38

Am schlimmsten war das Aufwachen.

Es gab diesen Moment des Heraufdämmerns aus dem viel zu kurzen bleiernen Schlaf, einige Wimpernschläge köstlichen Nichtwissens, eines Daseins in einem grauen Niemandsland, in dem er kein Gefühl dafür hatte, wer er war noch wo er sich befand. Eine Art Schwebezustand zwischen den Welten. Beinahe ein Glücksgefühl.

Bis der Muezzin von Omdurman zum Gebet rief. Klänge, die Jeremy in Cairo so gern gehört hatte und die ihm nun so verhasst waren. Denn dieser Singsang zerstörte das beruhigende Nichtwissen und stieß ihn in eine Wirklichkeit, die nichts anderes war als die Hölle. Mit dem Gebetsruf hob das Schnaufen und Stöhnen an, das Scharren sich regender und sich streckender Leiber. Hunderte waren es, hier im Saier, im Gefängnis von Omdurman, jeden Abend hineingetrieben wie Vieh in den Stall, eingepfercht in einem rohen, viel zu kleinen Ziegelbau, in dem sich die Miasmen schwitzender Leiber stauten und der Gestank der Exkremente, die den Boden bedeckten. Herr über den Saier, nach ihm so benannt, war ein muskelbepackter Riese von einem Mann namens Idris es-Saier, dessen Haut blauschwarz glänzte und dem die Grausamkeit, für die er gefürchtet war, ins grobe Gesicht geschrieben stand. Drei Dutzend Wärter unterstanden ihm, und sie waren es, die unter Gebrüll und unter dem Knallen ihrer kurbashs die Gefangenen vor Tagesanbruch wieder hinaustrieben.

Jeremy setzte sich aus seiner kauernden Haltung auf und rieb sich über die schmerzenden, geschwollenen Beine, dann erhob er sich langsam. Sosehr er sich nach frischer Luft sehnte, so wenig war er darauf erpicht, sich in der Menge vorzudrängeln, die sich träge der Türöffnung zuschob. Es gab eine genau festgelegte Hackordnung im Saier, und wer absichtlich oder aus Unwissenheit dagegen verstieß, musste damit rechnen, niedergetrampelt oder zusammengeschlagen zu werden. Es hatte Nächte gegeben, in denen gellende Schreie durch den Raum gepeitscht waren, die dann plötzlich abbrachen, und am nächsten Morgen hatten die Wärter die Gefangenen den zerschundenen Leichnam hinausschleppen lassen. Als Weißer stand Jeremy außerhalb dieser Rangordnung, und meistens wurde er in Ruhe gelassen, was er als Glücksfall verstand, und er tat seinerseits nichts dazu, diesen Zustand zu ändern. Er war zufrieden, einen kleinen Winkel in einer Ecke des Saier für sich zu haben, den ihm auch niemand streitig machte.

Fast alle Gefangenen waren schon draußen, und auch Jeremy bewegte sich, wegen der Fußeisen nur mit kleinen Schritten, auf die Türöffnung zu. Schuhe hatte er schon lange keine mehr, doch wenigstens besaß er noch seine Hosen, wenn sie auch fadenscheinig und löchrig geworden waren. Alles andere hatte man ihm genommen, die Überreste seines Uniformrocks und seines Hemdes und auch das Bild von Grace, das er die ganze Zeit bei sich getragen hatte, und ihm stattdessen eine djibba, das Gewand eines Derwischs, dafür gegeben.

Noch im Dunkeln wurden sie aus der zariba, der Einfassung des Gefängnisses aus Dornengestrüpp, hinausgetrieben, und unter dem Klirren und Scheppern der eisernen Ketten marschierten sie zum Fluss hinunter, der nur wenige Yards entfernt war. Dort stellten sie sich in einer Reihe auf und wuschen sich in der rituellen Abfolge die Hände und die Unterarme, die bärtigen Gesichter und die Ohren und die Füße, spülten Mund und Nase aus und fuhren sich mit den nassen Händen durch das verfilzte Haar. Dann wandten sie sich nach Osten, gen Mekka, knieten sich hin und beteten, mit dem Oberkörper im Rhythmus der Gebetsverse auf und nieder wippend und mit der Stirn den Boden berührend. Jeremy gab sich den Anschein, als nähme er ebenso inbrünstig teil wie all die anderen Gefangenen, froh um die Bewegung, die das Blut wieder besser durch seine steifen Glieder kreisen ließ, ein unhörbares, unsinniges Murmeln auf den Lippen.

Als sich die glühende Sonnenscheibe über den Horizont schob, standen sie wieder auf und begannen ihr Tagwerk: Schlamm und Erde zusammenkratzen und in ledernen Eimern zur nahe gelegenen Ziegelbrennerei schleppen, auf dass das Gefängnis bald eine ordentliche Mauer erhielte, von der bereits ein kleines Stück stand, und auf dass Omdurman zu einer richtigen Stadt werde, die des Khalifa würdig sei.

Jeremy hatte die Schüsse gehört, aus der Richtung, in der Khartoum lag, wenige Tage nachdem er so knapp seiner Hinrichtung entgangen war. Warum er davongekommen war, das hatte er bis heute nicht begriffen, und manchmal wünschte er sich beinahe, er wäre an jenem Tag gestorben. Der ohrenbetäubende Jubel in der Stadt hatte nur den Schluss zugelassen, dass Khartoum gefallen war und dass der Mahdi gesiegt hatte. Hoffnung war noch einmal aufgekeimt in ihm, als großes Wehklagen anhob und der Mahdi vor den Augen der Gefangenen hier in Omdurman feierlich zu Grabe getragen worden war. Doch seit der Khalifa hier herrschte, hatte Jeremy keine Hoffnung mehr. Niemand würde hier nach ihm suchen, weil niemand wusste, dass er hier war. Wahrscheinlich dachten sie, er sei tot. Auch Grace?

Sein Wille verbot ihm, an sie zu denken, während er Eimer um Eimer füllte und vom Fluss hinauftrug. Die Vorstellung, sie niemals wiederzusehen, war unerträglich und drohte ihn in die Knie zu zwingen. Und doch stahl sich ihr Name immer wieder in seine Gedanken, während er im Geiste Baudelaire memorierte, um nicht den Verstand zu verlieren. Mein Geist, du fliegst so rege. Und wie ein guter Schwimmer sich in die Fluten stürzt. Durchziehst du freudig die weite Unendlichkeit. Mit unbeschreiblich kraftvoller Wonne. Grace. Grace. Wie konnte er auch an Baudelaire denken, ohne gleichzeitig Grace vor sich zu sehen? Etwas Besonderes hatte er ihr schenken wollen, zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag, diesem besonderen. Etwas, das ihr sagen sollte, was er für sie empfand, wenn er sich schon schwertat, es in Worte zu fassen. Es sollte ihr etwas bedeuten, ihr, die materiell so gut gestellt war und die sich an schönen Dingen freute, ohne dass ihr Glück davon abhing. Ihr, die Bücher ebenso liebte wie draußen zu sein, und die nicht in eng gesteckten Grenzen dachte. Wie kann jemand, hatte er sie einmal im Scherz gefragt, der so gar nicht zum Stillsitzen geschaffen ist, die Ruhe für ein Buch aufbringen? Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt und gelacht. Mein Leib ruht dann vielleicht, hatte sie geantwortet, aber mein Geist, meine Phantasie, meine ganze Seele – die sind in Bewegung beim Lesen. Weil ihm das nötige Geld fehlte für den Baudelaire, hatte er seine eigene Ausgabe genommen, Jahre zuvor antiquarisch erworben, die er beinahe auswendig kannte, hatte etwas für Grace hineingeschrieben und den Band in Papier gewickelt. Ohne Licht kein Schatten. Ohne Schatten kein Licht. Das Strahlen in ihren Augen hatte ihn glücklich gemacht, dort, auf der Wiese am Waldrand, und die Art, wie sie mit den Fingern über den Einband gefahren war, hatte ihn hoffen lassen, dass sie spürte, wie sehr sie damit einen Teil von ihm in Händen hielt. Grace. Grace.

Die Sonne stand hoch am Himmel. Bald würde es Zeit sein für eine karge Mahlzeit aus Getreidesuppe und Fladenbrot und für das Mittagsgebet. Nicht genug Nahrung, nicht genug Rast für den Körper, der unter dieser Plackerei aushalten müsste bis Sonnenuntergang, bis es nach dem abendlichen Gebet zurück in den Saier ging.

Während Jeremy seinen Eimer füllte, ließ er die Augen über den Fluss wandern. Hier war schwer auszumachen, wer ein Gefangener war und wer einfach nur ein Sklave, der am gegenüberliegenden Ufer Ziegen hütete oder knorriges Holz sammelte. Viele Menschen gingen am Nil ihrer Beschäftigung nach, nicht nur die Viehhüter, sondern auch verschleierte Frauen und Mädchen, die Wasser holten, Wäsche wuschen oder ihre Tiere tränkten. Jeremy hatte ein paar Mal beobachtet, wie ein Mädchen oder eine Frau einen der Gefangenen anlockte und einfach mit ihm fortging, ohne dass die Wachen es bemerkten und ohne dass sie einschritten, und keiner von ihnen war je wieder aufgetaucht. In Omdurman schien vieles ungeordnet und willkürlich. Jeremy hatte mitbekommen, dass Gefangene gegen Geld besseres Essen bekamen, sogar Fleisch, und dass sie Besuch erhielten oder den ganzen Tag im Schatten sitzen und den Koran studieren konnten. Mal schienen die Wachen überstreng, dann wieder nachlässig oder gleichgültig, ohne dass er einen Grund dafür erkennen konnte.

Er hob den Kopf, als er einen Blick auf sich spürte. Ein Mädchen oder eine junge Frau mit einer Hautfarbe wie stark aufgebrühter Tee stand drüben am Ufer, bis über die Knöchel im flachen Wasser, und Jeremys Herz schlug schneller. Sie sah sich verstohlen nach allen Seiten um, dann lächelten ihre Augen über dem Schleier, und ihre Hand machte eine kleine, winkende Geste. Komm. Komm her.

Auch Jeremy spähte umher, bevor er wieder zu dem Mädchen sah und sich mit dem Daumen an die einst so starke und jetzt so magere und knochige Brust tippte. Ich?

Sie nickte und winkte ihn erneut zu sich heran. Noch einmal ließ Jeremy die Augen umherschweifen, dann tat er den ersten vorsichtigen Schritt, dann den zweiten. Nichts geschah. Schritt um Schritt watete er ins Wasser hinein. Holt mich doch, dachte er in wildem Aufbegehren. Holt mich doch, aber tötet mich dann auch gleich. Kühl schlug das Wasser gegen seine Knöchel, durchnässte seine Hosenbeine. Wusch-wusch, machten seine Schritte durch den Nil, wusch-wusch. Schritt für Schritt durchquerte er das Wasser und langte unbehelligt drüben an.

Am anderen Ufer nahm das Mädchen ihn beim Ellenbogen und führte ihn aufs Trockene. Noch einmal sah sie hinüber zu den Gefangenen, dann trieb sie mit ihrem Stecken nicht nur ihre Ziegen, sondern auch Jeremy vor sich her.

Ich bin frei, rief es verwundert in ihm. Ich bin frei, und es war so einfach.

Er trottete mit den Ziegen mit, die ihren Weg kannten. Irgendwann schob sich das Mädchen neben ihn und strahlte ihn von unten herauf an. »Du Deutsch?«, radebrechte sie.

Jeremy schüttelte den Kopf. »Englisch«, antwortete er.

»Ah, Englisch«, wiederholte sie in seiner Muttersprache. »Englisch Mann gutt«, gab sie kichernd von sich und tätschelte seinen Arm.

»Woher kannst du Englisch?«

»Ich Arbeit in Khartoum.« Ihr Kopf unter dem Schleier ruckte nach Osten.

Sie gingen auf eine Ansammlung von niedrigen, strohgedeckten Lehmhütten zu, zwischen denen struppige Hühner umherliefen und in den scheinbar leeren Boden pickten. Mit lockenden Rufen sammelte das Mädchen die Ziegen um ihr aufgeschüttetes Futter, bevor sie Jeremy in eine der Hütten schob. Er musste sich tief bücken, um durch den Einlass zu passen. Dämmrig war es hier, und einfallende Lichtstrahlen tupften ein Muster aus hellen Punkten über die Bodenmatten, auf die das Mädchen Jeremy sanft, aber bestimmt niederdrückte. Er sah ihr zu, wie sie sich in einer Ecke der Hütte hinhockte, mit irdenen Töpfen und Krügen hantierte, hörte das Gluckern von Wasser. Dann stellte sie eine Schale mit Gemüse, erkalteten gebratenen Fleischstücken und Fladenbrot vor ihn hin sowie einen Krug mit Wasser und ließ sich gegenüber von Jeremy nieder. Er zögerte kurz, doch dann stürzte er sich auf das Essen, voller Scham darüber, dass er sich nicht beherrschen konnte und gierig schlang wie ein Tier. »Shukran«, murmelte er zwischen zwei hastigen Bissen. »Shukran.« Sie nickte nur und lächelte mit ihren dunklen Augen. »Shukran«, sagte er noch einmal, nachdem er den letzten Mundvoll mit viel Wasser hinuntergespült hatte.

Sie nickte wieder und stellte das Geschirr beiseite, rutschte näher. Jeremy zuckte zurück, als sie ihm die Hand auf den Schritt legte, sich halb auf seine Beine hockte. »Du mir Kind machen«, gurrte sie. »Dann du frei und ich frei.«

»Nein«, wollte er rufen, doch es kam nur als heiseres Flüstern heraus. Sein Körper verriet ihn; das Mädchen wusste sehr gut, wie sie ihn mit ihren Fingern locken und erregen konnte. Nein. Sein Körper, der so lange keine Frau mehr gehabt hatte. Nicht, seit er Grace begegnet war. Grace. Wie ein körperlicher Schmerz traf ihn der Gedanke an sie. Len. Ob Leonard den Krieg überlebt hatte, mit seinem sprichwörtlichen Glück? Len und Grace. Wie lange war er schon hier? Lange genug, dass Grace nicht mehr darauf hoffen konnte, dass er zurückkam? Verdenken könnte er es ihr nicht; nicht einmal, wenn sie Leonard heiratete. Ein elendes Gefühl machte sich in ihm breit, mischte sich mit der Dankbarkeit, die er für dieses Mädchen empfand, und jeglicher Widerstand in ihm erlahmte. Er ließ es zu, dass sie seinen Oberkörper niederdrückte, seine Hosen öffnete und sich unter Stoffgeraschel auf ihn setzte. Er stöhnte auf, eher verzweifelt denn vor Lust, als sie sich über ihn stülpte und sich zu bewegen begann. Denk an Grace. Stell dir vor, es wäre Grace. Grace’ schlanker Leib, ihre weiche Haut. Ihre braunen Augen, die so warm, so sanft blickten und in denen weit, weit hinten doch ein solches Feuer brannte. Grace. Ein Schluchzen entfuhr ihm, als sich seine Erregung entlud, in einem Zucken, einem Aufschaudern, wie in weiter Ferne, das nichts in ihm zu berühren vermochte. Ekel und Scham durchrollten ihn, und sein Magen, der lange nicht mehr so gefüllt gewesen war, zog sich zusammen und wand sich, und ein saurer Geschmack stieg ihm in den Mund. Verzeih mir, Grace, bitte verzeih mir.

Jeremy verspürte fast so etwas wie Erleichterung, als er vor der Hütte Stimmengebell vernahm. Es gelang ihm gerade noch, mit zitternden Händen seine Hosen zu schließen, dann stürmten bereits Derwische durch den Einlass, packten ihn und das Mädchen, das aus Leibeskräften schrie, zerrten sie beide hinaus.

»Nicht«, brüllte er. »Nicht! Sie kann nichts dafür! Ich bin schuld, ich allein!«

Sie verstanden ihn nicht, doch es wäre ihnen wohl ohnehin gleichgültig gewesen. Unter den mit ausdrucksloser Miene glotzenden Bewohnern des Dörfchens prügelten die Derwische mit dem Griff ihrer Speere und mit bloßen Fäusten auf das weinende und offenbar um Gnade bettelnde Mädchen ein. Schließlich kehrten sie die Speere um und stachen auf sie ein. Bis sie als lebloses Bündel auf dem Boden lag, in einer Lache ihres eigenen Blutes, klaffende Wunden im Leib und die dunklen Augen im zerschmetterten Gesicht starr in die Ferne gerichtet.

Willenlos ließ Jeremy sich durch den Nil hindurch zurück nach Omdurman schleifen. Viel zu kurz war die Zeit gewesen, in der er sich frei gewähnt hatte, und der Preis dafür war entsetzlich hoch gewesen. Viel zu hoch. Er wehrte sich nicht, als sie ihn auf den Markplatz führten, in Richtung der Galgen, ihn bäuchlings zu Boden stießen und seine Handgelenke an den Pflöcken festbanden, die in den Boden gestampft waren. Er zuckte nicht einmal zusammen, als er das Knallen der kurbash über sich vernahm. Schneidend zischten die Peitschenstränge aus Flusspferdhaut auf seinen Rücken nieder, zerfetzten schnell sein Gewand und rissen ihm die Haut auf bis aufs rohe Fleisch auf. Das. Geschieht. Mir. Recht. Warm lief ihm das Blut über den Körper. Ich. Verdiene. Es. Washabichnurgetanwashabichnurgetan. Grace. Es tut mir leid. Vergib mir. Mädchen, vergib mir. Es tut mir so leid.