12

Träge lag der Garten von Shamley Green unter der mittäglichen Sonne. Nur dann und wann war ein halbherziges Tschilpen aus den Bäumen zu hören. Bienen und Hummeln trödelten saumselig zwischen den leuchtend roten Blüten der Feuerbohnen herum. Auf dem Phlox und den Bartnelken in Fuchsia und Rosé saßen die zartgelben Heufalter und tigergefleckten Kleinen Füchse und klappten voller Muße ihre Flügel auf und wieder zu. Selbst das Blöken der Schafe in der Ferne klang verschlafen, und leise, ganz leise, hörte man den Cranleigh Waters in seinem Bett gluckern.

Ihren Skizzenblock auf den angezogenen Knien, einen nackten Fuß auf der Decke, den anderen im Gras, versuchte Ada sich an einem Porträt ihrer Schwester, die sich vor ihr ausgestreckt hatte. Grace lag auf der Seite, ein aufgeschlagenes Buch vor sich, den Kopf halb in der Armbeuge vergraben und einen träumerischen Ausdruck auf dem Gesicht. Allein die Finger ihrer einen Hand bewegten sich sacht, während sie Tabby, die sich neben ihr zusammengerollt hatte, das Fell kraulte, was die Katze mit einem gleichförmig rollenden Puurrr-puurrr-puurrr-puurrr beantwortete. Doch obwohl alles stimmte – Modell, Perspektive, Atmosphäre –, wollte die Zeichnung nicht gelingen. Vor Adas Augen schob sich immer Simons Gesicht, und ihre Finger kribbelten vor Verlangen, seine markigen Züge, seine weichen Augen aus dem Gedächtnis aufs Papier zu bannen. Seinen Mund vor allem, der sie auf solch verwirrende Weise verlockte, dass sie sich in den letzten Tagen immer wieder dabei ertappt hatte, wie sie daraufstarrte, ein sehnsüchtiges Ziehen in der Magengegend, bevor sie sich zusammenriss und schamesrot ihren Blick abwandte.

Verstohlen, beinahe so als müsste sie derartiger Anwandlungen wegen ein schlechtes Gewissen haben, sah sie zu ihren Eltern hinüber, wie sie unter der Eiche am Tisch saßen. Ihre Mutter schrieb Briefe, und ihr Vater las sich unter verhaltenem Seitengeraschel durch die Zeitung. Beide genossen ganz offensichtlich die friedliche Stille dieses Sonntags, eine Stille, die selten geworden war auf Shamley Green. Seit Stephen vor gut einer Woche, am Tag nach der Entlassungsfeier in Sandhurst, wieder sein eigenes und Simon und Jeremy zusammen eines der Gästezimmer bezogen hatten, ging es in Haus und Garten lebhaft zu. Schon am frühen Morgen fanden sich Leonard, Cecily und Royston mit Tommy im Schlepptau ein, und wann immer sie konnte, stieß Becky dazu. Wenn sie nicht zu Pferd und mit dem Tilbury die Gegend unsicher machten, schlugen sie unter großzügiger Auslegung der Regeln Tennisbälle über das Netz, rangelten die Jungs untereinander und mit Gladdy um einen zerfledderten Rugbyball, angefeuert von den Rufen der Mädchen. Und halbe Tage und Nächte lagerten sie im Garten, bei Zitronenlimonade und den Häppchen, mit denen Köchin Bertha sie verwöhnte, und lachten und redeten. Erzählten sich von den Streichen, die sie als Kinder ausgeheckt hatten, schmiedeten Pläne für den Rest des Sommers und für die Zeit danach.

Umso stiller und verlassener empfand Ada heute den Garten. Als ob ihre Familie ihr plötzlich nicht mehr genügte, und sie fühlte sich fast ein wenig schuldig bei diesem Gedanken.

Royston und Cecily waren mit Lord und Lady Grantham nach Devon aufgebrochen, um unter dem Familienschmuck der Ashcombes vielleicht ein Stück zu finden, das Cecily als Verlobungsring gefiel. Danach sollte es nach London gehen, um für Cecily eine Robe für die Verlobungsgesellschaft anfertigen zu lassen und um auf Estreham House alles für die bevorstehende Feier zu planen und vorzubereiten. Und da diese Reise nach Devon für die künftig verschwägerten Familien eine gute Möglichkeit bot, sich besser kennenzulernen, waren Leonard und Tommy mitgefahren.

Ada unterdrückte ein sehnsuchtsvolles Seufzen und widmete sich wieder ihrem Skizzenblock. Mit der Kuppe des kleinen Fingers verrieb sie die Zeichenkohle auf dem Papier zu einem Schatten, der jedoch nicht zufriedenstellend ausfiel. Sie zog die Brauen zusammen und legte den Kopf leicht schräg, kaute angespannt auf ihrer Lippe, während sie überlegte, wie sich das, was ihre Augen sahen, besser einfangen ließe.

»Ich dachte, wir könnten nächste Woche nach London fahren und uns um deine neue Garderobe kümmern«, drang die Stimme ihrer Mutter herüber. »Was meinst du, Ada?«

Adas Pulsschlag beschleunigte sich, und Bangigkeit stieg in ihr auf. Noch immer hatte sie es nicht über sich gebracht, ihren Wunsch, ans College zurückzukehren, zu äußern und ihre Eltern um deren Erlaubnis zu bitten. Morgen – morgen werd ich’s tun, hatte sie sich ein um den anderen Tag versprochen und es dann doch wieder aufgeschoben.

»Ada?«

Ohne aufzusehen, kratzte sie mit dem Daumennagel an der Kohle in ihrer Hand. »Ich glaube, ich möchte mein gesellschaftliches Debüt gerne noch etwas verschieben, Mama«, erwiderte sie schließlich leise.

Sie spürte die Augen ihrer Eltern und ihrer Schwester auf sich. Unvermittelt wirkte die eben noch so ruhige, behagliche Stimmung des Gartens wie aufgeladen.

»Aber warum denn, Liebes?« Ihre Mutter klang besorgt. »Hast du Angst vor dem, was damit auf dich zukommt? Angst, dem nicht gewachsen zu sein? Weder im Mai auf Givons Grove noch bei Stephens Entlassungsfeier hatten wir den Eindruck, du fürchtest dich vor den vielen Menschen. Du hast beide Anlässe doch ganz vorzüglich gemeistert!«

»Nein, Mama, das ist es nicht.«

Grace hatte sich aufgerichtet und reckte sich nach Ada, legte ihr die Hand auf das Schienbein. »Was hast du, Ads?« flüsterte sie ihrer kleinen Schwester zu, doch diese schüttelte nur abwehrend den Kopf.

»Was ist es dann?« Constance Norburys Besorgnis schlug um in Ratlosigkeit.

Ada legte die Kohle auf den Skizzenblock und umschlang ihre Knie. Schweigend sah sie zu, wie Gladdy sich mit auf den Boden gehefteter Schnauze zielstrebig ein ganz bestimmtes Fleckchen Rasen aussuchte und sich der Länge nach hinwarf, sich unter wohligen Grunzern auf dem Rücken wälzte und dann schüttelte, bevor er in den Schatten eines Baumes trabte und sich mit einem Schnaufen niederfallen ließ.

»Ada – deine Mutter hat dich etwas gefragt«, ermahnte der Colonel sie nachsichtig.

Angst schlug ihre Klauen in Adas Herz. Jetzt oder womöglich nie mehr. Sie wünschte sich so sehr, Simon an ihrer Seite zu haben, dass das Sehnen nach ihm mit aller an Macht an ihr zerrte. Und ihr war, als flüsterte er ihr ins Ohr: Du schaffst das, Ada. Das weiß ich.

Sie atmete tief durch, wandte den Kopf und sah ihre Eltern an. »Ich möchte im Herbst zurück ans Bedford.«

Die Luft im Garten schien sich zusammenzuballen wie vor einem Gewitter.

Tapfer hielt Ada dem blau funkelnden Blick des Colonels über den Zeitungsrand hinweg stand.

»Das halte ich für keine gute Idee«, sagte er schließlich und vertiefte sich wieder in seine Lektüre.

Enttäuschung schnürte Adas Magen zusammen, und sie musste schlucken. Grace rutschte neben sie, und der Arm ihrer Schwester, der sich um ihre Schultern legte, gab Ada neue Kraft. »Ich will es aber!«

Der Colonel ließ die Zeitung sinken und betrachtete seine jüngste Tochter, die immer so brav gewesen war, die immer gehorcht und nie Widerworte gegeben hatte und deren Augen nun so angriffslustig blitzten, und er schwankte sichtlich zwischen Verwunderung und Verärgerung.

»Bitte, Papa, erlaub es ihr!«, drängte Grace. »Wenn es ihr doch so wichtig ist!«

»Sie ist ja erst siebzehn – auf ein oder zwei Jahre mehr bis zu ihrem Debüt käme es doch wahrhaftig nicht an«, überlegte Lady Norbury halblaut und sah ihren Mann abwartend an.

Adas Mut sank, als die Miene ihres Vaters sich verdüsterte. »Grace – lass deine Mutter und mich bitte mit deiner Schwester allein.«

»Aber Papa –«

»Grace!« Das metallische Schwingen in seiner Stimme verhieß, dass er mit seiner Geduld am Ende war, und Grace drückte Ada einen Kuss auf die Wange, sammelte ihr Buch und ihre Schuhe ein und erhob sich. Betont langsam ging sie zum Haus hinüber und ließ sich auf einem der Liegestühle im Schatten nieder.

Auch Ada stand auf und zog aus der Tasche ihres Sommerkleides einen Umschlag, der recht zerknittert aussah, weil sie ihn seit dem ersten Tag nach ihrer Heimkehr unablässig mit sich herumgetragen hatte. Sie trat zu ihren Eltern an den Tisch und legte das Kuvert vor ihren Vater hin. »Hier, Papa – Mama. Ein Brief von Miss Sidgwick an euch.« Unruhig sah sie zu, wie ihr Vater den Umschlag öffnete, den Brief auseinanderfaltete und zu lesen begann. »Sie findet, ich sei begabt, ich hätte mir damals nur die falschen Fächer ausgesucht. Fächer, die mir einfach ...« Ada verstummte, als ihr Vater, ohne aufzublicken, den Finger hob und sie damit bat, zu warten, bis er den Brief ganz gelesen hätte. Sie schenkte ihrer Mutter einen dankbaren Blick, als diese die Hand ihrer Tochter nahm und sie festhielt, als der Colonel das Schreiben an sie weitergab.

Tabby rekelte sich auf der Decke und begann genüsslich den Stoff unter ihr mit den Krallen zu bearbeiten, während Gladdy zu den drei Menschen am Tisch hinüberschielte und dabei seine Stirn fortwährend zu immer neuen Fragezeichen verwarf.

»Hast du vergessen«, mahnte der Colonel leise an, als Constance den Brief hinlegte, »in welch beklagenswertem Zustand du vom College zurückgekommen bist?«

Seine Worte waren wie ein Stich mitten in Adas Herz. Wie hätte sie das vergessen können? Die Scham, bloßgestellt zu sein, das Gefühl, so winzig und unbedeutend und dumm zu sein wie ein Wurm – so etwas blieb einem im Gedächtnis haften.

»Nein, Papa. Das habe ich nicht vergessen«, erwiderte sie kleinlaut und kämpfte gegen die Tränen an, die hinter ihren Lidern brannten.

»Keiner von uns«, er deutete auf sich und auf seine Frau, »möchte je wieder erleben, dass es dir so schlecht geht.«

»Ich auch nicht, Papa, glaub mir.« Hoffnung keimte in Ada auf, machte ihre Stimme weich, beinahe schmeichlerisch. »Aber ich will es trotzdem noch einmal versuchen. Bitte – gebt mir eine zweite Chance. Ich weiß, dass ich es dieses Mal besser machen kann.«

Nachdenklich strich sich der Colonel über seinen Bart, deutete dann auf den beschriebenen Bogen auf dem Tisch. »Miss Sidgwick schreibt, du würdest gern Musik und Kunst als Fächer belegen.« Ada nickte, und die Brauen ihres Vaters hoben sich. »Wozu brauchst du dafür das Bedford? Malen und Musizieren kannst du auch hier, auf Shamley. Wenn du weiteren Unterricht möchtest, stellen wir auch einen Hauslehrer für dich ein.«

Ein mehr als großzügiges Angebot, das wusste Ada, aber das war nicht das, was sie wollte. »Ich möchte einen Abschluss vom College haben. Ich – ich möchte später selbst unterrichten.«

Unwillkürlich duckte sie sich, als eisblaue Blitze sie trafen. »Ich hab mich wohl verhört?!«

Sie schüttelte mit betretener Miene den Kopf. »Nein, Papa. Ich möchte Lehrerin werden wie Miss Sidg-«

Ada und ihre Mutter zuckten zusammen, als die flache Hand des Colonels auf den Tisch knallte und das Teegeschirr unter leisem Klirren erbeben ließ. »Jetzt schlägt’s dreizehn! Keine Norbury ist je so tief gesunken, dass sie arbeiten musste! Schon gar nicht als Lehrerin!«

Tabby huschte mit hochgerecktem Schwanz auf ihren Samtpfoten davon, und Gladdy schlich mit tief eingezogenem Kopf und Elendsmiene in Richtung des Hauses.

»Aber Mama hat doch auch allein Shamley geleitet, während du –«

»Hat dir etwa Digby-Jones diese Flausen in den Kopf gesetzt?«

Ada starrte ihren Vater erschrocken an, und voller Entsetzen spürte sie, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. »N... nein«, stotterte sie. »Ich bin ganz allein darauf gekommen, in der Zeit, als ich fort war.«

»Wenn ich gewusst hätte, dass du mit solch absurden, solch inakzeptablen Ideen zu uns nach Hause zurückkehrst, hätte ich dich niemals –«

Als die Stimmen des Colonels und Adas immer lauter und erregter wurden, sprang Grace auf. Die sanfte Tonlage Constances ging dazwischen fast völlig unter, wie auch ihre Bemühungen um Vermittlung zwischen Vater und Tochter scheiterten. Grace wog gerade noch ab, ob es für Ada hilfreich wäre, wenn sie sich der Anordnung ihres Vaters widersetzte und sich einmischte, da riss Ada sich von ihrer Mutter los und rannte tränenblind auf das Haus zu.

Grace lief ihr entgegen, fing ihre Schwester in den Armen auf, drückte sie an sich.

»Er lässt mich nicht, Gracie!«, schluchzte Ada an ihrer Schulter. »Er will nichts mehr davon hören!«

Stumm sah Grace hinüber zu der Eiche, wo ihr Vater von seinem Stuhl emporgeschnellt war und seiner Aufgebrachtheit in Worten und Gesten freien Lauf ließ. Es schien unwahrscheinlich, dass sein Zorn rasch wieder verrauchen würde, obwohl Constance besänftigend auf ihn einredete, nicht nachließ, ihn begütigend bei der Hand zu nehmen, die er ihr jedes Mal wieder entzog. Grace’ Magen ballte sich zu einem harten Knäuel zusammen. Es brauchte einiges, um den Colonel derart außer Fassung zu bringen; selbst in den keineswegs nüchtern geführten Auseinandersetzungen um Stephens Zukunft hatte er nie die Beherrschung verloren. Vor allem hatte es auf Shamley Green noch nie einen solch heftigen Streit zwischen dem Colonel und Ada gegeben, die er immer gehütet hatte wie seinen Augapfel und die ihm das mit zärtlicher Hingabe vergalt. Und Grace hegte den Verdacht, dass der Anwesenheit von Simon Digby-Jones auf Shamley Green eine besondere Rolle in diesem Zerwürfnis zukam.

»Zieh dir Schuhe an und hol deinen Hut«, murmelte sie tröstend gegen Adas Schläfe. »Lass uns zum Fluss hinuntergehen.«

In einem weiten Bogen schlenderten sie am Haus und dem angrenzenden Eichenhain, dem von Rohr und Schilf halb überwachsenen Teich vorbei, durch Wiesen und überreife Getreidefelder, aus denen Lerchen in steilem Flug aufstiegen und dabei ihr fröhliches Lied zur Erde herabperlen ließen. Ada wischte die Tränen fort, die ihr immer wieder über die Wangen liefen, während sie der Schwester ihr Herz ausschüttete. Ada gab die Auseinandersetzung mit ihrem Vater wieder und schilderte ihre Wünsche für ihre Zukunft. Und sie erzählte von Miss Sidgwick. Deren unabhängiges Leben – mit eigenem Geld und eigener Wohnung! –, erfüllt von Musik und Kunst und Reisen und voller junger, wissbegieriger Mädchen, die sie behutsam auf ihren ersten Schritten in ein eigenes Leben anleitete, hatte Ada auf ihrer gemeinsamen Reise so beeindruckt, dass sie ihr nacheifern wollte.

Aufmerksam hörte Grace ihr zu, durchkämmte im Gehen mit den Fingern hoch aufragende Gräser, rupfte einzelne Ähren vom Wegesrand ab und zupfte gedankenvoll die blassgoldenen Körner heraus.

»Wenn du magst«, sagte sie schließlich, »spreche ich mit Vater und versuche ihn umzustimmen.«

Ada blieb stehen. Die Hände zu Fäusten geballt, zog sie die Unterlippe zwischen die Zähne und dachte nach. »Das ist lieb von dir, Grace. Aber ...« Ihr tiefer Atemzug lief als ein Zittern durch ihre schmale Gestalt. »Aber ich glaube, das muss ich selbst tun. – Wenn ich auch noch nicht weiß, wie ich das anstellen soll.« Das kleine Lächeln, das sich auf ihrem Gesicht andeutete, erstarb wieder, und Ada runzelte nachdenklich die Stirn. »Was ich dich schon länger fragen wollte, Grace ... Hattest du nie den Wunsch, mehr aus deinem Leben zu machen, als eines Tages nur zu heiraten?«

Erstaunt sah Grace ihre kleine Schwester an. »Nein. Warum auch?«

Nun war es an Ada, verblüfft dreinzublicken. »Hattest du nie den Drang, das hier«, in einer großen Geste zeigte sie auf die in allen Farben des Regenbogens blühende Sommerwiese, auf den Wald und auf das Dickicht entlang des Flusses, »hinter dir zu lassen und einen ganz anderen Lebensweg einzuschlagen?«

Grace senkte den Blick auf den langen Halm, den sie zwischen den Fingern drehte. »Du meinst – ein anderes Leben zu führen als Mama?«

»Ja! Du hättest doch mit Leichtigkeit nach deinem Abschluss am Bedford noch das Examen an der Universität machen können!«

Seit drei Jahren war es zumindest theoretisch möglich, dass die Absolventinnen des Bedford am College weiterführende Kurse besuchten und dann die Prüfungen zum Bachelor und zum Master an der Universität von London ablegten. Ein Angebot, das anfangs so gut wie keines der Mädchen, keine der jungen Frauen in Anspruch genommen hatte; erst jetzt begannen sich einige wenige dafür zu entscheiden. Grace hatte durchaus mit dem Gedanken gespielt, schließlich hatte sie eine schöne Zeit am Bedford verbracht. Sie lernte gern und leicht, hatte das Leben in der Gemeinschaft von Schülerinnen, Lehrerinnen und Mentorinnen gemocht. Aber sie wusste auch, dass man als Frau mit einem solchen Examen nicht besonders viel anfangen konnte – zumindest noch nicht. Und vor allem nicht in den Kreisen, zu denen die Norburys gehörten.

»Ich lasse dir sehr gern den Vortritt, Schwesterchen«, neckte sie Ada, kitzelte sie mit der Spitze des Grashalms in der Halsbeuge, sodass Ada aufkicherte. »Aber beeil dich besser mit deinem Lehrerinnen-Dasein! Damit ist’s nämlich vorbei, sobald Simon um deine Hand anhält!«

Die Schwestern brachen in Lachen aus, doch es geriet flach und ebbte rasch ab. Keine der wenigen Lehrerinnen, keine der Mentorinnen des Bedford war verheiratet, und sobald eine von ihnen den Bund fürs Leben einzugehen gedachte, trat sie umgehend von ihrem Posten zurück. Einen Beruf auszuüben und Ehefrau zu sein und Mutter, das waren zwei Dinge, die als unvereinbar galten, und es war ein ungeschriebenes gesellschaftliches Gesetz, dass Letzteres immer vorzuziehen war.

Auf Adas Gesicht, in dem sich stets jeder Gedanke, jede Regung spiegelte wie in einem tiefen, stillen See jede über den Himmel hinwegziehende Wolke, zeichnete sich der Zwiespalt ab, in den Simon sie gestürzt hatte.

»So ein Leben, wie Mama es hat, Ads«, flüsterte Grace, »genau so ein Leben wünsch ich mir. Einen Mann, den ich liebe und der mich liebt.« Jeremy. »Ein Haus voller Bücher. Einen Garten, vielleicht sogar ein kleines Anwesen. Und Kinder, viele Kinder.« Jeremys Kinder. Sie zog eine Schulter hoch; eine Geste, die verlegen wirkte und gerade deshalb an ihr beinahe verstörend. »Ich kann nicht alles haben, und wenn ich mich schon entscheiden muss, dann entscheide ich mich dafür.«

Lange sahen die Schwestern sich an, als wären sie sich zum ersten Mal ihrer Gegensätzlichkeit bewusst. Grace, die in kleinen Dingen so ungestüm und wild und unerschrocken sein konnte und vom Leben doch nichts anderes ersehnte als das, was ihr ohnehin vorherbestimmt war. Und die brave, schüchterne Ada, die voll neuer Eindrücke und Gedanken aus der Fremde heimgekehrt war und die sich nun daranmachte, ihre kleine Welt aus den Angeln zu heben.

»Komm«, sagte Grace und ergriff Adas Hand, »wir hängen die Füße ins Wasser. Wie früher.«

Der schmale Pfad, den sie in Kindertagen so oft entlanggewandert waren, war längst nicht mehr zu sehen, und doch trugen sie die Erinnerung an seinen Verlauf noch immer in sich. Die Röcke bis über die Knie geschürzt, stapften die Mädchen zielstrebig durch die Wiese, hinunter zu der Wildnis aus Erlen und Salweiden, die das Reich des Eisvogels – des Königs aller gefiederten Fischer – und des Teichrohrsängers, das der stelzbeinigen Reiher und der Libellen beschirmten und bewachten. Schweigsam, als befänden sie sich an einem geheiligten Ort, streiften sie durch den purpur blühenden Beinwell und durch die Rohrkolben, zwängten sich an eng stehenden Stämmen vorbei und duckten sich unter überhängenden Zweigen hindurch.

Grace, die vorausging, blieb unvermittelt stehen, noch halb gebückt unter einem tiefen Ast. »Da ist uns jemand zuvorgekommen«, raunte sie über die Schulter.

Jetzt konnte auch Ada Stimmen und Gelächter hören, halb verschluckt vom Rauschen und Plätschern des Wassers. Unmut machte sich auf ihrem Gesicht breit. Hier war der Cranleigh breiter und tiefer, ein verborgenes Fleckchen, das für Ada mit Erinnerungen an so viele Sommertage verbunden war, dass sie diese Stelle allein für sich und ihre Schwester beanspruchte und mit niemandem teilen wollte. Trotzig blieb sie stehen, während Grace sich noch ein paar Schritte weiter durchs Gebüsch geschlichen hatte und sie heranwinkte, mit einem vergnügten, geradezu schalkhaften Lächeln.

»Schau dir das an«, wisperte Grace, atemlos vor unterdrücktem Lachen, und zog ihre Schwester zu sich heran, schob sie dichter in die Zweige.

Ada stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte zwischen den Blättern hindurch, gab dann einen erstickten Laut von sich und presste die Hände auf den Mund.

Auf der gegenüberliegenden Böschung, im Schatten des hochwuchernden Dickichts, hockte Stephen, hemdsärmelig und barfuß unter hochgekrempelten Hosenbeinen, und duckte sich lachend unter den Wasserspritzern, die ihn aus der Mitte des Flussbetts trafen.

»Nun komm schon, zier dich nicht so! War doch deine Idee!«, rief Jeremy, der bis zu den Knien im Wasser stand.

»Feigling! Feigling!«, skandierte Simon, bückte sich und schaufelte mit beiden Händen einen Schwall Wasser auf Stephen.

Und ebenso wenig wie Jeremy trug Simon noch einen Faden am Leib; Hosen, Hemden, Strümpfe und Schuhe der beiden lagen in einem unordentlichen Haufen neben Stephen.

Ada ließ die Hände sinken und starrte mit weit geöffnetem Mund, weit geöffneten Augen hin und vergaß beinahe das Atmen.

Nackt sah Simon gar nicht mehr klein und schmächtig aus. Breite Schultern mit kräftigen Schlüsselbeinen thronten über einem von ausgeprägten Muskelpartien quer gerippten Torso, der in schmale Hüften auslief. Wenn er sich vorbeugte, spannten sich unter seiner beinhellen Haut Sehnen und Muskelstränge, und wenn er sich aufrichtete und sich mit beiden Händen Wasser über das Gesicht laufen ließ, ähnelte er in seiner scharf modellierten Körperlichkeit Michelangelos David, den Ada in Florenz eingehend studiert hatte. Und als ihr Blick auf sein Geschlecht fiel, eingebettet in ein dichtes dunkles Dreieck, loderte in ihrem Bauch ein Feuerball auf und ließ einen Glutstrom durch ihre Adern kreisen.

Grace konnte ihren Blick nicht von Jeremy lösen, der unbekleidet mehr denn je wie aus Lehm geformt wirkte, die Muskeln seines kraftvollen Leibes stramm gebündelt. Gegen die gebräunte Haut seines Gesichts und seines Halses, seiner Hände und Unterarme stach die Haut seines übrigen Körpers blass ab wie sonnengetrocknete Tonerde. Umso dunkler wirkten die Haare auf seiner Brust, die sich am ersten Rippenbogen sammelten und sich als feine Linie bis zum Schattental seiner Scham hinabzogen. Mit ihren Augen fuhr Grace die Biegung seines Rückgrats entlang, hinunter zu den vollkommen halbrunden Hinterbacken, glatt und hart wie Rosskastanien im späten Herbst. Als er sich reckte, sich eine Handvoll Wasser über den Kopf goss und sich das nasse Haar aus der Stirn strich, ließ ein verirrter Sonnenstrahl die feinen Härchen auf seinem Arm kupfern aufglimmen, sodass Jeremy für einen Augenblick einem Faun ähnelte. Mit einem Mal kam es Grace so vor, als ob ihre leibliche Hülle zu eng geworden wäre; so als ob sich deren Begrenzung auflösen und Grace’ Innerstes sich weit, weit ausdehnen und schließlich aufgehen könnte in Blättergrün und Flusswasser, in Himmelsblau und Sonnenlicht und Jeremy.

Adas Augen waren dem Blick ihrer Schwester gefolgt und einige Male zwischen Grace und Jeremy hin und her gewandert. Erst verwundert, dann verstehend. Sie lächelte in sich hinein und ließ sich auf die Fersen nieder. Der feuchte Untergrund gab nach, und Ada machte ein paar taumelnde Schritte zurück, von denen der letzte unter ihrer Sohle einen Ast knackend entzweitrat.

Jegliche Bewegung fror ein. Die drei jungen Männer starrten in das Dickicht, und sie entdeckten die beiden Mädchen, die einen Schreckensmoment lang wie versteinert zurückstarrten. Nur der Cranleigh Waters setzte unbeirrt und unter heiterem Glucksen seinen Weg fort.

Simons Augen weiteten sich, und eine flammende Röte kroch seinen Hals hinauf.

»Heilige Scheiße!«, entfuhr es ihm, und damit brach der Bann.

Stephen explodierte in schallendes Gelächter, und auf der anderen Seite des Flüsschens prusteten seine Schwestern los, wirbelten herum und schlüpften rasch wieder unter den Bäumen und zwischen den Sträuchern hindurch. Sie rannten und sprangen durch die Wiesen wie junge Füllen, lachten aus vollem Hals, vor Übermut und vor Glück, gestreift von der Ahnung einer Sinnlichkeit, die sie gleichermaßen verwirrte und in lebenssprühenden Aufruhr versetzte, bis ihnen die Seiten wehtaten und sie nach Luft schnappten und bis jeglicher Kummer dieses Tages fürs Erste vergessen war.