3
Vogelgezwitscher erfüllte die Luft, die süß war von sonnendurchwärmtem Laub und Gras und durchwürzt von den herben Aromen des Kräutergärtchens. Jetzt, zur Mittagszeit, konnte man die Farben des Gartens förmlich riechen, das Safrangelb der Ringelblumen, das Königsblau des Rittersporns und das sanfte Violett des Phlox, das Scharlachrot der letzten späten Tulpen. Aus der Ferne schallte das metallische Schmettern eines Horns herüber, das die zügige Vorüberfahrt der von vier Pferden gezogenen Postkutsche nach Brighton verkündete, deren Route hinter Shamley Green vorbeiführte.
Vierhundert Morgen Land umfasste das Anwesen, gut fünf Meilen südwestlich von Guildford; ein eher bescheidener Grundbesitz, aber mit einer langen Geschichte. Als Wilhelm der Eroberer englischen Boden betrat, war Shamele, wie es damals noch hieß, bereits Teil der Ländereien des Benediktinerklosters von Chertsey Abbey, und nach der Auflösung aller englischen Klöster machte Heinrich VIII. es einem seiner Höflinge zum Geschenk – oder vielmehr dessen Frau, allenthalben als »die schöne Anne« bekannt und berühmt.
Es war gutes, es war reiches Land, das Land von Shamley Green. Saftige Weiden nährten Kühe und Schafe, und auf den Feldern gediehen Weizen, Hafer und Gerste, Mangold und Grünkohl, später Kartoffeln und Rüben, während die dichten Wälder wertvolles Eichenholz lieferten. Seit nunmehr einhundertdreißig Jahren war es das Land der Norburys, seit des Colonels Urgroßvater, ein Captain zur See und in Diensten der East India Company zu Wohlstand gelangt, es erworben hatte.
Das Lied der Meisen und Rotkehlchen in den Baumwipfeln fand sein Echo in den Stimmen der vier Frauen und in den glockenhellen, anheimelnden Klängen von Porzellan und Silber und Glas auf dem gedeckten Tisch im Garten. Über ihren Teller hinweg sah Ada immer wieder zum Haus hin, in dem sie geboren und aufgewachsen war. Außen wie innen war alles noch so, wie sie es in Erinnerung hatte und wie der Sohn jenes Captain Norbury es vor über hundert Jahren hatte erbauen lassen.
Schon von Weitem leuchtete die rote Backsteinfassade aus dem satten Grün der Rasenflächen und aus dem dunklen Laub der Eichen heraus. Ein Kontrast, der durch die weißen Rahmen der Sprossenfenster und die gleichfalls weißen Friese entlang der grauen Schindeldächer unter den zahlreichen Schornsteinen noch verstärkt wurde. Zweckmäßigkeit war der Grundsatz bei der Planung des Hauses gewesen. Hinter dem dreigeschossigen Haupthaus mit dem Eingangsportal umschlossen niedrigere Anbauten den lang gestreckten Innenhof, über den man jeden Raum des Hauses auf kürzestem Wege erreichen konnte.
Außen von männlicher Nüchternheit und eleganter Leichtigkeit, zeigte sich das Haus innen jedoch nahezu verspielt. Grün, Weiß und mattes Rot waren die vorherrschenden Farben, ergänzt von den unterschiedlichsten Hölzern, und Anker, Delphine und Fische, Muscheln und Tritonshörner, Nymphen und Neptungestalten schmückten Decken und Wandfriese, Treppengeländer und Säulen und erzählten von den Meeren der Welt.
Auch in Adas Zimmer mit den Rosentapeten, auf dessen Nachttisch zur Begrüßung ein Strauß Feldblumen neben einer Schachtel ihres Lieblingskaramells gestanden hatte, war alles unangetastet geblieben. Fremd hatte sie sich darin gefühlt mit ihrer Pariser Garderobe und ihr Reisekostüm sogleich gegen eines ihrer alten Sommerkleider getauscht. Ihr glattes braunes Haar mit den rötlichen Glanzlichtern, das sie am Morgen so sorgsam aufgesteckt hatte, hatte sie wieder gelöst, nur einige Strähnen am Hinterkopf zusammengenommen, damit sie ihr nicht ins Gesicht fielen. Ganz genau wie früher.
»Möchtest du noch ein Stück Pastete, Becky?« Constance Norbury deutete einladend auf die in Brühe eingeweichten Steinpilze, die klein geschnittenen und mit Zwiebeln und Minze gewürzten Lammkoteletts und Lammnierchen in ihrem Teigmantel, von Kindheit an Adas Leibgericht und von Köchin Bertha als Willkommensgruß an das heimgekehrte Nesthäkchen gedacht.
Beckys grün und braun gesprenkelte Augen lösten sich nur widerstrebend von den Resten auf der Servierplatte. »Vielen Dank, Lady Norbury. Sonst passe ich am Samstag womöglich nicht mehr in das neue Kleid.«
Ada schluckte den letzten Bissen hinunter, eine perfekte Mischung aus Pastete, Kartoffelbrei und Möhrchen. »Was ist am Samstag?«
»Die Hainsworths haben für das Wochenende nach Givons Grove eingeladen.« Grace trank einen Schluck und stellte ihr Wasserglas ab. »Nichts Großartiges, nur Freunde und Nachbarn.«
»Darf ich mit, Mama?«
Tapfer hielt Ada den überraschten Blicken dreier Augenpaare stand.
»Aber du wolltest doch früher nie –«, platzte Becky heraus, was in ihrer unverkennbaren hohen, schmeichlerischen Stimme zuckersüß klang und weich wie Buttertoffee.
»Ich habe meine Meinung eben geändert«, fiel Ada ihr ungewohnt trotzig ins Wort. Grace’ Finger, die sich mit festem Druck um die ihren schlossen, ließen ein glückliches Flattern in ihrem Bauch aufsteigen. Offenbar hatten die Monate im Ausland das kleine Wunder bewirkt, das sie alle erhofft hatten. Die Zeiten, in denen Ada sich ängstlich an den Rockzipfel von Mutter und Schwester gehängt, sich hinter dem Rücken von Vater und Bruder versteckt hatte, würden ab heute ein für alle Mal der Vergangenheit angehören.
»Natürlich darfst du mit«, erwiderte Constance Norbury. »Lord und Lady Grantham werden entzückt sein.« Zärtlich ruhte ihr Blick auf ihrer Jüngsten, bevor sie zur Teekanne griff.
Ada legte ihr Besteck beiseite, lehnte sich mit vollem Magen zurück und nahm die Serviette vom Schoß, ein Augenblick, auf den Gladdy nur gewartet hatte. Aus dem Welpen, der damals mit einer Handvoll Wasser aus dem Cranleigh auf den Namen des alten – und mittlerweile neuen – Premierministers Gladstone getauft worden war, war ein betagter Setter geworden, der nun seine weiß gestromerte Schnauze von dem Speichelfleck auf Adas Knie hob und den Kopf weiter oben wieder ablegte. Ada war kaum aus der Kutsche ausgestiegen, als Gladdy durch den aufstiebenden Kies auf sie zugeschossen war, an ihr hochsprang und sich jaulend im Kreis drehte und seitdem keinen Augenblick von ihrer Seite wich. Tabby hingegen, die grau getigerte Katze, die blinzelnd und die Vorderpfoten unter ihrem weißen Brustlatz vergraben unter dem Rhododendron lag, würdigte Ada keines Blickes, zur Strafe dafür, dass sie so lange weggeblieben war.
»Wie geht es Len und Sis denn?« Ada kraulte Gladdys Stirn und freute sich daran, wie der Setter selig die Augen zudrückte und die Lefzen locker hängen ließ.
»Gut. Alles wie gehabt. Len bricht reihenweise Herzen, und Sis liegen Scharen von Kavalieren zu Füßen«, spöttelte Grace mit einem warmen Unterton, der ihre Zuneigung zu den beiden verriet.
Ada lächelte.
»Tommy wirst du allerdings kaum wiedererkennen«, sagte Constance Norbury und rührte Zucker in ihren Tee. »Ein richtig großer Bursche ist aus ihm geworden.«
»Oh ja«, stimmte Grace lachend zu. »Schon fast ein kleiner Gentleman! Len ist mächtig stolz auf seinen kleinen Bruder.«
Die Art, wie Grace und ihre Mutter einander dabei ansahen, so einmütig, so vertraut, versetzte Ada einen Stich. Der umso schmerzhafter war, weil sie geglaubt hatte, sie sei darüber hinweggekommen, dass sie sich nicht mit Grace messen konnte, die nicht nur die Älteste von ihnen dreien war, sondern auch das Ebenbild ihrer Mutter. Es bedurfte schon eines zweiten, eines dritten Blickes, um Grace nicht für die jüngere Schwester von Lady Norbury zu halten, so sehr glichen sich Mutter und Tochter in Gestik und Mimik, im feinen Schnitt des ovalen Gesichts, in der anmutigen Nackenlinie, der schlanken, hochgewachsenen Gestalt und dem Haar in der Farbe eines reifen Kornfelds.
Wie viel leichter war es doch gewesen, in der Fremde eine andere zu sein. Furcht überfiel Ada. Die Furcht, dass ihr neues, noch so zerbrechliches Ich mit ihrer Rückkehr nach Hause keinen Bestand hätte. Dass sich in ihrem Leben niemals wirklich etwas ändern würde.
»Ich wünschte, ich könnte Stevie schon vor dem Wochenende sehen«, murmelte sie und streichelte Gladdy über den Rücken, was er ihr mit eifrigem Klopfen der Rute auf den Rasen vergalt. Grace war ihr immer mehr als nur eine Schwester gewesen; Freundin sogar und Verbündete. Und doch gab es eine Seite an Ada, die nur Stephen wirklich verstand.
»Wie spät ist es jetzt?« Grace wippte mit dem Fuß unter dem Tisch.
Becky sah auf die kleine silberne Uhr, die sie an einer langen Kette um den Hals trug. »Gleich Viertel vor drei.«
Grace zwinkerte ihrer Schwester zu, Schalk und Unternehmungslust im Blick. »Wenn wir uns beeilen, können wir noch zum Rugby in Sandhurst sein.«
»Danke, Ben.«
Schwungvoll stieg Grace auf den Wagen, ließ sich auf dem Lederpolster nieder und nahm Ben die Zügel aus der Hand. Der Kutscher half danach erst Ada, dann Becky in den kleinen zweirädrigen Wagen mit geöffnetem Verdeck. Der Tilbury aus dem bescheidenen Fuhrpark der Norburys war zwar alt, aber dank Bens Pflege tadellos in Schuss. Wendig und leicht, durch die übergroßen Räder höllisch schnell, war er jedoch nur für zwei Personen gedacht, sodass die Mädchen unter viel Gekicher erst einmal auf dem Sitz herumrutschten, bis sie halbwegs bequem und vor allem sicher saßen.
Ben verriegelte das Gepäckfach am Heck des Tilbury, in dem die Mädchen zuvor ihre Hüte und Handtaschen verstaut hatten, und kam wieder hinter dem Gefährt hervor.
»Ich hol Sie und Sir William dann heut Abend mit dem großen Wagen in Sandhurst ab, Miss Ada.«
Während Stephen wie alle anderen Kadetten im Wohntrakt des Colleges lebte, aber wenigstens durch die räumliche Nähe die Möglichkeit hatte, die viel zu wenigen, viel zu kurzen Wochenenden, an denen er Ausgang hatte, zu Hause zu verbringen, ließ sich der Colonel morgens und abends von Ben ins gut zwei Stunden entfernte Sandhurst und zurück kutschieren.
»Ist gut. Danke, Ben.« Ada schenkte ihm ein aufgeregtes Lächeln, zappelig vor Vorfreude.
Er tätschelte die Kruppe des stämmigen Rappen, der unruhig mit dem Kopf nickte, und trat zurück, als Grace die Zügel nahm und mit der Zunge schnalzte. »Gute Fahrt.«
Der Wagen rollte an, knirschte durch den Kies des Innenhofs und durch die Einfahrt neben den Stallungen hinaus, bog auf den Zufahrtsweg vor dem Haus ein.
»Festhalten, Mädels«, rief Grace, stemmte die Füße fester in den Boden und gab dem Pferd die Zügel. »Los, Jack, los! Zeig uns, was du kannst!«
Das Pferd preschte los, die weite Biegung entlang, die zwischen alten Eichen hindurch und dann nach Norden führte. Ada stieß einen erschrockenen Laut aus. Es fühlte sich an, als würde der Wagen in der Kurve umkippen. Vor Angst stockte ihr der Atem, und sie klammerte sich an Becky und an der Sitzlehne fest.
Erst als sie spürte, wie sicher Grace das Gefährt in der Spur hielt, konnte sie wieder Luft holen. Dennoch schlug ihr das Herz bis zum Hals, während die Wälder und die Flickenteppiche der Felder an ihnen vorüberschossen und die Kastanien mit ihren gerade aufbrechenden roten und weißen Blütenkerzen zu farbigen Schlieren zerflossen.
Ada musterte ihre Schwester von der Seite her, wie sie die Unterlippe zwischen die Zähne zog, wenn sie sich besonders konzentrieren musste, und dann wieder befreit auflachte, wenn sie Jack ein Stück des Weges einfach laufen lassen konnte, und wie ihre Augen dabei glänzten. Ihr Innerstes krampfte sich schmerzhaft zusammen, als sie gewahr wurde, wie sehr sie Grace liebte. Wie könnte sie sie auch nicht lieben? Jeder liebte Grace, der alles im Leben nur so zuflog, auch die Herzen der Menschen.
»Hast du gar keine Angst?«, rief sie ihrer Schwester ins Ohr, obwohl sie die Antwort ahnte.
»Nur davor, dass ich zu langsam bin!«, gab Grace lachend zurück, ohne die Augen von der Straße abzuwenden.
Der Wagen jagte auf ein frei stehendes Cottage zu. Ein betagter Mann in Hosenträgern über dem Hemd, eine Schildmütze auf dem nahezu kahlen Haupt, lehnte innen an der Umfriedungsmauer des Gartens und blickte müßig in die Landschaft hinaus.
»Haaallo! Mr Jenkins!«, rief Grace.
»Huhuuuu«, machte Becky und winkte ihm mit hochgereckter Hand zu.
Der frühere Pächter der Norburys, der mittlerweile zu gebrechlich war, um den Boden zu bestellen, und der sich zugunsten seines Sohnes aufs Altenteil zurückgezogen hatte, hob eine seiner zitternden, abgearbeiteten Hände und zeigte sein nahezu zahnloses Greisenlachen.
Ganz verlor Ada ihre Angst nicht bei dieser wilden Fahrt über Stock und Stein. Aber nachdem sie über die Brücke gepoltert waren, die über den Wey führte, und an der Silhouette von Guildford vorbeigeflogen waren, gewann allmählich die Freude die Oberhand. Sie hatte vergessen, wie es war, an Grace’ Seite durch die Wiesen zu sausen, die Sonne im Gesicht, den Fahrtwind auf der Haut, der ihr Haar hinter ihr herflattern ließ.
Die Wochen des Kummers im vergangenen Jahr und ihre Reise über den Kontinent, während der sie unter der fachkundigen und einfühlsamen Anleitung von Miss Sidgwick auf den Spuren der Dichter und Denker, der Maler und Bildhauer gewandelt war, hatten sie vergessen lassen, wie herrlich es war, so frei zu sein und so unbeschwert. So jung zu sein.
Erst als sie von dem Feldweg abbogen, der sie an den Ortschaften Frimley und Camberley vorbeigeführt hatte, verlangsamte Grace das Tempo. Die langen Nachmittagsschatten des Waldes legten sich kühl auf ihre erhitzten Gesichter, und Jacks Hufe klapperten in munterem Trab durch die grüne Stille. Ein Häuschen am Wegesrand kam in Sicht, und obwohl der bewaffnete und uniformierte Wächter missbilligend dreinblickte, salutierte er und ließ sie ungehindert passieren.
Während sich zu ihrer Linken der Wald fortsetzte, endete er auf der anderen Seite jäh und wurde von einer großen Wasserfläche abgelöst. Auf dem See, der halb in Surrey, halb in Berkshire lag, paddelte ein Trupp hemdsärmeliger Kadetten mit zwei Ausbildern auf einem Floß umher, das aus mit Seilen zusammengezurrten Fässern und Latten bestand. Eine andere Gruppe Offiziersanwärter war dabei, aus Balken und Brettern eine behelfsmäßige Brücke zu errichten.
Der Tilbury rollte an einem Labyrinth aus Gräben und aufgeschütteten Wällen vorüber, in dem die Kadetten sich darin übten, Feldbefestigungen anzulegen. Einige der jungen Männer ließen die Schaufel sinken und reckten den Hals; einer von ihnen pfiff gar anerkennend durch die Zähne, worauf er von seinem Ausbilder einen Schlag mit der flachen Hand gegen den Hinterkopf erhielt. Der Kadett schob die Kappe zurück, die ihm dabei in die Stirn gerutscht war, und grinste den lachenden Mädchen zu.
Majestätisch und stolz erstreckte sich vor ihnen das Royal Military College, ein lang gezogener, zweistöckiger und zweiflügeliger Bau, in Crème und Weiß gehalten und in den Farben des Königreiches beflaggt. Grace lenkte den Tilbury über den befestigten Vorplatz und hielt vor dem Portikus an. Zwischen den kannelierten Säulen erschien ein Unteroffizier und eilte die Stufen hinab, schlug vor dem Wagen die Hacken zusammen und salutierte kurz.
»Guten Tag, die Damen.« Er hielt ihnen nacheinander die weiß behandschuhte Rechte hin, um ihnen herauszuhelfen. »Miss Peckham. Miss Ada – schön, dass Sie wieder zu Hause sind! Miss Norbury.«
»Danke, Lieutenant Mellow«, erwiderte Grace, als sie aus dem Tilbury geklettert war, und übergab ihm die Zügel. »Darf ich Ihnen Jack anvertrauen?«
»Selbstredend, Miss Norbury. Ich werde veranlassen, dass man sich in den Stallungen um Pferd und Wagen kümmert.«
»Haben Sie vielen Dank!« Grace bedachte ihn mit einem offenen Lächeln, in dem nichts Kokettes lag, und doch hatte Ada den Eindruck, dass Lieutenant Mellow ungeachtet seines tadellosen Benehmens dieses Lächeln nur zu gern als Einladung zu einem Flirt aufgefasst hätte.
Grace öffnete die Gepäckklappe und holte ihre Hüte und ihre Taschen heraus. Während sie ihren Strohhut aufsetzte und mit den Nadeln feststeckte, sah sie, wie Becky versuchte, in den winzigen Laternenscheiben des Tilburys ihr Spiegelbild zu erhaschen, eine Strähne ihres wie golddurchwirkten braunen Haares feststeckte, die Fingerkuppe mit der Zunge anfeuchtete und sich die Brauen glatt strich. Grace lachte. »Komm jetzt – du bist hübsch genug!« Am Ellenbogen zog sie die murrende Freundin mit sich fort, streckte die andere Hand einladend nach Ada aus, und zügig schritten die drei über den Vorplatz in Richtung des Rugbyfelds.
Ein ohrenbetäubender Lärm empfing sie schon von Weitem. Eine Horde junger Männer in eng anliegenden und bis eine Handbreit unter das Knie reichenden roten Hosen, grasfleckigen Oberteilen mit rot-weißen Blockstreifen und passend geringelten Strümpfen tobte über den zertretenen Rasen und balgte sich um das eiförmige Leder.
»Hier!«, brüllte Leonard. Drei Kadetten seiner Kompanie, die die blaue Armbinde der gegnerischen Mannschaft in diesem Übungsspiel trugen, bedrängten ihn ungestüm, und er schleuderte den Ball von sich. Freddie Highmore hechtete danach, doch Jeremy schnellte aus vollem Lauf hoch und schnappte sich das Leder aus der Luft, ehe Highmore herankommen konnte, und rannte los. Freddie setzte ihm nach, war augenblicklich gleichauf und hackte mit dem Absatz des geschnürten, knöchelhohen Lederstiefels gegen Jeremys Schienbein. Jeremy strauchelte und verbiss sich einen Fluch, fing sich aber wieder und lief weiter.
»Gib ab!«, rief Stephen und hielt mit ausgebreiteten Armen einen Gegenspieler in Schach, während Royston einen anderen geschickt stolpern ließ.
»Friss Dreck, du Ratte«, fauchte Freddie und sprang Jeremy mit seinem ganzen Körpergewicht in den Rücken.
Jeremy ging zu Boden, doch noch im Fallen warf er das Ei von sich. Es schlingerte durch die Luft, über Royston und zwei Gegenspieler hinweg, und landete in den Armen von Simon, der sofort losspurtete.
Wieselflink wetzte er über das Feld, bis ein Gegner ihn in die Kniekehle trat und ins Straucheln brachte. Mit ausgestreckten Armen warf Simon sich der Länge nach hin, rutschte bäuchlings über den Rasen und blieb schließlich liegen – mit dem Ball gut drei Inches über der gegnerischen Torlinie.
Der Sportlehrer steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen grellen Pfiff aus. »Und Schluss, Gentlemen! Rot gewinnt zwei zu eins!«
Donnernder Jubel hob in der einen Hälfte der Kompanie an, während die Verlierer in diesem Spiel lange Gesichter machten und wütend in den Boden kickten.
Japsend rollte sich Simon auf den Rücken; Royston, Leonard, Jeremy und Stephen stürzten sich auf ihn, klopften ihm auf die Schultern, lagen einander in den Armen und brüllten ihre Freude heraus.
»Jungs!«, rief Leonard, als er den Kopf hob. »Schaut mal!« Vier Augenpaare folgten seinem ausgestreckten Zeigefinger zum Rand des Spielfelds, an dem drei Mädchen standen, auf und ab hüpften und eifrig winkten.
»Oohhh«, machte Simon mit hochgerecktem Kinn, noch immer schnaufend. »Drei edle Jungfern, von weit her gekommen, um uns siegreiche Ritter zu feiern!«
»Quatschkopf!« Mit breitem Grinsen klatschte Leonard ihm vor die Stirn, sodass Simon sich mit theatralisch verdrehten Augen wieder rücklings fallen ließ.
»Das gibt’s doch nicht!« Stephens Augen weiteten sich vor Verblüffung; seine Züge verklärten sich, und er sprang auf. »Habt ihr gesehen, wer da ist?«, rief er den anderen über die Schulter zu, während er loslief.
Royston und Jeremy halfen dem ächzenden Simon auf, und Leonard hob das lederne Ei vom Boden auf, das Simon ihm sogleich in einem spielerischen Ringkampf wieder abjagte.
Lachend und sich gegenseitig Rippenstöße versetzend, folgten sie Stephen quer über das Spielfeld. Die vier jungen Männer waren nur noch einige Schritte entfernt, als Simon unvermittelt stehen blieb. Wie Stephen Grace umarmte und Becky unbeholfen begrüßte, die ihn mit schräg gelegtem Kopf von unten herauf anstrahlte und die Handtasche spielerisch vor ihrem Rock hin und her schwang, nahm er nur am Rande wahr; seine Aufmerksamkeit war ganz auf das Mädchen gerichtet, das zuvor auf Stephen zugelaufen und diesem um den Hals gefallen, von ihm herumgewirbelt worden war, dass ihm der Hut vom Kopf segelte und im Gras landete.
»Hey.« Simon packte Royston am Ärmel. Royston war mit Stephen und Leonard in Cheltenham zur Schule gegangen, kannte die beiden länger als Jeremy und er, die erst im vergangenen Herbst in Sandhurst zu den dreien dazugestoßen waren. »Kennst du die Kleine da, die mit Grace und Becky hier ist?«
»Das ist Ada.«
Das ist Stevies kleine Schwester? Simon brachte keinen Ton mehr heraus; seine sonst so freche Zunge war mit einem Mal wie gelähmt.
»War immer ein verschüchtertes Ding, das knallrot wurde, wenn man es ansprach, und dann wie der Blitz davonsauste, um sich zu verstecken«, erklärte Royston amüsiert und ging weiter. Sich halb umwendend fügte er hinzu: »Sieht so aus, als sei sie dem nun endlich entwachsen.«
Simons Augen vermochten sich nicht von ihr zu lösen, der Kleinsten in der Gruppe, in der es nun ein lautes, lachendes Hallo nach allen Seiten gab, als Royston und Leonard hinzutraten. Noch kleiner als Simon selbst, war sie elfenhaft schmal, wirkte beinahe kindlich mit dem runden Gesicht, der zierlichen Stupsnase. In der Tat ein Mädchen noch, wie sie in der einen Hand ihren Hut hielt und mit der anderen eine Strähne ihres offenen Haares aus dem Mund klaubte, die ihr an den Lippen kleben geblieben war. Dieser Mund, der in seiner runden Fülle verhieß, dass sie die Schwelle zum Frausein bald überschreiten würde, wie eine pralle Knospe, just bevor sie zur Blüte aufbrach. Ein Mund, der beim Lächeln die kecke kleine Spalte zwischen den oberen Schneidezähnen zeigte, die Simon von Stephen her so vertraut war und die ihm bei diesem Mädchen weiche Knie bereitete.
Das Lächeln auf Adas Zügen erlosch, als ihre Augen sich mit denen Simons trafen. Augen, groß und dunkel glänzend wie Schwarzkirschen, die verwundert blickten, fast fragend, sich schließlich scheu abwandten und dann doch voller Neugierde zu den seinen zurückkehrten.
Stumm hielt er das Leder umklammert, unfähig, sich zu rühren oder gar das Wort an Ada zu richten. Er, der sonst nie um Worte verlegen war, der mit Witz und Schlagfertigkeit das schöne Geschlecht um den Finger zu wickeln verstand.
Auch Jeremys Augen, die Simons Blick gefolgt waren, begegneten einem Paar brauner Augen, die jedoch lichter waren als die von Ada, wenn auch ungewöhnlich dunkel für jemanden mit solch hellem Haar, solch heller Haut. Ein Lächeln umspielte Grace’ Mund, und vorsichtig, zaghaft beinah hob sie die Hand zum Gruß. Jeremy hob ebenfalls die Hand, eine fast verstohlene Geste, in einem Moment, der ihnen ganz allein gehörte.
Der jedoch zerstob, als Leonard Grace aus den Ärmelrüschen eine winzige Flaumfeder zupfte, die sich während der Fahrt dort verfangen hatte.
»Los, wünsch dir was!«, forderte er sie auf und hielt ihr das Federchen auf der Fingerkuppe vor das Gesicht.
»Ja, mach, wünsch dir was!«, rief es um Grace im Chor. Gehorsam schloss sie die Lider und blies kräftig in Richtung von Leonards Hand, sodass die Daune davonsegelte.
Jeremy sah Simon von der Seite an. »Kommst du?«
Mehr eine Forderung denn eine Frage, die ungehört an Simon abprallte. Achselzuckend ging Jeremy in Richtung der Waschräume davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Der schrille Pfiff, mit dem der Sportlehrer die säumigen Kadetten zur Eile ermahnte, trieb gleich darauf das Grüppchen um Grace und Ada auseinander. Leonard und Royston nahmen Grace in ihre Mitte, während Stephen von Becky in Beschlag genommen wurde, auf einem Stück gemeinsamen Weges, bevor die jungen Männer zur Turnhalle abbiegen, die Mädchen jedoch zum Collegegebäude weitergehen würden.
Allein Ada blieb zurück. Als hätte ihr jemand Bleibänder in den Rocksaum genäht, kam sie nur langsam vorwärts, und obwohl sie wusste, dass es ungehörig war, musste sie sich wie unter einem Zwang immer wieder nach dem Kadetten umdrehen, der immer noch regungslos dastand und sie auf nicht weniger ungehörige Weise anstarrte.
Eine Kaskade greller Pfifflaute drang über die Rasenfläche. »Beeilung, die Gentlemen Norbury, Ashcombe und Hainsworth! Hopphopphopp!«
Stephen gehorchte in langen Schritten dem Befehl, und zur Erheiterung von Leonard und Royston, die hinterhertrotteten, hing Becky weiterhin wie eine Klette an ihm, als wollte sie ihn ganz selbstverständlich in die Umkleide begleiten.
»Wird’s bald, Digby-Jones! Oder brauchen Sie eine Extra-Einladung?!«
Als Simon sich endlich in Bewegung setzte, ging auch ein Ruck durch Ada, und hastig stolperte sie hinter ihrer Schwester her.
»Grace! Warte! Grace!«
Atemlos hängte sie sich an den Arm ihrer Schwester.
»Grace, wer ist das?«, flüsterte sie ihr zu. »Der Kadett dort, der die ganze Zeit zu uns herübergeschaut hat?«
Grace lächelte. »Das ist Simon. Simon Digby-Jones. Er wird am Wochenende auch auf Givons Grove sein.«
Einmal sah Ada noch zu ihm hinüber.
Simon.