13
Ada fand keinen Schlaf. Mit offenen Augen starrte sie in die Finsternis und sah immerzu Simon vor sich, wie er nackt im Cranleigh Waters stand, einem den Fluten entstiegenen griechischen Wassergott gleich. Immer wieder drängte ein Kichern in ihrer Kehle herauf, wenn sie an seinen Gesichtsausdruck dachte, nachdem er sie und Grace im Gebüsch entdeckt hatte; ein Kichern, das zugleich Ausdruck ihrer eigenen Verlegenheit war. Jegliche Heiterkeit erstarb jedoch unter den Hitzewellen, die stets aufs Neue durch Ada hindurchrollten. Simons Körperlichkeit war heute Nachmittag über sie hereingebrochen wie ein tosender Sturm, dem sie sich hilflos ausgeliefert fühlte. Die Finger in das Leintuch unter ihr vergraben, presste sie ihr glühendes Gesicht in die Kissen, um es am glatten Stoff zu kühlen.
Doch vergeblich. Das Zirpen der Grillen vor dem Fenster, das zähe Wuaak-wuaak-wuaak der Kröten und Frösche im Teich hinter dem Eichenwald, sonst eine solch besänftigende, einschläfernde Geräuschkulisse, ließen sich nicht ausblenden und schürten noch zusätzlich ihre Unruhe. Und das hohle Rumpeln in ihrem Magen trug das Seine zu Adas Schlaflosigkeit bei.
Eine ungewohnte Stille hatte am Abend über dem Dinnertisch gelastet, obwohl Constance Norbury versucht hatte, mit einfühlsamer Wärme die verhärteten Fronten zwischen dem in eisigem Schweigen verharrenden Colonel und ihrer Jüngsten aufzuweichen, bis sie mit bedrückter Miene ebenfalls verstummte. Eine versonnen dreinblickende Grace stocherte geistesabwesend in Roastbeef und Salat herum, und Simon, der sonst so ein flottes Mundwerk hatte, saß da, rote Flecken auf den Wangen, und hob kein einziges Mal den Blick von seinem Teller. Stephen hatte Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken, und Ada selbst hielt die Lider gesenkt, ein Engegefühl im Hals, ein Flattern im Magen, das es ihr unmöglich machte, mehr als ein paar Bissen hinunterzuwürgen. Allein Jeremy hatte seine übliche Ungerührtheit an den Tag gelegt, schien aber auch nicht unglücklich darüber zu sein, dass kein Tischgespräch in Gang kommen wollte. Als die Tafel aufgehoben wurde, war eine allgemeine Erleichterung zu spüren, und entgegen den Gepflogenheiten der letzten Tage war jeder seiner Wege gegangen, hatte sich mit einem Buch oder der Zeitung, einer Handarbeit oder einfach mit seinen Gedanken in einen Winkel des Hauses oder des Gartens geflüchtet.
Adas Zuflucht war das Piano im Musikzimmer gewesen, doch außer einzelnen Tönen, halbherzig angespielten und dann nachlässig heruntergeklimperten Bruchstücken von Melodien hatten ihre Finger nichts zustande gebracht. Als ob die Musik in ihrem Inneren alle Weisen, die sie jemals gelernt hatte, überlagerte; eine Musik, die sich nicht in Noten und Tastenfolgen übertragen ließ.
Seufzend drehte sie sich auf die andere Seite und schob sich das Kissen unter dem Kopf zurecht. Doch das Bild von Simon, von seinem Gesicht, von seinem Körper, über den das Wasser des Cranleigh perlte, verfolgte sie weiter, und die Hitze in Ada sammelte sich in ihrem Schoß, weckte dort ein süßes, ein schmerzliches Pochen, das nicht mehr weichen wollte.
Die steinerne Anatomie der antiken Statuen, präzise und nüchtern, die in allen Einzelheiten ausgestalteten, aber zweidimensionalen Akte der Fresken und Gemälde hatten Ada in Italien und Griechenland anfangs unangenehm berührt, später fasziniert, und Miss Sidgwicks Erläuterungen hatten schließlich ihre Neugierde vollends geweckt. Zunächst hatte sie es kaum über sich gebracht, auch nur verschämt anzudeuten, dass sie gern mehr über die körperlichen, die geschlechtlichen Dinge zwischen Männern und Frauen wissen wollte. Doch Miss Sidgwicks unbefangene, natürliche Art, darüber zu sprechen, hatte Ada rasch die Scheu genommen und sie bald mit unverhohlener Wissbegierde und ohne Umschweife nachfragen lassen. Durch das Wissen um diese Dinge hatte Ada sich erwachsener gefühlt, reifer, umso mehr, als das Leben im Süden vor Leidenschaft und Sinnenfreude geradezu strotzte. Aber erst jetzt, mit Simon, hatte dieses Wissen für Ada seine wahre Bedeutung erlangt.
Ada legte den Arm um eines der Kissen, presste es fest an sich. Ihre Gedanken wanderten zu Grace. Wie sie heute Nachmittag am Fluss Jeremy angesehen hatte ... Weniger neugierig denn verlangend. Beinahe vertraut. Gracie und Jeremy? Geraume Zeit grübelte sie darüber nach, wie ihr das Interesse ihrer Schwester an Stephens Freund nur entgangen sein konnte. Ob Grace ebenfalls um diese Dinge wusste? Ich muss mit Gracie über alles reden, sonst platze ich noch! Entschlossen stieg sie aus dem Bett, schlüpfte in ihre Pantoffeln und streifte den dünnen Morgenrock über ihr Nachthemd.
Im dunklen Gang vor der Tür blieb sie dann jedoch stehen, als sich ihr leerer Magen so fest zusammenzog, dass ihr beinahe übel wurde. Das Zimmer ihrer Schwester, durch ein gemeinsam genutztes Badezimmer mit dem ihren verbunden, war nur wenige Schritte entfernt, und der dünne Streifen Licht, der sich unter der Türkante hervorstahl, verriet ihr, dass Grace noch wach war und wohl wieder die halbe Nacht lang lesen würde. Aber mit ihrem gesegneten Appetit hätte Grace bestimmt auch nichts gegen einen Mitternachtsimbiss einzuwenden, und so wandte sich Ada in die entgegengesetzte Richtung und schlich die Treppe hinab, huschte den langen Korridor im Erdgeschoss entlang, an dessen Ende sich Berthas Reich befand: die geräumige Küche nebst gut gefüllter Speisekammer.
Simon schob die Tür zum Garten so lautlos wie möglich wieder zu. Mit einem Blick die Fassade hinauf und in den nächtlichen Garten vergewisserte er sich, dass er auch wirklich auf der richtigen Seite des Hauses stand. Dann zündete er sich die Zigarette an, die er vor dem Schlafengehen bei Stephen geschnorrt hatte, und schüttelte das Streichholz aus.
Das Zimmer meiner Eltern geht nach Osten, hatte Stephen ihm dabei erklärt. Also rauch bloß nicht dort, nicht rings um die Eingangstür und schon gleich gar nicht im Hof! Das wittert mein alter Herr garantiert, selbst im Schlaf, und dann gibt’s Zunder! Das ernste Gespräch unter vier Augen heute Abend mit Colonel Norbury hatte Simon wahrhaftig genügt; es verlangte ihn keineswegs nach einem weiteren.
Simon sog den Rauch tief ein und genoss das Brennen und Kratzen im Hals und in der Brust, unterdrückte ein Husten und blies den Qualm wieder aus. Er ging ein paar Schritte und ließ sich auf einen der Liegestühle fallen.
Es hatte nichts Gutes ahnen lassen, als der Colonel unvermittelt im Türrahmen der Bibliothek stand, wo Simon nach dem Dinner in einem der Sessel lümmelte, ein Buch im Schoß, das er nicht einmal aufgeschlagen hatte; er hatte nur dagesessen und den Klängen des Pianos einige Räume weiter gelauscht, die in ihrer Abgehacktheit, ihrer Zerrissenheit den inneren Aufruhr ausdrückten, den er selbst empfand.
Auf ein Wort, Mr Digby-Jones. In meinem Arbeitszimmer.
Bei der Erinnerung daran, wie die Tür hinter ihm ins Schloss schnappte, an die Schritte des Colonels durch den Raum, an die Art, wie dieser sich im ledergepolsterten Stuhl zurechtsetzte und ihn mit den Augen durchbohrte, musste Simon schlucken. Der Colonel hatte gleich das Wort ergriffen. Mir missfällt die Art der Aufmerksamkeit, die Sie meiner Tochter schenken, Mr Digby-Jones. Simons stotternde Versuche, zu beteuern, dass er von ernsthaften Absichten geleitet sei, verhallten ungehört, weggewischt von einer ungehaltenen Handbewegung des Colonels. Allein das Wort, das ich meinem Sohn gegeben habe, sowie mein Wunsch, dass in meinem Hause Frieden herrsche, halten mich davon ab, Sie aus dem Haus zu jagen. Sollte mir jedoch zu Ohren kommen oder sollte ich gar Zeuge dessen werden, dass Sie einen unziemlichen oder unehrenhaften Umgang mit meiner Tochter pflegen, werfe ich Sie nicht nur in hohem Bogen hinaus – ich sorge außerdem dafür, dass Ihre künftigen Vorgesetzten in Chichester darüber im Bilde sind.
Simons Hand zitterte, als er die fast ausgerauchte Zigarette nochmals zum Mund führte.
Haben Sie mich verstanden, Digby-Jones?!
»Jawoll, Sir«, murmelte Simon vor sich hin, in einer matten Nachahmung seiner zackigen, angstgetriebenen Antwort auf des Colonels Aufforderung wenige Stunden zuvor.
Der Zigarettenstummel erlosch in der feuchten Erde des Blumenkübels neben dem Liegestuhl. Simon fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die Haare, bis sie in alle Richtungen abstanden, stützte die Ellenbogen auf die Knie, bettete das Kinn in die Hände und versank in schwermütiges Brüten.
»Mrrau?«, machte es ein Stück weit entfernt. Tabby ließ sich vor ihm nieder und musterte Simon mit ihren unergründlichen, golden leuchtenden Augen.
»Na, Miez?«, erwiderte Simon müde. »Hattest du Erfolg auf der Mäusejagd?«
»Mrrau.« Sie schloss die Augen ein paar Mal und öffnete sie wieder, während ihr Schwanz sich um die Vorderpfoten schlang und mit der Spitze einige Male aufwärtszuckte. Schließlich erhob sie sich gnädig und stolzierte auf Simon zu, strich ihm schnurrend um die Beine.
»Du hast’s gut«, flüsterte Simon und beugte sich vor, um Tabby zu streicheln. »Dir schreibt keiner vor, wie du dich zu verhalten hast. Dir setzt keiner die Pistole auf die Brust.« Vorsichtig hob er die Katze hoch und setzte sie auf seinen Schoß, wo sie sich unter fortwährendem Gepurre zusammenringelte. »Klüger wär’s, Shamley Green in den nächsten Tagen aus freien Stücken zu verlassen. Aber weil’s in der ersten Zeit in Chichester für uns keinen Urlaub geben wird, kann ich Ada dann lange Zeit nicht mehr sehen, und das halt ich nicht aus. Bleibe ich, wird der Colonel sicher früher oder später einen Grund finden, mich rauszuwerfen – und dann sehe ich nicht nur Ada nicht mehr, sondern hab auch noch mächtig Ärger im Regiment. Ich sitze ganz schön in der Tinte, Tabby!«
Ada verlangsamte den Schritt durch den Gang, als sie eine Stimme im Garten hörte; zu leise, als dass sie die Worte verstanden hätte, jedoch laut genug, dass sie Simons Stimme erkennen konnte. Ihr Herz machte einen Satz und ließ sie mit einem Schlag jegliches Hungergefühl vergessen. Sie spähte durch die Glastür hinaus und schmolz dahin, als sie sah, wie Simon Tabby auf dem Schoß hielt, die Katze kraulte und leise auf sie einredete.
Sachte öffnete sie die Tür, damit sie Gladdy nicht weckte, der ganz in der Nähe schnarchte und erträumten Kaninchen hinterherjaulte, und trat auf leisen Sohlen hinaus.
»Hallo, Simon«, wisperte sie.
Sein Kopf ruckte hoch. »Ada.« Er klang atemlos, beinahe erschrocken und beugte sich sogleich tiefer über Tabby.
Ada blieb einige Herzschläge lang unschlüssig stehen und machte dann einen Schritt auf ihn zu. »Darf ich mich zu dir setzen?«
Ja. Nein. Besser nicht. »Klar doch!«, kam es betont forsch von ihm. Er rückte rasch zur Seite und drückte sich an die Lehne des Liegestuhls, und Ada ließ sich neben ihm nieder.
»Hat sie dir keine angekaute Maus mitgebracht? Das macht sie nämlich manchmal. Hannah regt sich jedes Mal fürchterlich auf, wenn sie beim Putzen die Überreste unter dem Kanapee oder unter einem Schrank hervorkehrt.« Sie streckte die Hand aus und kraulte Tabby zwischen den Ohren. Es durchschoss Simon heiß, als ihr Unterarm dabei seinen Handrücken streifte und ihr Knie an das seine stieß.
»Mhm«, brachte er gepresst und zusammenhanglos hervor. Er wagte nicht, sie anzusehen; nicht, solange sie nur dieses dünne Nachthemd trug und den hauchzarten Morgenrock darüber, die in dem Moment, als sie zu ihm getreten war, im Silberlicht der Gestirne die Umrisse ihres Körpers hatten durchscheinen lassen. Doch da war noch Adas Duft, eine Mischung aus frisch gestärktem Batist und blumiger Seife, mit der würzigeren Note ihrer Haut und ihres zu einem dicken Zopf geflochtenen Haares, die an einen dichten Laubwald erinnerte und die seinen Verstand umnebelte.
Seine Ohren glühten, und unwillkürlich grub er seine Finger tiefer in Tabbys Pelz. Maunzend sprang sie von seinem Schoß, nicht ohne vorher die Krallen auszufahren und sie durch den Hosenstoff in seine Oberschenkel zu bohren. Simon verbiss sich einen Schmerzenslaut. Mistvieh.
»Simon?«
»Ja?« Seine Hände, die die ganze Zeit über so wohltuend damit beschäftigt gewesen waren, durch das weiche Katzenfell zu fahren, hatten plötzlich nichts mehr zu tun, und weil er nicht wusste, was er damit anfangen sollten, klemmte er sie zwischen die Knie.
»Bitte entschuldige, dass wir heute Nachmittag so gelacht haben, Grace und ich. Es war nicht böse gemeint.«
Simons Wangen brannten, als Adas Worte die Erinnerung an jenen Moment im Fluss zurückbrachten, und noch mehr, als ihre Hand sich auf seinen Arm legte.
»Schon gut. War ja bestimmt auch ein recht lächerlicher Anblick«, entgegnete er mit einem schiefen Grinsen.
»Nein, das war es nicht.« Ada klang entrüstet und rutschte näher.
Simon hatte Mühe zu atmen. Er litt Folterqualen und wäre am liebsten aufgesprungen, verharrte aber wie gelähmt auf der Kante des Liegestuhls. »Es war«, nahm sie den Faden wieder auf, leiser, bedächtiger, geradezu verträumt. »Es war ... schön.«
Wider besseres Wissen sah er sie an. Im Sternenlicht glänzten ihre Augen, und ihre Lippen, voll und üppig und leicht geöffnet, schimmerten feucht. Und zu seinem eigenen Entsetzen spürte Simon, wie der letzte klägliche Rest an Willenskraft zerrann. Oh verflucht. Verflucht.
Ada schloss die Augen, als Simons Hände sich um ihr Gesicht legten und sie seinen Mund auf dem ihren fühlte. Er zögerte und hielt inne, als müsste er erst sichergehen, dass er nichts gegen ihren Willen tat, und küsste sie dann erneut. In Adas Bauch kribbelte es, und Schauer überliefen sie, während sein Mund den ihren umschmeichelte und seine Zungenspitze sanft die ihre anstupste. Ihre Hände ertasteten das, was ihre Augen am Nachmittag gesehen hatte, Simons feste Brust und die schmalen Flanken, die unter ihrer Berührung erbebten.
»Ada. Ach, Ada«, murmelte er an ihrer Wange, halb lachend, halb schluchzend, und Ada forderte den nächsten Kuss ein.
So still Shamley Green in dieser Nacht auch dalag, sanft umflossen von den leisen Klängen der sommerlichen Dunkelheit und geborgen in den Eichenwäldern, so fanden doch längst nicht alle unter den Dächern des Hauses ihren Weg in Morpheus’ Arme.
Das junge Blut im Haus war es, das in dieser Nacht keine Ruhe fand, in Wallung gebracht durch Sonne und Leben und die Liebe, rastlos durch einen unbestimmten Hunger, eine unstillbare Sehnsucht und den schweren, balsamischen Duft der Sommernacht. Während Ada und Simon unten im Garten in Küssen schwelgten und in dem Glück, einander gefunden zu haben, grübelte Stephen oben in seinem Zimmer, den Band mit Byrons Manfred aufgeschlagen auf der Brust, über sich selbst nach und über das, was Leben ihm bedeutete. Ob es einen Unterschied machte, was er sich davon versprach und was andere, allen voran sein Vater, davon erwarteten, und die Flut an Gedanken, an Wenn und Aber und sollte und hätte, die dabei über ihn hereinbrach, drohte ihn jeden Augenblick zu verschlingen. Wenn er nach Luft ringend aus diesem Mahlstrom auftauchte, erschien ihm Becky mit ihrer erdverbundenen Weiblichkeit wie ein rettender Fels in der Strömung. An dem er jedoch keinen Halt fand.
Mit bald neunzehn noch ungeküsst, kannte Stephen nur die Erregung des Körpers, die mechanische Erleichterung und das klebrige Beschämtsein danach. Beckys Rundungen, ihr lachender Mund und ihre lockende Stimme führten ihn beständig in Versuchung, aber noch mehr erschreckte ihn die Vorstellung, in Beckys Üppigkeit verloren zu gehen, sich nachgerade aufzulösen, und erneut zog ihn ein Sog aus Wenn und Aber in die Tiefe. Zuflucht fand er in Träumereien, in denen er seine Tage und halbe Nächte damit zubrachte, bei Lampenschein in einer Bibliothek, in einer Atmosphäre aus Stille und poliertem Holz und Leder und bedrucktem Papier, den Zauber der Poesie, die Magie des Romans zu ergründen und zu verstehen versuchte. Nirgendwo fand er mehr Trost, als wenn er sich durch dieses Phantasiereich treiben ließ, Nacht für Nacht.
Seine ältere Schwester indes hatte sich in ihrem Bett auf die Seite gerollt und hielt den vom Alter gezeichneten Baudelaire in den Armen. Zärtlich fuhr sie die Blumenranken, die Narben und Schrammen entlang, als haftete dem Leder noch etwas von Jeremy an, eine Spur seiner Berührung, bevor er es ihr gegeben hatte. Grace brauchte nur kurz die Augen zu schließen, um ihn vor sich zu sehen, wie er im Cranleigh Waters stand. Aufrecht, die Hand im nassen Haar, und sie anblickte. Ohne Scheu. Beinahe herausfordernd. Als ob er es genoss, dass sie ihn so sah.
Ihre Hand presste sich flach auf den Deckel des Buches, und der Pulsschlag unter ihrem Daumenballen wurde zu einem heftigen Pochen. Jeremy, flüsterte es in ihr. Jeremy.
Auf demselben Stockwerk, aber auf der anderen Seite des Innenhofs, lag Jeremy auf dem Rücken und starrte an die Decke, froh darüber, in Simons Abwesenheit das Gästezimmer ganz für sich zu haben. Grace’ Augen, die aus dem Laub hervorspähten, verfolgten ihn. Es hätte nicht viel gefehlt und er wäre auf sie zugewatet, hätte sie die Böschung hinabgezogen, zu sich ins Wasser, um dem Verlangen nachzugeben, das er in ihren Augen hatte aufglänzen sehen und das dem seinen so sehr glich. Wie es ihm zunehmend schwerfiel, in Grace’ Gegenwart zurückhaltend zu bleiben, nach all den Tagen, die sie unter demselben Dach zugebracht hatten, zwar den Tisch miteinander teilten, aber nicht das Bett, scheinbar endlose Stunden, aber nicht ihr Leben. Nicht genug für Jeremy, nicht nach diesen Tagen, und es war in dieser Sommernacht, dass er sein Innerstes erforschte, wie stark sein Wille sein mochte und wie groß sein Mut.