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»... nehmen wir als Beispiel Lord Raglans Erkundungsritt in der Schlacht an der Alma.«

Colonel Sir William Lynton Norbury machte eine bedeutungsvolle Pause. Seine Augen, kühl und scharf und durchdringend, wanderten über die gut zwanzig jungen Männer, die in ihren marineblauen Uniformen immer zu zweit in den Holzbänken saßen und seinen Blick aufmerksam erwiderten.

Aus dunkelblauem Tuch war auch seine eigene Uniform, jedoch entlang der Hosennaht mit einem scharlachroten Streifen versehen, der ihn als Vorgesetzten und Ausbilder auswies, und während sich die Kadetten mit Messingknöpfen als alleinigem Zierrat begnügen mussten, bezeugten Abzeichen am Stehkragen und auf den Schulterstücken des Colonels Rang.

Hochgewachsen und sehnig, fast hager, hatte er auch lange nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst nichts von der militärisch strammen Haltung eingebüßt, die ihm in all den Jahren in Fleisch und Blut übergegangen war. Obschon es ihn heute, mit bald sechzig, zunehmend Anstrengung kostete, diese beizubehalten. Die klaren, wie herausgemeißelten Züge seines Gesichts waren mit der Zeit verwittert, abgeschliffen von den scharfen Winden des Hindukusch, ausgewaschen vom Monsun und abgeschmirgelt vom Sand der Wüste. Sengende Sonne und Fieber hatten Linien und Furchen eingegraben, das einst braune Haar zu Eisgrau abgelaugt. Äderchen waren unter dem Biss von Frost und Schnee geplatzt, überzogen Wangen und Nase mit einem feinen Netz von Rötungen. Ein Gesicht, gezeichnet von Mühsal und Krieg, von einem Leben auf Messers Schneide zwischen Töten und Getötetwerden, aber auch geprägt vom Stolz, der Krone mit Leib und Seele gedient zu haben; ein Gesicht, das den Kadetten ihre Zukunft vor Augen hielt und ihnen einen Vorgeschmack bot auf das, was sie erwartete.

»Wer erklärt sich zu einer kurzen Zusammenfassung bereit?«

Aus den Augenwinkeln bemerkte er eine Hand, die sich in der ersten Reihe hob, die Finger locker und der Ellenbogen auf der Tischplatte ruhend, aufmerksam und dennoch lässig, mehr selbstsicher denn strebsam. Dieselbe Hand, die sich immer hob, wenn es eine Frage zu beantworten galt.

Seine Wahl fiel auf einen Offiziersanwärter, der das kantige Kinn auf die Faust gestützt hatte und aus glasigen Augen in die Ferne blickte. Das Gähnen, das der Kadett unterdrückte, lief wie ein Krampf durch seine untere Gesichtshälfte, und unter der Bank wippte ein Knie zu einem unhörbaren Takt, der sich in der schnellen, pendelnden Bewegung des Federhalters zwischen zwei Fingern wiederholte.

»Kadett Digby-Jones!«

Der Kopf mit dem streichholzkurzen lichtbraunen Haar ruckte hoch, und wie ein Schachtelteufel sprang Simon Digby-Jones auf. »Bitte um Verzeihung für meine Unachtsamkeit, Colonel Sir!«

Aus großen Augen sah er den Colonel an. Grau waren sie wie Regenwolken und ebenso veränderlich: In einem Moment noch rauchig in Schuldbewusstsein, klarten sie sogleich auf, bis sie fast ins Bläuliche spielten, und der breite, geschwungene Mund verzog sich auf einer Seite nach oben. »Ich bin einfach machtlos dagegen – sobald ich den Namen Alma höre, wandern meine Gedanken in gänzlich andere Gefilde!«

Vielstimmiges, wissend-raues Gelächter brandete auf, in dem Simon Digby-Jones sichtlich badete.

Die schmalen Lippen des Colonels zuckten flüchtig unter dem silbrigen Oberlippenbart, verhärteten sich dann sogleich wieder. »Ihnen wird das Lachen schon noch vergehen, Gentlemen. Und Ihnen, Mr Digby-Jones, erst recht.«

Augenblicklich herrschte wieder Stille im Raum. Colonel Norbury entging nicht der Verschwörerblick, den Digby-Jones mit den beiden Kadetten in der benachbarten Bank wechselte, als er sich wieder setzte.

»Kadett Ashcombe!«

Royston Ashcombe, der sich mit gelangweilter Miene in die Bank geflegelt hatte, als sei er nur aus Versehen hierhergeraten, setzte sich auf und erhob sich schließlich zu seiner vollen Größe.

»Um eine bessere Sicht auf das Schlachtfeld zu erhalten, ritt Lord Raglan mit seinem Stab über den Fluss«, leierte er herunter, »an der französischen Schützenlinie unter Marschall de Saint-Arnaud zur Linken vorbei und durch die gegenüberliegende russische Schützenlinie unter General Menschikow. Oben auf dem Bergrücken angelangt, befand er diesen für eine hervorragende Geschützstellung und ließ Neunpfünder dort positionieren, mit denen er die Russen zum Rückzug zwang.« Er erwiderte das knappe Nicken des Colonels und ließ sich in die Bank zurückfallen.

»Ich würde gerne Ihre Meinung dazu hören, Gentlemen – wie ist diese Entscheidung Lord Raglans aus taktischer Sicht zu bewerten?«

Die Kadetten sahen sich verunsichert an und beschäftigten sich sogleich angelegentlich mit ihren Schreibutensilien; urplötzlich schien es nichts Wichtigeres zu geben, als die Kolben der Federhalter neu zu befüllen und Bleistifte anzuspitzen.

Colonel Norbury war für seine Fangfragen berüchtigt, besonders wenn es Schlachten betraf, in denen er selbst gekämpft hatte. Er war dabei gewesen, in jenem Krieg vor gut dreißig Jahren, lange bevor die jungen Männer geboren waren, als auf der Krim englische und französische Truppen mit den Soldaten des Zarenreichs in tödlicher Umklammerung lagen. In der Schlacht an der Alma, in der Schlacht von Inkerman, als das Regiment des Colonels mehr als die Hälfte seiner Männer verlor. Es mögen nur wenige vom 95. übrig sein – aber die sind aus Eisen gemacht, hieß es danach über dieses Regiment, und niemand hier am Royal Military College hegte Zweifel an dieser Aussage.

In der ersten Reihe war wieder eine Hand zu sehen, dieselbe wie zuvor, und geradezu herausfordernd langsam ging der Colonel darauf zu, jeder seiner Schritte ein klackender Akzent. Nur wer genau hinsah, bemerkte, dass er dabei mit dem linken Bein vorsichtiger auftrat. Ein Überbleibsel seiner schweren Verwundungen während des Aufstands in Indien, die das Ende seines aktiven Dienstes bedeutet hatten. Das Victoria Cross, die höchste militärische Auszeichnung des Empire – von vielen begehrt, doch nur den allerwenigsten für herausragende Tapferkeit im Angesicht des Feindes verliehen –, war sein Trost dafür gewesen, und hier in Sandhurst machte es Colonel Norbury beinahe zu einer Legende.

Stephen zog den Kopf ein, als sich der Colonel auf die Bank zu bewegte. So starr sich seine Augen auf die Notizen vor ihm hefteten, so fieberhaft drückte sein Daumen die Kappe des Füllfederhalters auf und zu. Knick-knack. Knick-knack. Knick-knack. Kalter Schweiß brach ihm aus, als der Colonel unmittelbar vor ihm stehen blieb und er sich von dessen Augen durchbohrt fühlte. Nimm Jeremy dran, bat er stumm. Du siehst doch, dass er sich drum reißt! Nimm ihn dran! Bitte, verschon mich heute!

»Kadett Norbury!«

Es war schlimm genug, hier sein zu müssen, in Sandhurst. Doch als Sohn des Professors für Gefechtsführung in dessen Unterricht zu sitzen war die Hölle.

Mit weichen Knien stemmte Stephen sich hoch. Er musste seine ganze Kraft zusammennehmen, um dem Colonel in die Augen zu sehen, wie es Anstand und Respekt geboten. Keine Güte oder Milde konnte er darin lesen, in diesen Augen, die den seinen so gar nicht ähnelten. Stephen und seine Schwestern hatten die braunen Augen ihrer Mutter; von ihr hatte Stephen auch den empfindsamen Mund geerbt und die hohen Wangenknochen, während er sonst bis hin zum nussbraunen Haar, fein und weich wie Daunenfedern, äußerlich ganz seines Vaters Sohn war.

»Nun?«

»Lord ... Lord Raglans Ritt war eine Tat heldenhaften Mutes, Colonel Sir«, gab Stephen gehorsam das wieder, was sein Vater ihn gelehrt hatte.

»Weshalb?«

»Weil ...« Stephens Stimme versagte, und jeglicher Gedanke, den er sich zuvor zurechtgelegt hatte, zerfaserte unter dem strengen Blick des Colonels und löste sich in einer weißen Wattigkeit auf, bis sein Kopf wie leergefegt war.

Die Art, wie der Colonel durch die Nase Luft holte, verriet ihm, dass dessen Geduld bereits erschöpft, aber auch, dass er gnädig entlassen war. Mit einem tiefen Ausatmen setzte sich Stephen. Und mit einem elenden Gefühl in der Magengrube.

»Da Sie offenbar ein solch großes Mitteilungsbedürfnis besitzen, Kadett Danvers«, richtete Colonel Norbury das Wort an Stephens Banknachbarn, der noch immer mit erhobener Hand dasaß, »sind wir natürlich äußerst gespannt, was Sie zu sagen haben.«

»Danke, Colonel Sir.« Ohne übergroße Eile stand Jeremy Danvers auf und nahm seine bevorzugte Haltung ein, Schultern straff, Kinn hochgereckt und die Hände hinter dem Rücken verschränkt. »Meiner Ansicht nach ist der Erkundungsritt von Lord Raglan nicht anders als fahrlässig und leichtfertig zu bezeichnen.«

Irgendwo in den hinteren Reihen zischelte jemand missbilligend, und eine Braue des Colonels schnellte hoch. »Tatsächlich? Was lässt Sie zu diesem Schluss kommen?«

»Lord Raglan nahm nicht nur in Kauf, selbst getötet zu werden – er hat auch die Mitglieder seines Stabes in Gefahr gebracht. Das Risiko, dass der Truppenverband von einem Augenblick zum anderen ohne Führung dastehen würde, war beträchtlich. Die einzelnen Divisionen wieder unter einheitlichem Kommando zu versammeln hätte kostbare Zeit verstreichen lassen. Ein Umstand, den der Feind zu seinem Vorteil hätte nutzen können. Im ungünstigsten Fall wäre eine vernichtende Niederlage unserer Truppen die Folge gewesen.«

Colonel Norbury musterte den Kadetten einige Augenblicke lang, als könnte er ergründen, was hinter dessen ebenholzdunklen Augen vor sich ging. Jeremys Gesicht mit den starken Brauen blieb unbewegt; allenfalls sein Mund, schmal und flach wie ein Einschnitt, ließ auf eine gewisse Anspannung schließen.

»Dann«, begann der Colonel langsam, »würde mich doch sehr Ihr Urteil über General Gough interessieren, der am zweiten Tag der Schlacht von Ferozeshah in seinem weißen Mantel vorausritt, um das feindliche Feuer von seinen Soldaten abzulenken.«

Einen Herzschlag lang war es totenstill im Raum.

»Es steht mir nicht zu, über die Person General Goughs ein Urteil zu fällen, Colonel Sir«, kam Danvers’ Antwort ohne langes Zögern. Seine tiefe, wie aufgeraute Stimme klang ruhig, blieb sicher. »Schließlich war ich damals nicht vor Ort – im Gegensatz zu Ihnen, Colonel Sir. Aus rein taktischer Sicht jedoch war auch dies ein unnötiges und äußerst leichtfertiges Manöver. Zugegebenermaßen wirkungsvoll, aber ohne großen Nutzen für den Ausgang der Schlacht.«

Die Augen des Colonels verengten sich, wirkten stählern. »Verstehe ich Sie richtig, Mr Danvers: Sie stellen also die kühne These auf, wir unterlägen alle einem Irrtum, wenn wir sowohl Lord Raglan als auch General Gough für ihren Heldenmut bewundern?«

»Plebejischer Nestbeschmutzer«, zischte es aus der letzten Reihe.

Nicht einmal ein Wimpernzucken ließ erkennen, ob Jeremy Danvers es gehört hatte. Der Colonel indes hatte ein Ziel gefunden, an dem sich seine Verärgerung entladen konnte. »Sie, Highmore, halten den Mund! Es sei denn, ich fordere Sie dazu auf oder Sie wissen etwas Sinnvolles beizutragen!«

»Jawohl, Colonel Sir«, presste Freddie Highmore zwischen den Zähnen hervor und verkroch sich hinter dem Rücken des Offiziersanwärters, der vor ihm saß.

Wie ein Raubvogel, der auf seine Beute hinabstößt, wandte sich Colonel Norbury wieder Jeremy Danvers zu. »Habe ich Sie richtig verstanden, Mr Danvers?!«

In einem unausgesprochenen Kräftemessen sahen sich der Colonel und der Kadett in die Augen.

»Nein, Colonel Sir. Meine Aussagen bezogen sich lediglich darauf, dass sowohl Lord Raglan als auch General Gough ein großes Risiko eingingen und dabei die Verantwortung für die ihnen unterstellten Truppen vernachlässigten. Das Ziel eines jeden Krieges muss sein, den Feind zu schlagen und dabei die eigenen Verluste so gering wie möglich zu halten.«

»Aber beide hatten doch Erfolg, nicht wahr?« Die Stimme des Colonels, brüchig geworden unter Hitze und Kälte, spröde nach Jahrzehnten des Befehlstons, klang unvermittelt geschmeidig.

»Sie hatten Glück.«

Ein Raunen brodelte durch die Kompanie.

»... respektlos und anmaßend ...«, zischte jemand.

»Wofür hält der sich!«, giftete ein anderer.

Mit einer knappen Geste brachte Colonel Norbury die Unmutsäußerungen zum Verstummen.

»Mr Danvers, ich rate Ihnen dringend, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was unsere Armee wäre ohne Männer wie Lord Raglan oder General Gough. Männer, die maßgeblich am Aufbau unseres Empires beteiligt waren und es zu dem machten, was es heute ist.«

Worte, die einen Schlusspunkt unter diese Diskussion setzen sollten, doch Kadett Danvers fuhr unbeirrt fort:

»Ich will deren Leistung nicht in Abrede stellen, Colonel Sir. Letztlich ist es jedoch die Gesamtheit der Truppen, die über Sieg oder Niederlage entscheidet. Eine erfolgreiche Schlacht, ein gewonnener Krieg ist nie auf die Taten eines einzelnen Mannes zurückzuführen, sondern auf die vieler.«

Möglich, dass Jeremy Danvers bei diesen Worten an seinen Vater dachte; zumindest lag diese Vermutung für Colonel Norbury nahe, wenn auch nichts in der undurchdringlichen Miene oder in der gleichbleibend festen Stimme des Kadetten Aufschluss darüber gab. Die Tapferkeit von Private Matthew Danvers, der damals als Invalide von der Krim zurückgekehrt war, stellte einen der Punkte in Jeremy Danvers’ Lebenslauf dar, die ungeachtet aller Bedenken für die Annahme seiner Bewerbung ausschlaggebend gewesen waren; eine alte, nie verjährte Schuld der Armee, beglichen am nachgeborenen Sohn.

»Ja, Kadett Hainsworth?«

Sämtliche Augenpaare richteten sich auf den Kadetten, der auf sein Handzeichen hin das Wort erteilt bekam.

Nicht durch sein Aussehen allein stach er in Sandhurst aus der Masse der blau uniformierten Offiziersanwärter heraus, mit dem welligen Haar in der Farbe von Honig und Weizen, das sich trotz des kurzen Militärschnitts im Nacken kräuselte, und mit den Augen, die so blau waren wie der Sommerhimmel über Surrey. Seine Züge waren nicht unbedingt vollkommen zu nennen; dafür war die Nase eine Spur zu stark geraten, das Kinn, in dem sich wie ein Fingerabdruck ein Grübchen andeutete, etwas zu herb und die Augen, deren Schnitt zu den Schläfen hin leicht abfiel, ein wenig zu schmal. Dennoch war er nicht anders als gutaussehend zu nennen. Ein Strahlen ging von ihm aus, das einen auf der Stelle für ihn einnahm, etwas Sonniges, Heiteres, Leichtes. Vor allem wenn er lächelte oder lachte, was er oft tat, und Leonard James Hainsworth Baron Hawthorne, der Sohn des Earl of Grantham, hatte auch allen Grund dazu, hatte es immer gehabt.

»Colonel Sir.« Er nickte seinem Professor zu, bevor er Danvers ansprach, der sich halb zu ihm umgedreht hatte. »Im Großen und Ganzen teile ich deine Ansicht, Jeremy. Nur – wie willst du später als Offizier deine Männer dazu bewegen, ihr Bestes zu geben? Bis zum Äußersten zu gehen?« Einen nach dem anderen sah er die umsitzenden Kadetten an, bedachte sie mit einem Lächeln, das die Kerben um seine Mundwinkel vertiefte und das ebenso gewinnend war wie schelmisch. Ein Lächeln, das unwiderstehlich anzog, das unwillkürlich ansteckte und beifälliges Murmeln auslöste. »Das kannst du doch nur erreichen, indem du selbst ihnen ein Vorbild bist und im Ernstfall alles auf eine Karte setzt! Wenn der Offizier seinen Heldenmut unter Beweis stellt, wird jeder einzelne Soldat es ihm gleichtun.«

Faul, aber begabt, der geborene Wortführer, lautete in Sandhurst das einhellige Urteil über Leonard Hainsworth. Letzteres weniger aufgrund von Herkunft und Stand, denn aus guten bis noblen Familien mit entsprechendem Grundbesitz und Vermögen stammten hier so gut wie alle; vielmehr waren es Hainsworth’ Erscheinung und sein Charakter, die ihn zum Idealbild eines Offiziers machten, und Colonel Norbury fühlte Stolz in sich aufsteigen, einen Kadetten wie ihn in diesem Jahrgang zu haben.

»Ein wichtiger Punkt, Mr Hainsworth.«

Er wartete, bis die beiden auf einen Wink von ihm Platz genommen und bis sich die Aufmerksamkeit der ganzen Kompanie wieder auf ihn gerichtet hatte.

»Was Sie sich immer, unter allen Umständen, vor Augen halten müssen: Sie werden nicht nur Offiziere sein, sondern vor allem Gentlemen. Beides ist nicht voneinander zu trennen. Sie werden nicht nur die Krieger sein, die den Frieden unserer Nation verteidigen und bewahren. Sie werden eines Tages zur Elite dieses Empires zählen.« Der Colonel hielt inne, um die Bedeutsamkeit seiner Worte hervorzuheben, und der Glanz in den Augen der Kadetten bestätigte ihn darin, dass er seine Zöglinge dort hatte, wo er sie haben wollte.

»Es wird nicht nur Ihr Recht sein, Ihre Soldaten zu führen, sondern sogar Ihre Pflicht. Ihre Männer werden zu Ihnen aufschauen und erwarten, dass Sie ihnen sagen, was sie zu tun haben. Sie werden sie dazu bringen müssen, ohne Zögern ins Feuer zu springen und durch die Hölle zu gehen. Und das werden Ihre Männer nur dann tun, wenn sie davon überzeugt sind, dass Sie das ebenfalls tun würden. Ohne Zaudern, ohne Furcht. Im Krieg, Gentlemen«, sein Blick erfasste einen Kadetten nach dem anderen, »im Krieg ist nichts jemals wirklich sicher. Das Einzige, worauf Sie sich verlassen können, ist das, was sich in der Vergangenheit bewährt hat. Und das sind neben den Strategien, die Sie bei mir erlernen, die unumstößlichen Tugenden unserer Berufung wie unseres Standes.«

Noch einmal legte er eine kurze Pause ein, und als er in seiner Ansprache fortfuhr, betonte er jedes einzelne Wort, verlieh den Silben ein metallisches Schwingen.

»Mut. Tapferkeit. Härte. Ausdauer. Ehre.«

Der Nachhall seiner Stimme blieb ein, zwei Pulsschläge lang in der Luft des Unterrichtsraums hängen, die nach Kreidestaub, mürbem Holz und feuchter Wolle roch.

Als wäre die Abfolge genau einstudiert gewesen, ertönte in der Halle die schmetternde Tonreihe des Signalhorns und verkündete das Ende dieser Stunde. Unter dem Scharren von Schuhsohlen, dem schabenden Geräusch des steifen Sergestoffes von Hosen und Uniformröcken sprangen die Kadetten auf und salutierten in strammer Haltung.

»Zwanzig Seiten zu diesem Thema bis nächste Woche. Guten Tag, Gentlemen.«

Ein Aufatmen ging durch die Kadetten, und unter sofort einsetzendem Stimmengewirr packten sie ihre Schreibsachen und Lehrbücher zusammen, setzten ihre kreisrunden Kappen auf. Die erste Hälfte dieses Tages war überstanden; ein Dienstag, der sich in seinem Ablauf nicht von den übrigen Tagen unterschied: Weckappell um halb sieben und die erste Unterrichtsstunde eine halbe Stunde später, dann ein kurzes Frühstück und die routinemäßige Untersuchung durch den Militärarzt, Morgenappell, Reitunterricht und drei Theoriestunden hintereinander bis zum Lunch. Weitere Unterrichtsstunden und Leibesübungen füllten den restlichen Tag bis zum Abendessen um acht; allein am Samstag war ihnen ein freier Nachmittag gewährt.

Leonard und Royston drängten sich zwischen den anderen Kadetten hindurch.

»’tschuldige, wenn ich dir eben in den Rücken gefallen bin.«

Mit einem entwaffnenden Grinsen ließ sich Leonard auf dem Tisch nieder, ein Bein fest am Boden, das andere locker über die Kante baumelnd. Seine nachlässig vollgestopfte Mappe stellte er auf dem Oberschenkel ab und ließ die Arme verschränkt darauf ruhen.

Jeremy sah nicht auf, räumte weiter sorgsam Lineal, Füller und Bleistifte in die dafür vorgesehenen Fächer der speckigen Ledertasche. »Nicht der Rede wert. Ich bin durchaus fähig und willens, andere Meinungen gelten zu lassen.«

Leonard lachte und machte eine halb entschuldigende, halb verständnisvolle Geste in Stephens Richtung, die dieser mit einem müden Heben der Schultern beantwortete. Derlei Anspielungen auf Geisteshaltung und Unterrichtsstil des Colonels kümmerten ihn nicht, und er verspürte auch keine Neigung, seinen Vater zu verteidigen.

»Du kommst doch am Wochenende mit nach Givons Grove, oder, Jeremy?« Simon kam von seiner Bank herübergeschlendert und schlenkerte seine Tasche am Henkel neben sich her. Seite an Seite mit Royston, einem der Größten in der Kompanie, wirkte Simon, der das vorgeschriebene Mindestmaß von vierundsechzig Inches für die Aufnahme in Sandhurst nur knapp erreichte, noch kleiner, als er tatsächlich war, nachgerade schmächtig und wesentlich jünger als achtzehn.

»Ja, das wollte ich dich auch schon –«, setzte Leonard an, brach aber ab, als er Wortfetzen aus einem Grüppchen aufschnappte, das sich gerade durch den Mittelgang auf ihn zu bewegte. Die Heiterkeit auf seinem Gesicht erlosch, und seine hellgoldenen Brauen zogen sich zusammen. Sein Bein schnellte vor und versperrte den Kadetten den Durchgang. »He, Highmore! Sag ruhig laut, was du eben so feige getuschelt hast! Oder hast du nicht genug Mumm?«

Freddie Highmores blasse Augen wichen Leonards herausforderndem Blick aus, schweiften über Royston und Simon, die ihm, spöttisch der eine, angriffslustig der andere, entgegensahen, wanderten hinüber zu Stephen, der sich zu ihm umgedreht hatte, und saugten sich dann an Jeremys Nacken fest. Unter der sommersprossigen Haut spannten sich die Kiefermuskeln stramm an. »Und ob ich den hab! Kann ruhig jeder wissen, was ich denke! Eine Schande ist das, dass eine Kanaille wie Danvers hier überhaupt zugelassen wird und dann –«

»Ah-ah«, fiel Leonard ihm ins Wort und wackelte mit dem Zeigefinger, deutete dann auf Jeremy. »Nicht mir sollst du das sagen. Sondern ihm, und zwar direkt ins Gesicht. – Wo du doch so unglaublich viel von Ehre, Tapferkeit und Anstand hältst ...«, fügte er neckend hinzu, unterstrichen von einem Lächeln, das beinahe schon charmant ausfiel.

»Lass gut sein, Len«, kam es von Jeremy. In einer energischen Bewegung zurrte er die Schnalle an seiner Tasche zurecht.

Leonard und Freddie maßen sich mit Blicken, bevor Ersterer mit einem Schulterzucken das Bein herunternahm und die Kadetten um Highmore vorbeiließ.

»Du weißt, Sis und ich rechnen fest mit dir am Wochenende«, wandte er sich wieder an Jeremy.

Jeremy zeichnete mit dem Finger die Nähte im Leder nach und schwieg.

»Na komm schon!« Leonard boxte ihn gegen die Schulter. »Ist alles ganz zwanglos!« Als Jeremy ihn ansah, den Mund spöttisch verzogen, lachte er und hob die Hände. »Also schön – zumindest größtenteils zwanglos! Für den Abend leih ich dir aber gern einen Frack.«

»Du wirst wohl nicht unserer illustren Gesellschaft –«, protestierte Royston.

»... und der der Mädels!«, schnurrte Simon voller Vorfreude.

»... und der der Ladys«, nahm Royston mit hochgezogenen Brauen den Faden wieder auf, »ein Wochenende in dieser langweiligen Höhle hier vorziehen!« Drohend richtete er den Zeigefinger auf Jeremy. »Versuch gar nicht erst, dich damit rauszureden, dass du noch lernen musst! Du könntest die Prüfungen jetzt schon mit links bestehen! Im Gegensatz zu uns armen Würstchen, die wir im Schweiße unseres Angesichts noch pauken werden, bis unsere Schicksalsstunde geschlagen hat.«

»Becky ist auch eingeladen – nicht wahr, Stephen?«

Leonards augenzwinkernde Bemerkung rief eine leichte Röte auf Stephens Wangen hervor.

»Du könntest dann endlich auch Ada kennenlernen«, lenkte dieser hastig ab. »Sie kommt heute nämlich wieder nach Hause.«

Jeremy schwieg, zwei, drei Herzschläge lang. Gestreift von einem unbefangenen, überschäumenden Lachen. Einem Paar brauner Augen. Einem Duft wie von feuchten Grashalmen, von Klee und Schlüsselblumen.

Er stand auf und griff nach seiner Tasche.

»Mal sehen.«