochenen Lichtschein wollte sich einfach nicht erfüllen.

»Weißt du, Gracie ... mittlerweile ...« Beckys Gesicht verzog sich, und sie schluckte. »Mittlerweile denke ich, ich könnt’s sogar ertragen, wenn er eine andere liebt und heiratet. Doch – ich glaub, das könnt ich wohl. Wenn ich nur weiß, dass es ihm gut geht. Wenn ich ihn nur ab und zu sehe und mich überzeugen kann, dass es ihm gut geht.« Tränen strömten ihr über das Gesicht, und sie flüsterte heiser: »Ich hab solche Angst um ihn! Ich bete jeden Tag, für sie alle, aber die Angst, die geht einfach nicht weg!«

Es war schon dunkel, als Grace wieder auf Shamley Green eintraf und sich in der Eingangshalle müde aus Mantel und Handschuhen schälte, ihren Hut absetzte und alles dem Dienstmädchen übergab. »Danke, Lizzie.«

»Gerne, Miss Grace.«

Obwohl sie schon von Weitem sah, dass der ziselierte Silberteller für die Post, eines der Mitbringsel ihrer Eltern aus Indien, in seiner eleganten Pracht leer glänzte, trat sie wider besseres Wissen an die Kommode und legte die Fingerspitzen auf das kühle Metall.

»Leider noch immer nichts für Sie oder Miss Ada, Miss Grace. Auch nichts von Master Stephen.«

Grace lächelte das Dienstmädchen matt an. Das Mitgefühl in deren Blick trieb Grace die Tränen in die Augen. Sie sehnte sich nach Trost, nach der Art von Trost, die als Kind jede Träne hatte versiegen, jeden Schmerz hatte vergessen lassen, sei es ein aufgeschlagenes Knie, eine zerbrochene Puppe oder ein Streit mit der Freundin. Grace hoffte, dass Bertha mit dem Backen noch nicht fertig war oder dass sie vielleicht bis zu den Vorbereitungen für das Dinner einen Gast in der Küche duldete, der sich nach einem Becher heißen Kakaos und Keksen und nach ein paar herzlichen Worten sehnte. Über den Innenhof wäre sie am schnellsten in der Küche, aber Grace wollte nicht noch einmal hinaus in die Kälte, und so lenkte sie ihre Schritte in den westlichen Teil des Hauses, in Richtung Salon und Musikzimmer.

Als sie um die Ecke bog, fiel ihr Blick zuerst auf Henry, der am Fuß der Treppe lag, die Schnauze zwischen den Vorderpfoten vergraben. Statt bellend und jaulend auf sie zuzuspringen, wie er es sonst zur Begrüßung tat, klopfte er nur mit der Rute auf den Boden. Dann sah sie Ada, die sich mit dem Rücken ans Treppengeländer drückte und angespannt auf dem Daumennagel herumkaute. Sie bemerkte nicht einmal, wie ihre große Schwester zu ihr trat, sah erst auf, als Grace sie sanft am Arm berührte und sie ansprach. »Ads? Was machst du hier?«

»Mama und Papa streiten sich«, flüsterte Ada bedrückt. »Seit über einer Stunde schon.«

Grace wollte ihr widersprechen. Ihre Eltern stritten sich nie, zumindest hatten ihre Kinder davon nie etwas mitbekommen. Der Colonel und Constance Norbury waren nicht immer einer Meinung, aber sie kamen stets in durchaus sachlich geführten, sehr kurzen Gesprächen zu einer Übereinstimmung, was gewiss vor allem dem sanften, nachgiebigen Wesen Constances zu verdanken war. Doch die Stimme ihrer Mutter, die Grace nun aus dem Arbeitszimmer vernahm, klang weder sanft noch nachgiebig. Sie konnte keine einzelnen Worte ausmachen, aber was sie von der anderen Seite der Tür vernahm, war tatsächlich ein handfestes, hitzig ausgetragenes Streitgespräch.

»Eigentlich wollte sie Papa noch einmal bitten, mich zumindest probeweise als Hilfslehrerin ans Bedford zu lassen«, raunte Ada. »Aber ich glaube, darum geht es schon eine Weile nicht mehr.«

Wie erwartet hatte Colonel Norbury Ada den Wunsch, am Bedford zu unterrichten, und sei es nur als rechte Hand der Lehrerin für Malen und Zeichnen, in aller Entschiedenheit abgeschlagen. Den Bachelor in Kunst anzugehen war ein Kompromiss gewesen, auf den sie sich letztlich geeinigt hatten, und so waren die Schwestern zum Ende des Sommers ans Bedford zurückgekehrt. Doch während Grace sich durchaus zufrieden wieder der französischen und der englischen Literatur widmete und sich durch die Vokabeln und die Grammatik der deutschen Sprache kämpfte, war Ada mit ihren Kursen nicht so recht glücklich. Der Stoff war ihr viel zu theoretisch und schien ihr eher dazu angetan, höheren Töchtern das Wissen zu vermitteln, wie sie ihre Mitgift gewinnbringend in Gemälden und Statuen anlegen könnten. Mit dem, was Ada wirklich am Herzen lag, hatte der Bachelor nur wenig zu tun. Sie ertappte sich ab und zu dabei, wie ihr Weg durch das College sie ganz zufällig am lichtdurchfluteten Zeichensaal im rückwärtigen Teil des Gebäudes vorbeiführte, wo sie sehnsüchtig durch die Fenster hineinspähte. Und jedes Mal machte ihr Herz einen Sprung, wenn sie sich vorstellte, sie könnte jetzt dort drin umhergehen und den Mädchen Hilfestellung geben, wenn es um die Perspektive ging, oder dabei, die Beschaffenheit einer Blüte zu erspüren und dann auch lebensecht auf das Papier zu bannen. Und als sie gestern Abend, am zweiten Tag, den die Schwestern für die bevorstehenden Feiertage wieder auf Shamley Green waren, nach dem Dinner ihrer Mutter unter vier Augen das Herz ausgeschüttet hatte, hatte diese ihr versprochen, noch einmal den Versuch zu wagen, den Colonel zu überreden. Was ihr ganz offensichtlich noch nicht gelungen war.

Grace ging zu der geschlossenen Tür und horchte, und als wäre Ada erst jetzt darauf gekommen, eilte sie hinzu und schob ihre Hand in die Hand ihrer Schwester.

»... ich bitte dich, William, hol ihn zurück!«, konnten sie ihre Mutter rufen hören, mit einer Stimme, in der sich Verzweiflung und Zorn mischten.

»Das kann ich nicht, und das weißt du auch!« Der Colonel klang verärgert. »Selbst wenn ich wollte, wäre das ein Ding der Unmöglichkeit!«

»Ist dir denn vollkommen gleichgültig, was dort unten mit unserem Sohn geschieht?«

»Himmel noch eins!« Die beiden Mädchen zuckten zusammen, als es drinnen im Zimmer einen dumpfen Schlag gab, als ob ihr Vater mit der Faust auf den Tisch gehauen hätte. »Er ist Offizier, Constance, und Offiziere ziehen nun einmal in den Krieg!«

»Er ist Offizier geworden, weil du ihm keine andere Wahl gelassen hast!«

»Ich erinnere dich immer wieder gern daran, dass es durchaus auch in deinem Sinne war, ihn erst nach Sandhurst zu schicken und dann in die Armee!«, fauchte der Colonel wie ein angeschossener Tiger.

Die Stimme ihrer Mutter wurde so leise, dass Grace und Ada sie kaum noch verstehen konnten. »Ich weiß. Eine Zeit lang war ich genauso überzeugt wie du, es würde ihm auf lange Sicht guttun. Und glaub mir, ich habe mir seither deshalb oft Vorwürfe gemacht. Ich hätte meine Bedenken nicht so leicht über Bord werfen sollen. Ich hätte zu Stephen halten müssen – wie eine Mutter es immer tun sollte.« Einige Herzschläge lang blieb es still. Als Constance wieder das Wort ergriff, klang sie näher, so als stünde sie gleich hinter der Tür. »Sollte ihm etwas zustoßen, so werde ich mir das nie verzeihen. Und ich fürchte, dir ebenso wenig.« Unter einem feinen Klicken drehte sich der Knauf, und die Tür ging einen Spalt auf, worauf die Schwestern eilig zurück zur Treppe hasteten. »Ich bitte dich nur um eins: Lass uns nicht denselben Fehler bei Ada machen. Denn dass unsere Kinder ein glückliches Leben haben, das war doch immer unser gemeinsames Ziel.«

In der halb geöffneten Tür blieb Constance stehen, das Gesicht noch zum Raum hingewandt. Es schien so, als wartete sie auf eine Erwiderung, und als diese ausblieb, trat sie aus dem Zimmer und zog die Tür leise hinter sich zu. Sie erschrak, als sie ihre Töchter erblickte, die sie ihrerseits ansahen, beunruhigt, beinahe ängstlich, Hand in Hand wie die kleinen Mädchen, die sie einmal gewesen waren. Constance ging auf sie zu und schloss sie beide in die Arme, und Grace und Ada schmiegten sich eng an sie.

Dieser Aufstand, dachte Grace, dieser Aufstand im Sudan – er ist wie ein fremdes, heimtückisches Insekt, das hierher eingeschleppt wurde. Und nun macht es sich daran, das Fundament anzunagen, auf dem unser Leben bislang so sicher geruht hat.

Es war der letzte Tag des Jahres 1884, und in Devon wanderte Nathaniel William Frederick Edward Ashcombe, der achte Earl of Ashcombe, durch das winterdürre, zitternde Gras oben auf den Klippen. Neben ihm sprang eine bellende Hundeschar einher, eine bunte Mischung aus Settern und Spaniels und Weimaranern. Unter ihnen kochte das aschgraue Meer und klatschte tosend gegen die ziegelrote Felswand. Ein kalter Wind fegte vom Wasser her über die Küste, zerwühlte dem Earl das dunkle Haar, zerrte an den Enden seines Schals und riss an seinem offen stehenden Mantel. Hier in Devon waren die Winter zu Anfang eher mild; erst Ende Januar, Anfang Februar würde es bitterkalt werden, vielleicht würde es sogar schneien.

Bella, eine steingraue Weimaranerhündin und sein Liebling, setzte sich hin und schnupperte in den Wind, und mit einem furchtsamen Ausdruck richtete sie ihre bernsteinfarbenen Augen auf ihn und winselte leise. Der Earl bückte sich und strich ihr zärtlich über den Kopf. »Ist gut, mein Mädchen. Ist doch alles gut.« Bella blickte zweifelnd drein, als wüsste sie, dass er sie belog, gab sich dann aber doch einen Ruck und trabte der Meute hinterher. Der Earl hätte gern einen herumliegenden Ast aufgehoben und seinen Hunden zum Spielen zugeworfen, aber die Kraft dafür brachte er nicht mehr auf. Seine Glieder fühlten sich an wie mit Blei ausgegossen. Mühsam setzte er einen Schritt vor den anderen und ließ sich dann erleichtert auf den Felsblock fallen, der auf dem höchsten Punkt der Klippen lag.

Reglos blieb er sitzen, sah seinen Hunden zu, wie sie vergnügt nacheinander schnappten und sich balgten und sich im Gras wälzten. Jackson würde sich gewiss gut um sie kümmern, wie er das immer getan hatte. Sofern er seine Stellung behielt. Jackson, dem er als Einzigem Bescheid gesagt hatte, wohin er ging und wann er ihn zurückerwarten könnte. Die Trennung von seinen Hunden fiel dem Earl am schwersten, aber sie mitzunehmen – das brachte er nicht übers Herz.

Er sah hinaus aufs Meer. Dies war seine Heimat, hier war er geboren und aufgewachsen. Hier lagen seine Wurzeln, über Generationen hinweg. Wurzeln, die ihm schon lange keinen Halt mehr boten. Abgestorben waren sie, vor langer Zeit schon. Wie der Rest von ihm.

Früher einmal, da hatte er gelebt; gelebt und geliebt. Bei Gott, wie hatte er Evelyn geliebt. So schön, wie sie war, so selbstbewusst und so schlagfertig und von sprühendem Temperament. Ein romantischer Narr war er gewesen, zu glauben, sie würde ihn ebenso lieben können, wenn er ihr nur genug gab. Genug Zärtlichkeit. Genug Leidenschaft. Genug Hingabe. Alles, was er war, alles, was er besaß, hatte er ihr zu Füßen gelegt. Und nichts, nichts war ihr gut genug gewesen, und nichts hatte sie je erweichen können. Noch nicht einmal die Kinder, die sie ihm geboren hatte, die fünf Enkelkinder, die ihre Töchter ihnen inzwischen geschenkt hatten. Wie Wind und Wellen den Stein der Klippen unter ihm über die Zeit abgeschmirgelt hatten, so hatten Evelyns Kälte und ihre Gleichgültigkeit ihn ausgehöhlt, mit jedem Jahr ihrer vierunddreißig Jahre währenden Ehe ein kleines bisschen mehr.

Es war gut gewesen, sie alle an Weihnachten noch einmal um sich zu haben. Sich davon zu überzeugen, dass sie ihn nicht mehr brauchten, dass sie längst ihre eigenen Leben führten, sogar Roderick, der Jüngste, der gerade an seinem Doktortitel arbeitete. Allein Royston hatte er schmerzlich vermisst. Royston, der ihm so ähnlich war, nur stärker, nur lebenslustiger, sein Erbe und sein Nachfolger. Falls er aus dem Sudan zurückkehrte. Unerträglich war es, bei jedem Brief, bei jedem Telegramm, die auf Ashcombe House eintrafen, eine Todesnachricht fürchten zu müssen. Und noch unerträglicher war es, gar keine Nachricht zu erhalten.

Der Earl war müde. Entsetzlich müde. Er sehnte sich nach einem tiefen, dunklen Schlaf, in dem er nichts mehr fühlen musste. Nichts mehr erdulden und nichts mehr fürchten. Nie mehr. Da war ein Sehnen, dem zu widerstehen er nicht mehr die Kraft hatte. Der Lockruf, der ihm ewige Ruhe, ewigen Frieden versprach, war übermächtig.

Er griff in die Manteltasche und holte das gewichtige Stoffbündel heraus, legte es auf seine Knie. Sorgsam wickelte er es auf und nahm die Waffe heraus, die er heute Morgen sorgfältig gereinigt und geprüft und geladen hatte. Seine Augen waren auf das Meer vor ihm gerichtet, auf die feine Linie, wo Wasser und Himmel aufeinandertrafen. Dann öffnete er den Mund, steckte den Lauf der Pistole hinein, presste die Mündung gegen seinen Gaumen und drückte ab.