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Gebückt hastete Royston über die Steine hinweg. Er zuckte zusammen, als eine Kugel an seinem Ohr vorüberpfiff und gleich darauf die nächste. Mit einem Hechtsprung landete er bäuchlings neben Jeremy und Leonard, der verhalten grinste.

»Gottverflucht«, schnaufte Royston und rappelte sich in eine kauernde Stellung auf. »Worauf warten die feinen Gentlemen eigentlich noch?! Warum haben die nicht längst zum Angriff geblasen?«

»Wille und Weisheit der Kommandeure sind unergründlich«, gab Leonard zurück, und der Witz in seiner Stimme war von beißendem Zynismus unterhöhlt.

Jeremys Mundwinkel spannten sich an, und er sah über die provisorische Befestigungsmauer aus Kisten und Säcken hinweg. Als ein breites sandiges Band unter der gelben Morgensonne wand sich der wadi von ihnen weg, mattgrün überhaucht von den Kronen der niedrigen Bäume, die üppig und flauschig waren wie ein Wischmopp. Dazwischen wuchsen einzelne Akazien mit ihren weißen Dornen und niedriges Buschwerk. Der ausgetrocknete Flusslauf war eingebettet in eine dunkle Wüste, verwittert und schuppig, fast wie ein gefrorener See, und gesäumt von karstigen Felsrücken so wie der, über den sie gestern gekommen waren. Nicht über den Pass, wie ursprünglich geplant, denn Beobachtungsposten hatten auf den Felsen darüber Horden von Derwischen erspäht, ihre Gewänder blendend weiß vor dem dunklen Stein und die Speerspitzen blinkend im Sonnenlicht. Über einen Hügel waren sie geritten, ein mühevoller Aufstieg über Geröll und lockeren Fels und ein nicht ungefährlicher Abstieg auf der anderen Seite, hinein in das Tal von Abu Klea. Drei Stunden Tageslicht waren ihnen geblieben; zu wenig, um noch am selben Tag einen Angriff zu wagen, und gerade noch genug, um in aller Eile ein zariba zu errichten, ein mit herausgerissenen Dornenbüschen geschütztes Lager. Soldaten und Offiziere packten mit an, holten Steine und Felsbrocken herbei und türmten sie zu Wällen auf, und weil es in der unmittelbaren Umgebung zu wenig Steine gab, musste alles an Gepäck herhalten, was sie mitführten.

Jeremys Augen verengten sich, als er weiter ins Tal hinausspähte, dorthin, wo es in eine graubraun melierte Ebene auslief und schließlich mit dem dunstigen Himmel über dem Nil verschmolz. Zelte konnte er dort ausmachen und grüne und weiße Banner, die im Wind flatterten – die Stellungen des Feindes, gut zu erkennen durch die Mündungsblitze, die Rauchwölkchen, die dort verpufften, jedes Mal, wenn ein Gewehr auf sie abgefeuert wurde. Vor allem aber befanden sich dort die Brunnen von Abu Klea. Unwillkürlich zogen sich die Muskeln in seiner Kehle zu einer Schluckbewegung zusammen. Wasser war streng rationiert, und alle litten Durst. Es war nur noch eine Frage von Stunden, wann der Befehl zum Angriff erteilt werden würde, spätestens wenn die Wasservorräte zur Neige gingen und man sich den Weg zu den Brunnen freikämpfen müsste. Doch die Zeit bis dahin konnte noch sehr, sehr lang werden. Immerhin hatte der ausgeteilte Zitronensaft fürs Erste gegen das klebrig trockene Gefühl zwischen Gaumen und Zunge geholfen.

Jeremy wandte den Kopf und sah über den Posten des Kommandanten hinweg auf einen der Hügel hinauf, auf dem die Derwische ebenfalls eine befestigte Stellung errichtet hatten. Während die Briten das Lager aufgeschlagen und provisorisch gesichert hatten, war die Stimmung gut gewesen, locker und leicht aufgekratzt, wie beim Zeltlager einer Jungenschule, und unter Gelächter und Späßen hatten die Männer ihre Waffen gereinigt und poliert und überprüft. Doch der erste Schuss, der am Abend fiel, hatte die heitere Stimmung mit einem Schlag zunichtegemacht. Bis in die Nacht hinein waren sie beschossen worden, und es hatte erste Opfer gegeben. Ihre Antwort in Form eines Bombardements durch die Artillerie hatte bis Einbruch der Dunkelheit für Ruhe gesorgt, doch sobald im Lager hier unten auch nur ein Licht angezündet worden war, hob das Feuer erneut an. Eine Operation an einem der Kameltreiber im Feldlazarett musste abgebrochen und auf den nächsten Tag verschoben werden, weil der Schein der Laterne einen erneuten Beschuss aus den feindlichen Stellungen heraufbeschworen hatte. Eine lange Nacht war es gewesen, finster und mondlos; eine entsetzlich stille Nacht, nur untermalt durch das unaufhörliche dumpfe Schlagen der Buschtrommeln in der Ferne, thung-thung, thung-thung-thung, unwirklich und unheimlich zugleich. Wie der gleichmäßige Herzschlag eines wilden Tieres, das auf der Lauer lag. Ihre müden Körper hatten nach dem kräftezehrenden Ritt der vergangenen Tage ihr Recht auf Schlaf eingefordert; ein Schlaf, der schwarz und bleischwer war und immer nur bis zur nächsten Feuersalve andauerte.

Man hatte mit einem Angriff bei Tagesanbruch gerechnet, doch dieser Angriff war bislang ausgeblieben; nur eine kleine Schar Derwische war johlend von einem der Hügel hinabgerannt und sogleich von einem Schützenverband niedergemäht worden. Allein das beständige Aufflackern des Gewehrfeuers zählte die ersten Stunden des Tages ab.

Jeremys Blick wanderte weiter über das Lager, über die in ausgehobenen Erdkuhlen aneinandergedrängt kauernden Kamele, zu Stephen und Simon, die schweigend und mit angespannten Mienen etwas abseits saßen. Dann erfasste Jeremys Blick einen seiner Männer, der gefährlich aufrecht daherschritt.

»Private Hanson! Runter!«, brüllte Jeremy und sprang auf, spurtete gebückt los, um ihn zu packen und zu Boden zu stoßen. Doch er war zu langsam. Der Soldat hatte sich zwar noch geduckt, aber zu spät. Jeremy hörte die Kugel singen, wie sie knapp an ihm vorbeiflog, Private Hansons Brust durchschoss und schließlich weit hinten in einem aufgestapelten Sack einschlug. Jeremy schnellte vor und fing den zusammensinkenden Soldaten auf, legte ihn langsam auf den Boden und zog den Kopf ein, als die nächste Kugel über ihn hinwegsauste und noch eine. Gläsern starr waren die blauen Augen des Soldaten an den Himmel gerichtet. Sechsundzwanzig, siebenundzwanzig mochte er gewesen sein, so alt wie Jeremy selbst. Der Erste seiner Männer, den er in diesem Feldzug verloren hatte, und Jeremy spürte, dass er nicht der Letzte sein würde. Nicht heute, nicht hier in Abu Klea. Seine Hand legte sich auf das noch warme Gesicht des Mannes, und er schloss ihm die Lider.

Das Signalhorn zerfetzte die angespannte Stille über dem Lager.

Es war neun Uhr morgens, und sie machten sich zum Angriff bereit.

Auf die Minute genau eine Stunde dauerte es, bis sich das Karree vor der zariba formiert hatte und sich in Bewegung setzte, hinein in das Tal von Abu Klea.

Ein langsamer Marsch war es, fort von dem ausgetretenen Pfad, der durch das Gelände führte, hin zu einem der Abhänge auf der rechten Seite. Kugeln prasselten von den Bergwänden auf die Soldaten nieder, schlugen Lücken in die Reihen. »Mann am Boden«, ertönte es immer wieder, und die Sanitäter liefen los, sammelten die Verwundeten auf und luden sie auf die Kamele. Schritt-und-noch-ein-Schritt. Schritt-und-noch-ein-Schritt. Schritt-und-noch-ein-Schritt. Langsam, so langsam.

Wie eine Begräbnisprozession, schoss es Stephen durch den Kopf, und er schluckte hart. Sein Platz war fast am Ende der Formation, vor Royston und hinter den anderen, zwischen ihren Soldaten des Royal Sussex, an der äußersten rechten Ecke des Karrees.

Als der Kugelhagel von allen Seiten immer heftiger wurde, hielt das Karree an. Von den Bergrücken und Hängen, aus dem Gebüsch und den Baumkronen stürmten die ersten Horden von Derwischen durch das Tal auf die Soldaten zu. Die Formation richtete ihre vier Seiten aus; die vorderen Reihen duckten sich, sodass auf jeder Seite die hinteren Linien über die Köpfe der vorderen Reihen hinweg zielen konnten.

»Anlegen! Und Feuer!«, brüllte Jeremy und drückte ebenfalls ab. Während er seinen Männern den Takt zum Nachladen gab, fing er aus den Augenwinkeln Blicke von links und rechts auf. Simon. Stephen. Royston. Leonard. Die fünf Musketiere. Seine Mundwinkel kerbten sich ein, und in perfekter Abstimmung hoben die fünf, gemeinsam mit ihren Soldaten, ihre Martini-Henrys an und donnerten einstimmig: »Anlegen! Und Feuer!«

Die breit gefächerte Bahn aus Kugeln hatte alle Derwische vor ihnen niedergemäht.

Langsam setzte sich das Karree wieder in Bewegung. Schritt-und-noch-ein-Schritt. Anhalten. Anlegen. Feuern. Weitermarsch. Durch Staub und Rauch hindurch, der die Luft verdickte und die Sicht vernebelte. Anhalten. Anlegen. Feuern. Weitermarsch. Eineinhalb Meilen durch das Tal von Abu Klea, eine Stunde lang. Anhalten. Anlegen. Feuern. Weitermarsch. Die längste Stunde in ihrem Leben. Eine kleine Ewigkeit.

Fünfhundert Yards waren sie noch von den grünen und weißen Bannern entfernt. Fünfhundert Yards bis zu den Stellungen des Feindes.

»La illaha illa-llah wa Mohammed rasul Allah!!”

Wie Teufel aus dem Höllenschlund sprangen die Derwische aus einer verborgenen Schlucht unterhalb des Gebüschs. Hunderte, Tausende von ihnen, sie brüllten, schrien, keiften.

»La illaha illa-llah wa Mohammed rasul Allah!!«

Mit der Wucht eines Wirbelsturms warfen sie sich gegen das Karree, in die Bajonette, in die Gewehrmündungen hinein. Stießen ihre Speere in die grau berockten Leiber, hieben auf die Männer ein, mit Schwertern, mit Äxten. Das Wummern und Krachen der großen Gardner-Kanone verstummte mit einem Mal, und Befehlsrufe mischten sich mit Schmerzensschreien.

Das Karree! Das Karree ist durchbrochen! Sie stürmen uns! Vielleicht Rufe, die über die Soldaten hinwegschallten, vielleicht auch nur ein Gedanke, der vielen durch den Kopf jagte.

Es war ein Mahlstrom aus grau gekleideten Leibern, aus weiß gewandeten Körpern, manchmal mit bunten Flicken besetzt, die schwarzen Köpfe kahl und von weißen Käppchen bedeckt. Und grell blitzten ihre Klingen auf im Sonnenlicht, die todbringenden Klingen der Männer des Mahdi. Kamele röhrten, schlugen mit den Hufen aus, brachen getroffen zusammen und begruben Soldaten unter sich.

Jeremy sprang zwischen seinen Männern umher, leistete Hilfestellung, wenn ein Martini-Henry, überhitzt und voller Sand, klemmte; wenn der Defekt nicht gleich behoben werden konnte, gab er den Befehl, mit dem Bajonett weiterzukämpfen. Als er kurz aufsah, trafen sich seine Augen mit denen Freddie Highmores. Hier, in Abu Klea, gab es nur einen Feind, den es zu besiegen galt, und der trug Weiß und nicht Grau.

Ein verzweifelter Kampf war es, als immer mehr Gewehre versagten und die Bajonettklingen beim Zustoßen verbogen stecken blieben. Treffer. Fünf Sekunden. Jeremy riss sich den Helm herunter, der ihm hinderlich war, und schleuderte ihn weg; sollte er eine Kugel oder einen Axthieb darauf abbekommen und auch nur für einen Herzschlag das Bewusstsein verlieren, war er ohnehin so gut wie tot. Er zielte auf den nächsten Derwisch und drückte ab. Treffer. Fünf Sekunden. Seine Freunde nahm er nur noch als verschwommene Farbflecke und Schlieren wahr. Golden, das war Leonard, der sein Martini-Henry wegwarf und sein Schwert zog; groß und dunkel, das war Royston, der weiterhin mit dem Gewehr feuerte und nachlud und zielte und feuerte. Treffer. Fünf Sekunden. Sein Blick streifte Stephen, lang und schmal und braun; Stephen, wie er einem Derwisch die Klinge seines Schwertes in den Leib stieß.

Simon. Wo ist Simon?

Einen Wimpernschlag lang stand Jeremy im stillen Auge des Wirbelsturms und suchte Simon. Er fand ihn, vielleicht zwanzig, dreißig Schritt entfernt, wie er sich mit seinem Gewehr abmühte, das offenbar eine der tückischen Ladehemmungen durch Sand und Hitze hatte. Simon sah den Derwisch nicht, der das Schwert hob, aber Jeremy sah ihn.

»Simon!« Wirf es weg, nimm den Revolver oder das Schwert! Worte, die irgendwo auf dem Schlachtfeld verhallten. Trotzdem ließ Simon das Martini-Henry fallen und griff zum Heft des Schwerts an seiner Seite. Jeremy legte das Gewehr an und zielte auf den Derwisch, drückte ab. Ein leises Klicken. Mehr nicht.

»Gebt mir Deckung! Len! Roy!«, hörte Jeremy sich brüllen und schleuderte die Waffe weg. Er fühlte Len neben sich, als er losrannte, den Revolver zog und das Schwert, sich eine Schneise schlug und schoss durch den Pulk aus Derwischen vor ihm, Simon unverändert fest im Blick.

Eine Klinge sauste auf Simon hinab, hackte in seinen grauen Ärmel und schlug tief in seinen Unterarm. Blut sprudelte heraus, und sein Blick verhakte sich mit dem von Jeremy, ängstlich wie ein kleiner Junge und voller Schmerz. Und doch auch voller Hoffnung. Hilf mir, Jeremy. Hilf mir.

Ich komme, Simon. Ich komme. Jeremys Revolver spie eine Kugel aus und blies den Derwisch hinter Simon fort. Wir sind bei dir, Simon, Len und ich. Nur noch ein paar Schritte! Er setzte zum Sprung an über eine am Boden liegende Leiche, doch er schaffte es nicht mehr. Durch die aufgewirbelte Luft flog ein Schatten auf ihn zu, wie die dunkle Schwinge eines Vogels, zu schnell, als dass er noch hätte ausweichen können. In seinem Schädel explodierte ein Funkenregen aus Schmerz, als dieser Schatten ihn hart an der Schläfe traf. Wie eine Kerze, die man ausblies, verlosch sein Bewusstsein, und es wurde schwarz um ihn.

Mit einer geschickten Drehung wich Stephen einem Schwertstreich aus, schrie auf, als eine Speerspitze sich von vorne in sein Fleisch bohrte. Er taumelte, und seine Muskeln, überanstrengt und ausgetrocknet, versagten ihm den Dienst. Rücklings schlug er hin, gegen etwas Hartes, Spitzes. Brüllte auf, als ein höllischer Schmerz aufflackerte. Atmete erleichtert aus, als der Schmerz sogleich nachließ und ihm nichts mehr wehtat. Metall blinkte über ihm, und ein großer, massiger Schatten baute sich vor ihm auf: Royston, der mit seinem Schwert einen Derwisch niederschlug, dann denn nächsten. Und noch einen.

Simon stöhnte auf, als eine Klinge ihm über den Rücken peitschte und das Blut warm heraussickerte, und er sackte auf die Knie. Simon. Er sah auf, sah aus den Augenwinkeln, wie Leonard auf ihn zurannte. Aber es war nicht Len, der ihn gerufen hatte. Simon, ich bin hier. Simon blinzelte, bemühte sich, nicht auf die klaffende Wunde in seinem Arm hinabzusehen, den er vor die Brust, seine rot durchnässte Brust, gepresst hielt und der ihm so wehtat, als würde ein Feuer sich hineinfressen. Hier, Simon. Seine Augen weiteten sich verblüfft und glänzten auf. Ada. Einen Moment lang stand sie nur da, auf einem Stückchen grüner Wiese, mitten auf dem Schlachtfeld, während um sie herum Kugeln sirrten und Schwertklingen gegeneinanderklirrten. In ihrem einfachen Sommerkleid stand sie da, und die Sonne glänzte auf ihrem Haar, das ihr glatt über die Schultern fiel. Verwundert sah sie ihn an, beinahe fragend, mit diesen Augen, die groß und dunkel waren wie Schwarzkirschen. Dann lächelte sie, dieses Lächeln, das die kecke kleine Spalte zwischen ihren oberen Schneidezähnen zeigte, raffte ihre Röcke und lief los, zwischen den Männern in ihrem tödlichen Kampf hindurch, auf ihn zu. Nicht, Ada! Bleib weg! Hier ist es zu gefährlich! Er hörte ihr helles, perlendes Lachen, als sie näher kam, mit schnellen Schritten, die kaum den Boden berührten. Ich geh nicht weg, Simon! Ich bleib bei dir! Simon fühlte keine Angst mehr, keinen Schmerz, er fühlte sich in Sicherheit. Ada, meine Liebste.

Er sah den Speer nicht kommen. Der Speer eines Derwischs, der ihn von hinten in den Brustkorb traf, Rippen splitterte wie trockenes Holz und sein Herz zerfetzte.

Nicht einmal eine Viertelstunde hatte sie gedauert, die Schlacht von Abu Klea, und nur zäh löste sich der Pulverdampf auf, legte sich der aufgewirbelte Staub. Sie hatten gesiegt. Tausende tote Mahdisten übersäten das Tal, dessen Boden getränkt war von Blut. Doch der Preis für diesen Sieg war hoch. So viele Tote, auch unter ihnen. Die Besten waren es gewesen, der Stolz der Armee.

Wenig Zeit blieb, um die Toten zu begraben und zu betrauern, die Verwundeten zu versorgen und wegzutragen, und noch weniger, um nach den Vermissten zu suchen. Die Zeit lief ab. Für sie selbst auf der Suche nach den Brunnen, deren brackiges Wasser sie erst nach Stunden fanden.

Vor allem aber lief die Zeit für Khartoum ab.