20
»Oh verd–«, stöhnte Simon auf, rollte sich hastig auf die Seite und angelte vom Feldbett herunter nach dem Eimer. Im letzten Moment zog er ihn zu sich herauf und erbrach sich unter würgenden Geräuschen. Keuchend legte er sich wieder hin, hielt den Eimer aber weiterhin umklammert. Der stechend-gärige Brodem aus Fieberschweiß, Erbrochenem und von den Fäulnisgasen gereizten Gedärms hielt sich hartnäckig im Inneren des Lazarettzelts und verstärkte noch seine Übelkeit.
»Die gute Nachricht: Es ist keine Cholera«, ächzte Royston ein Bett weiter und hielt sich den röhrenden und gurgelnden Bauch, der sich anfühlte, als ob sich glühende Krallen um seine Eingeweide krampften. »Die schlechte: Spaß macht das hier auch nicht.«
»In zwei, drei Tagen seid ihr wieder auf den Beinen«, tröstete ihn Leonard, der sich auf einen Klapphocker am Fußende des Feldbettes gesetzt hatte.
Ursprünglich war das Lager bei Gizeh nur als Übergang gedacht gewesen. Nur für ein oder zwei Nächte Mitte September, bis sie von hier aus zu der anderen Hälfte der britischen Armee stoßen und ihre Kameraden bei der Niederschlagung des Aufstands unterstützen würden. Brechdurchfall und Fieber hatten sie jedoch zum Bleiben gezwungen. Die meisten Erkrankungen verliefen glimpflich, aber es gab auch schon erste Tote zu beklagen, abseits des Lagers hastig im harten Boden verscharrt.
Doch obwohl das fahle Licht der Laternen im Zelt Royston und Simon noch bleicher, fast wächsern aussehen ließ, war ihnen anzusehen, dass sie beide jung und stark genug waren, um mit dieser tückischen Erkrankung von Magen und Darm fertig zu werden, und vor allem Roystons Humor erwies sich als unbezwingbar, wenn er in diesen Tagen auch etwas Galliges erhielt.
»Dein ... Wort in ... Gottes Ohr«, brachte Royston mühsam hervor, während Simon sich erneut hustend und würgend über den Eimer beugte. »Du hast auch leicht reden ... Du Glückspilz bist ja mal wieder verschont geblieben!«
»Zumindest ging’s mir lange nicht so dreckig wie euch«, gab Leonard leichthin zurück.
Royston schnitt eine Grimasse, als ein erneuter Krampf seine Eingeweide durchlief. »Wärst ... wärst du nicht mein bester Freund, dann müsst’ ich dich dafür hassen!« Er sah Leonard aus fieberglänzenden Augen an. »Hast du was von Sis gehört? Ich hab ihr schon ... schon dreimal geschrieben und noch keine Antwort bekommen.«
Leonard schüttelte mit gerunzelter Stirn den Kopf. »Nein.« Er zuckte die Achseln. »Mein Schwesterchen war noch nie eine eifrige Briefeschreiberin.«
Royston schnaufte und drehte sich auf die andere Seite. »Ich will ... heim«, stieß er hervor und vergrub sein Gesicht im harten, buckligen Kissen.
»Ich auch«, japste Simon und stellte den Eimer zurück auf den Boden.
So gut es ging in der Dunkelheit, achtete Jeremy auf jeden seiner Schritte über das Geröllfeld. Die Steine, die die Ebene übersäten, waren groß und kantig, der Weg dahinter durch den tiefen Sand, durchsetzt mit Gesteinsbrocken, nicht ohne Anstrengung. Aber er wusste, dass es sich lohnte; es war nicht das erste Mal, dass es ihn des Nachts hierhinzog, immer weiter fort von den Stimmen, dem Gelächter des Lagers. Ein kräftiger Wind fuhr ihm durch die Haare und blies Fähnchen aus Sand vom Boden auf. Jeremy zog den Uniformrock enger um sich, denn obwohl die Sonne tagsüber von einem wolkenlosen Himmel brannte, waren die Nächte frisch.
Vor einer Ansammlung von Steinblöcken blieb er stehen und legte seine Wolldecke einmal zusammengefaltet auf den Boden, streckte sich darauf aus und klemmte den Rimbaud zwischen seinen Hinterkopf und den vordersten, den niedrigsten der Steinquader. Eine Weile betrachtete er regungslos die Sterne, die hier so viel größer wirkten als zuhause, viel näher und zahlreicher, wie in Splitter zerborstenes Glas auf schwerem dunklen Samt.
Finster zeichneten sich die rauen Umrisse der Pyramiden vor dem nachtblauen Himmel ab. Es schien, als stützten sie mit der Spitze das Himmelsgewölbe, trügen seine Last mit unerschütterlicher Gelassenheit, und das seit Ewigkeiten. Jeremy brauchte nur den Kopf zu drehen, um auf das monumentale Hinterhaupt der Sphinx zu blicken, die aus toten Augen über das Lager hinweg auf Cairo starrte, ihr zerklüftetes Antlitz nicht feindselig, nicht freundlich, sondern unergründlich und vielsagend und doch leer.
Er zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in die Nacht. Mittlerweile rauchten sie alle, und das nicht gerade wenig, selbst Simon und Leonard, sogar Royston, der sich früher nur dann und wann eine Zigarre genehmigt hatte. Eine Möglichkeit, die vielen Stunden sinnlosen Wartens durchzustehen und die ständige Alarmbereitschaft auszuhalten.
Zwischen den einzelnen Zügen ging Jeremy die Worte und Wendungen des Arabischen durch, die er aufgeschnappt hatte. Shukran. Danke. Sahah al-Khair. Guten Morgen. Asif. Entschuldigung. Imta? Wann? Yemin. Rechts. Shemal. Links. Aiwa. Ja. La. Nein.
Instinktiv spannte er die Muskeln an, als Schritte sich näherten, überlaut in der Stille der Nacht, knirschend auf dem lockeren Gestein und schleifend im Sand. Die Anspannung löste sich wieder, als er den unschlüssig wirkenden Schlendergang erkannte.
»Hey«, sagte er ins Dunkel hinein.
»Hey«, echote Stephen und blieb zögernd stehen. »Magst du lieber allein sein?«
»Komm ruhig her.« Er machte Anstalten, aufzustehen, um die Decke auszubreiten, damit Stephen sich zu ihm setzen konnte, doch dieser wehrte ab.
»Lass gut sein. Ich setz mich dorthin.« Breitbeinig ließ Stephen sich auf einem der vorderen Steinblöcke nieder.
»Geht’s dir wieder einigermaßen?« Jeremy drückte seinen Zigarettenstummel im Sand aus und lehnte sich dann wieder mit dem Rücken gegen den Stein.
»Frag mich das bitte, wenn ich das erste Mal wieder an einer Kippe gezogen hab.« Ein Streichholz ratschte, und gleich darauf glomm ein roter Glutpunkt auf, verbreitete den scharfen Geruch von Tabakrauch.
»Und?«, fragte Jeremy belustigt nach einigen tiefen Atemzügen Stephens.
»Na ja«, machte Stephen und betastete vorsichtig seine Magengegend. »Rumort noch etwas, aber ich denke, ich hab’s so weit überstanden. – Dir hat’s ja nicht allzu viel ausgemacht.«
Jeremy gab ein kurzes Auflachen von sich. »Ich bin ein zäher Knochen.« Wie mein Vater.
Sie verfielen in Schweigen, bis Stephen, den Kopf in den Nacken gelegt, sich irgendwann leise vernehmen ließ: »Da fühlt man sich so winzig. So unbedeutend. Als ob das eigene Leben nicht mehr zählen würde als das einer Ameise.«
»Mhm«, stimmte Jeremy ihm zu und sah ebenfalls zum Sternenhimmel hinauf. »Im Grunde ist das auch so. Gemessen an der ganzen Welt, der ganzen Menschheit bedeutet ein einzelnes Leben wirklich nichts. Und trotzdem«, er fuhr sich mit den Fingerknöcheln unter dem Kinn entlang, »trotzdem hängen wir daran und versuchen, das Beste daraus zu machen.«
Nach einer Weile hörte er Stephen flüstern: »Kann ich dich was fragen?«
Stephen schwieg. Männer sprachen nicht über solche Dinge. Männer, Offiziere sprachen derb und zotig über Frauen, die sie besessen hatten, führten mit verklärter Ehrfurcht oder selbstverständlicher Nüchternheit die Namen der Damen im Mund, die zu Hause auf sie warteten; dazwischen gab es nichts. Royston erwähnte Cecily stets mit einer Mischung aus Frotzelei und Zärtlichkeit, Simon schwärmte mit einer sehnsüchtigen Verträumtheit von Ada, und sie machten Stephen damit deutlich, dass sie die Zweifel, die Fragen und das Zaudern nicht kannten, die ihn umtrieben, und von Leonard wusste er, dass ihm derlei Gemütsregungen grundsätzlich fremd waren. Aber Jeremy – Jeremy verstand ihn vielleicht, würde ihm zumindest das Gefühl geben, dass er sich für derlei unmännliche Anwandlungen nicht schämen musste.
Er rauchte die letzten Züge an der Zigarette, trat sie dann aus, und dann kam es verlegen von ihm: »Woran merke ich, ob ich die Richtige gefunden habe?«
Stephen spürte, wie Jeremys Augen einige Herzschläge lang auf ihm ruhten.
»Du grübelst zu viel«, entgegnete Jeremy beinahe schon unwirsch. »Vor allem zu viel über Dinge, bei denen Grübeln ohnehin nichts nützt.« Er schob sich den Gedichtband unter dem Kopf zurecht. »Ich nehme an, dass dir diese Frage niemand beantworten kann. Das musst du schon für dich selbst herausfinden.«
Stephen bohrte weiter nach. »Woran hast du es bei Grace gemerkt?«
Jeremy sah zu den Pyramiden hinüber. Ostersonntag war es gewesen, einer der ersten milderen Tage in jenem Frühjahr, wenn auch noch recht kühl für Mitte April, ein Tag zwischen Krokussen, gerade erblühten Narzissen und hartnäckigen Schneeresten. Jenes Ostern, das Jeremy auf Shamley Green verbrachte, nachdem seine Mutter und er dahingehend übereingekommen waren, dass er sich das Fahrgeld nach Lincoln lieber sparte und im Süden blieb. Nach dem Gottesdienst in Holy Trinity hatte sich die Gemeinde zum Osterfrühstück ins Pfarrhaus gedrängt, ein Anlass, für den Becky wochenlang alle Hände voll zu tun gehabt hatte. Von den Eltern angespornt, die am Rand des Gartens versammelt standen, wetteiferten die Kinder auf der Gemeindewiese vor dem Haus im Eierschieben. Unter lautem Gekreische und Gejohle trieben sie mit Stöcken hart gekochte Eier den sanft abfallenden Hang hinab; ein mit Malventee, Zwiebelhäuten und Nussschalen und dem Saft Roter Bete eingefärbtes Perlenmosaik, das zwischen den Kinderfüßen kullernd auf dem Rasen auseinanderlief und immer mal wieder mit einem Knacken, einem knatschenden Geräusch unter einem kleinen Schuh eines seiner Teile verlustig ging. Ein Junge war unter den Kindern gewesen, sicher noch nicht älter als zwei, höchstens drei, der mit den anderen noch nicht mithalten konnte. Immer weiter fiel er hinter der vorwärtsstürmenden Kinderschar zurück und blieb schließlich stehen. Sehnsüchtig sah er dem Pulk hinterher, der den Hang hinabhüpfte, drehte sich mit jammervollem Gesichtsausdruck zu den Erwachsenen hinter ihm um, und just bevor er anfing zu weinen, hatte Grace ihre Teetasse Stephen in die Hand gedrückt und war losgelaufen.
Eine Hand schob sie unter die Achsel des Buben, mit der anderen legte sie ihm die Finger um den Stock und half ihm, die Handvoll umherrollender Eier vorwärtszuschieben.
Alle anderen waren längst wieder bei ihren Eltern und zeigten stolz ihre ins Ziel gebrachten Ostereier her, als Grace und ihr kleiner Schützling das letzte gefärbte Ei über die Markierung schubsten. Grace reckte die Faust in die Luft und gab ein Freudengeheul von sich, und der kleine Junge lachte aus vollem Hals, klatschte glücklich in die Hände. Sie ging in die Knie, um die Eier einzusammeln und sie dem Kleinen zu geben, hob ihn dann hoch und kehrte mit dem Buben auf dem Arm zum Haus zurück.
Grace mit dem Jungen zu sehen, wie sie mit ihm sprach, mit ihm lachte, hatte nichts Aufgesetztes, und obwohl Jeremy zuvor schon aufgefallen war, welche Warmherzigkeit Grace gegenüber allen Menschen an den Tag legte, wurde ihm erst jetzt bewusst, was für eine Liebe von ihr ausging. Schmerzhaft jagte die Sehnsucht durch ihn hindurch, dieser kleine Bub in seiner Joppe und dem roten Schal, mit seiner Ballonmütze auf dem braunen Haar und mit den braunen Augen, möge sein Sohn sein, seiner und Grace’. Ein kleiner Mensch, der etwas von ihm und etwas von Grace in sich vereinte, erschaffen in einem Liebesakt, der für sie beide erfüllend war, mit dem Leib, mit der Seele.
Jeremy hatte nie einen ernsthaften Gedanken an ein Heim und an eine Familie verschwendet. Zu lange war er darauf konzentriert gewesen, sich überhaupt erst ein Leben aufzubauen, für sich ganz allein. Vor allem aber graute ihm bei der Vorstellung, Kinder in die Welt zu setzen, die dann mit einem Vater leben müssten, wie er einen gehabt hatte. Die den Preis für ein Unheil zahlten, das vor ihrer Geburt hereingebrochen war und allein durch ihre Zeugung mit einem Makel behaftet waren. So wie er damals.
Grace mit diesem Jungen zu sehen war, als ob ein lange vor sich hin wucherndes Geschwür plötzlich aufbrach und ätzenden Eiter absonderte. Umso mehr, als Grace ihn plötzlich ansah und er sich ertappt fühlte. Ihre Schritte hatten sich verlangsamt, ein leises Lächeln hatte sich um ihren Mund gelegt, und in jener Sekunde, ehe sie den Kopf abwandte, den Jungen auf die Wange küsste und ihn seiner Mutter übergab, war es Jeremy beinahe so gewesen, als hätte er in ihren Augen denselben Wunsch gelesen. Ab diesem Moment hatte es sich angefühlt, als ob eine dauernd entzündete Wunde nun endlich heilen könnte. Und sie hatte zu heilen begonnen, das Frühjahr hindurch und den ganzen Sommer über. Dank Grace.
»Grace«, antwortete Jeremy schließlich rau, »Grace ist der Mensch, mit dem ich mein Leben verbringen möchte.«
Stephen schwieg einen Augenblick. »Ist das wirklich so einfach?« Er klang beinahe argwöhnisch.
Jeremy atmete tief aus und zog ein Bein an. »Für mich schon.«
Stephen dachte lange über Jeremys Worte nach. Zu Anfang hatte er Becky vermisst, doch zunehmend verblasste die Erinnerung an sie, und während sie Briefe schrieb, in denen sie wortreich beteuerte, wie sehr er ihr fehlte, wie oft sie an ihn dächte und von ihm träumte und wie sehr sie sich nach ihm sehnte, ließ er ihre Briefe immer länger liegen, ehe er sich mit wachsendem Unwillen an eine Antwort setzte. Denn dieser Lawine an Gefühl, die mit jedem Brief über ihn hereinbrach, konnte er nichts entgegensetzen. Alles, was er ihr aufrichtigen Herzens zurückschreiben konnte, erschien ihm blass und fad und dürr. Stephen litt zwar an Heimweh, Heimweh nach England und nach Surrey und nach Shamley Green, Heimweh nach all den Menschen, die sein Leben ausmachten, und Becky war ein Teil davon, war es immer gewesen. Aber ihr galt nicht die Sehnsucht seines Herzens, und noch weniger konnte er sich vorstellen, das Leben mit ihr zu teilen, sie jeden Tag um sich zu haben und jede Nacht. Allein der Gedanke daran schnürte ihm die Luft ab.
Er träumte von einer Frau, die nicht nur seinen Leib in Aufruhr versetzte und die Erfüllung seines Begehrens versprach, wie die Araberinnen auf Cairos Straßen, von denen er nur die glutvollen, lang bewimperten Augen über dem Gesichtsschleier zu sehen bekam und deren fließende Gewänder das Schwingen der Hüften beim Gehen erahnen ließen. Oder die atemberaubenden Afrikanerinnen, die stolz und geschmeidig einherschritten wie Raubkatzen und seine Phantasie beflügelten. Sondern von einer Frau, die zudem seine Seele berührte und seinen Geist in ihren Bann zog; eine Frau, die noch nicht Gestalt angenommen hatte vor seinem inneren Auge, die keinen Namen besaß und kein Gesicht.
Vielleicht bliebe eine solche Frau ein Traum, der niemals wahr wurde, genau wie alle anderen Träume, die Stephen in sich trug. Aber vielleicht gab es sie auch wirklich, irgendwo, und sie sehnte sich nach einem jungen Mann wie Stephen.
Der Gedanke daran, Becky beizubringen, dass er nicht dasselbe empfand wie sie, wälzte sich wie ein Mühlstein auf sein Gewissen. Aber sagen – sagen musste er es ihr. Nur nicht in einem Brief.
Von Angesicht zu Angesicht würde er es ihr sagen. Sobald er wieder zu Hause war. Irgendwie.
2nd Lt. Leonard Hainsworth,
1. Batt. R. Sussex,
4. Inf. Brig. Maj. Gen. Sir Evelyn Wood
Cairo, den 1. Oktober 1882
Meine liebe Grace,
mach Dir keine Sorgen, uns geht es allen wieder gut – sehr gut sogar! Wir fünf sind putzmunter und zu allen Schandtaten bereit. Das glaubst Du mir natürlich aufs Wort, nicht wahr? Ist aber halb so wild; tatsächlich stellen wir tagtäglich ein Musterbeispiel an Pflichtbewusstsein und Gewissenhaftigkeit dar, wie man es von uns jungen Offizieren erwartet. Colonel Norbury wäre gewiss zufrieden mit uns.
Es war ein triumphaler Einzug in die Stadt und ein grandioser Anblick, wie wir in Reih und Glied vor dem Palast des Khediven aufmarschiert sind, in den Farben all unserer Regimenter. Und noch mehr, als wir die Zeremonie des »Heiligen Teppichs«, wie wir sie salopp genannt haben, mit militärischen Ehren begleiteten. Tatsächlich handelt es sich um einen Überwurf, als »kiswah« bezeichnet, der in Mekka das Heiligtum der Kaaba bedeckt, aus Yards und Yards schwarzer Seide und mit Fäden aus Gold und Silber bestickt. Jedes Jahr wird ein neuer Überwurf hier in Ägypten gefertigt, und jedes Jahr wird er in einer feierlichen Prozession von der Zitadelle oben über der Stadt durch die Straßen getragen, auf einem besonderen Gestell auf dem Rücken eines Kamels und umringt von zahllosen Gläubigen, bevor er mit den Pilgern auf die Reise nach Mekka geht. Eine sehr fremdartige Zeremonie war das, fremd in Sprache und Ablauf und gerade deshalb ungeheuer faszinierend; es war gar nicht so leicht, dabei strammzustehen, Augen geradeaus, wenn es doch so viel zu sehen gab. Dir hätte es bestimmt gefallen, dabei zu sein!
Unser Lager haben wir in al-Gazirah aufgeschlagen. Wie ein stilles, verwunschenes Boot liegt diese Insel mitten im Nil, durch eine breite Brücke mit Eisengeländer und Löwenstatuen an den Brückenköpfen mit dem Ufer verbunden. Wunderschön ist es hier: Vornehme Wohnhäuser säumen die ruhigen, baumbestandenen und deshalb schattigen Straßen. Wer hier lebt, mit dem hat Fortuna es wirklich gut gemeint. Sogar einen Sportclub gibt es! Und natürlich einen Palast, vom vorigen Khediven erbaut, mit pastellfarbenen Bögen und Säulen und mit gusseisernen Gittern wie aus fein gewebter Spitze – märchenhaft, wie aus Tausendundeiner Nacht. »Jardin des Plantes« wird al-Gazirah auch genannt, wegen seiner vielen Gärten, allen voran der Botanische Garten des Khediven. Ein lauschiges Stückchen vom Paradies also – und mittendrin sitzen nun wir, die britische Armee, mit unseren Zelten und unserem militärischen Krimskrams. Ein scharfer Kontrast, wie Du Dir vielleicht vorstellen kannst.
Ich find’s famos, dass ihr wieder ans College wollt, Du und Ads! Sis würde es gewiss auch nicht schaden, ihr Näschen häufiger in Bücher zu stecken und sich etwas weniger mit Modemagazinen und Gesellschaftsklatsch zu beschäftigen. Apropos: Falls Du meiner nachlässigen kleinen Schwester einmal schreibst, richte ihr doch bitte aus, dass Royston sich nach einigen Zeilen aus ihrer Feder verzehrt. Vielleicht schlägt sie eine Ermahnung von Dir nicht in den Wind, wie sie es bei ihrem großen Bruder tut. Royston lässt mir sonst nämlich keine Ruhe und raubt mir mit seinem Gejammer nach dem Zapfenstreich noch den Schlaf! Kleiner Scherz. Ich bin froh, dass ich ihn und die anderen um mich habe, das lindert mein Heimweh doch etwas, ungeachtet dessen, was es hier alles zu sehen und zu entdecken gibt, während wir unseren doch recht eintönigen Dienst versehen.
Du allerdings fehlst mir ungeheuer, Grace, mehr, als ich sagen kann. Bitte schreib mir so oft wie möglich. Ich freue mich über jede Zeile von Dir.
Dein Len