52
Die Sommersonne lag schwer wie ein Tuch aus Goldbrokat über dem stillen Garten von Shamley Green, und in der Verborgenheit der Rotunde hielten Royston und Ada einander in den Armen und küssten sich.
Solange das Schuljahr am Bedford noch andauerte, hatten sie sich zurückhalten müssen; in London gab es keinen Raum für derlei Zärtlichkeiten. Dort standen sie ständig im Blick der Öffentlichkeit, und obendrein war Ada ihrem Ruf als Lehrerin für wohlerzogene junge Mädchen verpflichtet. In Kew Gardens und in der National Gallery hatten sie sich erst mit schüchternen Blicken begnügen müssen; nur im dunklen Konzertsaal hatte Royston es gewagt, Adas Hand zu nehmen, hatten sich ihre kleinen Finger mutig in seine große Hand gestohlen. Umso sehnsüchtiger hatten beide das Ende des Trimesters herbeigesehnt. Jeden Tag fuhr Royston nun nach Shamley Green und ließ bei seiner Ankunft im Haus gleichmütig Stephens breites Grinsen, Beckys Glucksen und die vielsagenden Blicke Lady Norburys über sich ergehen. Alles, was zählte, war, Ada zu sehen und hier, auf der Bank in der Rotunde, zu küssen.
»Ads«, raunte er, als sie beide Atem schöpften und sie ihr Gesicht in seine Halsbeuge schmiegte, ihre Finger zärtlich über sein Genick krabbelten, dass Royston sich wie warmes, langsam schmelzendes Wachs fühlte. »Ads, möchtest du meine Frau werden?«
Keine sorgfältige Planung wie damals bei Cecily. Kein Kniefall, keine feierliche Ansprache, und obwohl er seit Wochen an nichts anderes mehr gedacht hatte, kam es ihm ganz natürlich über die Lippen. Einfach so. Sein Herz erzitterte, als sie in seinen Armen erstarrte, sich von ihm löste und aufrecht hinsetzte, ohne ihn anzusehen, beulte sich ein unter der Angst, abgewiesen zu werden und einmal mehr mit leeren Händen zurückzubleiben.
»Ads?«
Adas Brauen zogen sich zusammen, und sie ballte die Hände zu Fäusten, legte sie in den Schoß. Unzählige Male hatte sie daran gedacht, es Royston zu beichten, und war dann doch im letzten Moment immer davor zurückgeschreckt. Sie wollte nicht, dass er schlecht über sie dachte; vor allem wollte sie nicht, dass er sich enttäuscht von ihr abwandte. Sie wollte das Glück nicht zerstören, das seit dem Frühjahr zart aufgesprossen war und das nun, in diesem Sommer, so üppig blühte, so wie sie sich nach einem über zwei Jahre währenden harschen Winter wieder erblüht fühlte.
Ada war gern mit Royston zusammen, der ihre Liebe zur Musik, zur Kunst teilte. Sie mochte seinen Humor, mit dem er sie zum Lachen brachte, und seine warmherzige, ein bisschen behäbige Art. Sie mochte die bodenständige, unerschütterliche Zuversicht, die von ihm ausging, und wie sein Bart bei seinen Küssen auf ihrer Haut kitzelte und kribbelte; Küsse, deren Wärme bis tief hinunter in ihren Leib drang. Wenn sie an Roystons breiter Brust lag, fühlte sie sich sicher. Als ob ihr niemals mehr etwas Schlimmes geschehen könnte.
Royston hatte jedoch ein Recht, es zu erfahren, und dies war vielleicht die letzte Möglichkeit, es ihm zu sagen, ohne allzu großen Schaden anzurichten.
»Es gibt etwas, das du nicht weißt über mich, Royston. Niemand weiß davon.« Die Knöchel an ihren Fingern traten weiß hervor, als sie den Druck ihrer Hände verstärkte. »Ich ... ich bin nicht mehr unberührt. Damals«, sie atmete schwer ein, »damals, bevor ihr nach Chichester gegangen seid ... an jenem Wochenende im August auf Estreham ... Da haben Simon und ich ...«
Er schluckte. »Hat er ...«
»Nein.« Ada schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Ich war diejenige, die es wollte.« Ein entschlossener Zug trat in ihr Gesicht, und einen Augenblick lang sah sie ihrem Vater, dem gestrengen Colonel, verblüffend ähnlich. »Und ich habe es keinen einzigen Tag bereut. Auch wenn ich glaube, dass sein Tod mich deshalb mehr geschmerzt hat, als wenn es nur bei Küssen geblieben wäre.«
Royston starrte vor sich hin. Das Bild, das er sich all die Jahre von Ada gemacht hatte, ein unschuldiges, elfenhaftes, der Welt ein wenig entrücktes Wesen, lag in Trümmern. Ja, er hatte sie geküsst, ja, er hatte ihr einen Antrag gemacht, er wollte sie heiraten und sein Leben mit ihr verbringen – aber sich alles Weitere vorzustellen, das hatte er sich standhaft verboten. Ein feiner Nadelstich der Eifersucht durchfuhr ihn, dass Simon das Los zugefallen war, Ada ihre Jungfräulichkeit zu nehmen – noch dazu auf Estreham! –, und im nächsten Augenblick durchflutete ihn eine unbändige Freude, dass Simon und Ada dieses Glück vergönnt gewesen war. Wenn ihre gemeinsame Zeit schon so jäh und so grausam enden musste.
Mit einem Seitenblick streifte er Ada, die steif neben ihm thronte, als erwartete sie jeden Augenblick seinen Urteilsspruch: ihr mädchenhaftes, noch immer niedliches Gesicht, das nur ein klein wenig gereift war, ihre schmale Gestalt in dem hellen Sommerkleid, unter dem sich kaum weibliche Rundungen abzeichneten. Royston begriff, dass ihm um ein Haar ein Fehler unterlaufen wäre: Ada wegen ihres süßen, zerbrechlichen Äußeren zu unterschätzen. Ada war längst kein verschüchtertes Mädchen mehr. Ada war eine erwachsene Frau, mit dem Körper einer Frau, mit einer leidenschaftlichen Seele und mit einem eisernen Willen, sinnlich vielleicht, ganz bestimmt stark. Und sanft, doch so sanft.
In Royston stieg ein solch heißes, kaum zu bezähmendes Verlangen auf, dass er seine Hand in den Oberschenkel krallte, um sein Zittern zu unterdrücken. Er wollte Ada so sehr, hier und jetzt, dass er es kaum aushielt, und vielleicht begriff er erst in diesem Moment, wie sehr er sie tatsächlich liebte. Wie sehr er sie um sich haben wollte, jeden Tag, jede Nacht, für den Rest seines Lebens.
»Haben wir seit jenem Sommer nicht alle unsere Unschuld verloren«, erwiderte er schließlich rau, »auf die eine oder andere Weise?«
Ada schwieg einige Herzschläge lang. »Denkst ... denkst du noch viel an Sis?«, fragte sie dann mit hörbarer Befangenheit.
Cecily, die vor drei Wochen im Süden Frankreichs den Bund der Ehe geschlossen hatte, im Rahmen mehrtägiger Feierlichkeiten auf dem Schloss ihres Bräutigams. Für den Colonel und Stephen wäre die Anreise zu beschwerlich, gar unmöglich gewesen, und so waren die Norburys alle zu Hause geblieben, hatten es bei Glückwünschen und einem übersandten Hochzeitsgeschenk belassen. Royston selbst hatte seine Einladung sogleich an ein brennendes Streichholz gehalten und in den Kamin geworfen, kaum dass er sie auf seinem Poststapel gefunden hatte.
Seine Mundwinkel unter dem Bart zogen sich nach unten. »Spricht wahrscheinlich nicht unbedingt für mich, aber ich denke kaum noch an sie.« Erst jetzt, nachdem Ada sie erwähnt hatte, tauchte wieder Cecilys Bild vor seinem inneren Auge auf und eine schattenhafte Erinnerung an ihre Stimme, an ihr Lachen und an ihre Küsse und wie es sich angefühlt hatte, sie in den Armen zu halten; eine Erinnerung, die gleich darauf zu Staub zerfiel. Während er Ada all die Zeit unterschätzt hatte, war es bei Cecily genau umgekehrt gewesen: Er hatte sie in schmeichelhafterem Licht gesehen, als es ihr tatsächlich entsprach. Dass Liebe manchmal buchstäblich blind machte, daran hatte er hin und wieder gedacht – zumindest machte sie zuweilen kurzsichtig.
»An Len denke ich wesentlich öfter«, flüsterte er heiser.
»Ja, an Len denke ich auch oft«, wisperte Ada beklommen.
»Das ist alles schon so lange her«, meinte Royston nach einer Weile. »Irgendwann habe ich begriffen, dass ich mit Cecily nicht glücklich geworden wäre. Nein, an Cecily habe ich schon eine ganze Zeit nicht mehr gedacht.« Er sah Ada an, die noch immer regungslos und verkrampft neben ihm saß. »Ich denke die ganze Zeit nur noch an dich, Ada.«
Als sie nichts erwiderte, streckte er die Hand aus, legte sie über eine ihrer kleinen Fäuste, und das Herz war ihm schwer. »Es macht mir nichts, wenn du mich nicht wiederliebst, Ada. Mir genügt es, wenn du mich nur ein bisschen gern hast und es mit mir aushältst.«
Aus großen Augen sah sie ihn an. »Nein, Royston. So ist das nicht. Ganz und gar nicht.« Ihre Finger öffneten sich, und sie nahm Roystons Pranke und strich mit den Händen zärtlich darüber, sodass es heiß wie zähe Lava durch Roystons Arm strömte. »Ein großer Teil meines Herzens wird immer Simon gehören und wird immer um ihn trauern. Darüber musst du dir im Klaren sein. Weißt du«, hauchte sie, »ich hab in letzter Zeit oft daran gedacht, wie du mir erzählt hast, Simon habe dich gebeten, sein Trauzeuge zu sein. Damals – bevor ...« Ihr Gesicht verzog sich, als litte sie heftige Schmerzen, und Royston schwieg. »Vielleicht ...«, fuhr sie schließlich fort, »vielleicht hat er es gespürt, dass er nicht wieder zu mir zurückkommt. Vielleicht hat er es gespürt, und er wollte dich damit bitten, auf mich aufzupassen, dich um mich zu kümmern.« Fragend sah sie ihn an.
»Ich weiß es nicht, Ada«, erwiderte er ehrlich.
Ein kleines Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, und sie richtete den Blick wieder auf Roystons Hand in ihrem Schoß. »Ich auch nicht. Aber ich finde es eine tröstliche Vorstellung.« Das Lächeln auf ihren Zügen vertiefte sich. »Wenn Simon auch immer ein Teil meines Herzens gehören wird – so lerne ich doch gerade, dass man nicht nur einmal im Leben lieben kann. Anders vielleicht, aber deshalb nicht weniger stark. Ich stelle es mir schön vor, in deinem Arm einzuschlafen und morgens neben dir aufzuwachen, Royston. Mit dir zusammen durchs Leben zu gehen. Und ich möchte unsere Kinder aufwachsen sehen und dafür sorgen, dass sie zu glücklichen Menschen werden.« Sie nickte. »Ja, das wünsche ich mir sehr.«
Royston spürte, wie ihm schwindelig wurde vor Glück. »Heißt das ... war das ein Ja?«
Adas Lächeln wurde zu einem Strahlen, jenem Strahlen, das schon verloren geglaubt schien. »Ja, Royston. Oh ja.«
Ich werde auf sie achtgeben, Simon, das schwöre ich dir bei meinem Leben. Sie wird’s immer gut bei mir haben, deine Ada. Meine Ada.
»Wir sollten es deinen Eltern sagen«, raunte er zwischen zwei Küssen. »Und Stevie und Becky.«
Ada nickte. »Ja, das sollten wir.«
Sie standen auf und gingen Hand in Hand über den Rasen zum Haus hinauf.
Ada stellte sich auf die Zehenspitzen, als sie hinter den Eichen eine Kutsche heranrattern hörte, die zum Haus hin abbog und vor dem Hauptportal hielt. »Ich wusste gar nicht, dass wir für heute Besuch erwarten«, murmelte sie, und von Neugierde getrieben, schritt sie mit Royston strammer aus.
Aus der Ferne sah sie einen Gentleman aussteigen, der einer jungen Lady heraushalf, und als diese den Kopf hob, blitzte unter ihrem Hut blondes Haar hervor, hellgolden wie ein Kornfeld. Adas Herz machte einen Satz. »Gracie!«, schrie sie aus Leibeskräften, riss sich von Royston los und rannte mit gerafften Röcken auf den Wagen zu. »Gracie!« Sie fiel ihrer Schwester um den Hals. »Ich bin so froh, dass du wieder da bist!
»Ads!« Grace hielt ihre Schwester so fest, als wollte sie sie nie wieder loslassen. »Oh, Ads!«
Royston, der Ada zögernd gefolgt war, beschleunigte seine Schritte. »Jeremy!« Er presste den verloren geglaubten Freund an seine breite Brust und klopfte ihm mit den geballten Fäusten fest auf den Rücken, ließ schließlich seinen Tränen freien Lauf. »Verdammt, dass ich das noch erleben darf! Es tut so gut, dich zu sehen!«
»Grace!« – »Gracie!« Lady Norbury und Becky rannten die Stufen hinunter, auf Grace zu.
»Mama! Becky!« Grace lachte und weinte zugleich, als ihre Mutter und ihre beste Freundin sie gleichzeitig in die Arme schlossen.
»Zu mir musst du dich leider heraufbemühen«, rief Stephen mit breitem Grinsen von der Tür her und deutete auf den Rollstuhl und auf die Stufen, die Henry gerade hinunterfegte. Unter der Aufregung, die die Luft vor dem Haus vibrieren ließ, zitterte der Hund, und sein Bellen überschlug sich vor Freude.
Grace’ Lachen verlosch, als sich ihr Blick mit dem ihres Vaters traf, der auf seinen Stock gestützt neben seinem Sohn stand, die eisgrauen Brauen zusammengezogen und ein Glitzern in den blauen Augen.
Ada ging voraus, und als sie bemerkte, dass Grace ihr nicht folgte, drehte sie sich zu ihrer Schwester um und streckte die Hand nach ihr aus. »Komm mit, Gracie! Du brauchst keine Angst zu haben!«