15
Der Rausch der Nacht wirkte fort bis in den nächsten Tag, wenn er auch eine leichtere, eine erfrischendere Beschaffenheit erhielt. Nach einem späten Frühstück versammelten sich Familie und Freunde auf der Terrasse und auf dem Rasen zu einem geselligen Beisammensein bis zur Teestunde, mit der dieses Wochenende sanft ausklingen würde.
Lady Evelyn sah mit wachsender Besorgnis zu, wie Roderick mit unverhohlenem Enthusiasmus Helen Dunmore hofierte, was diese mit einer kühlschultrigen Unnahbarkeit honorierte, die durchblicken ließ, dass sie sein Werben durchaus huldvoll anerkannte. Trotz der bevorstehenden Verbindung der Ashcombes mit den Hainsworths stellte Miss Dunmore in Lady Evelyns Augen keineswegs eine akzeptable Partie für ihren Jüngsten dar, und sie wurde von Schreckensbildern heimgesucht, in denen sie sich an ihrem Lebensabend von einer Horde plärrender und rotznasiger Enkel belagert sah, allesamt geisterbleich und mit gesprenkelter Haut – und vor allem mit dem brandroten Haar, das Lady Evelyn an Helen Dunmore so entsetzlich gewöhnlich fand.
Lord Ashcombe zeigte unterdessen Lord Grantham voller Stolz die sattgelben Blüten des Christusdorns, den er am Rand der Terrasse hatte pflanzen lassen, worauf sich zwischen ihnen ein fachkundiges Gespräch über ihrer beider Anwesen und die bevorstehende Jagdsaison entspann, und Leonards Onkel Major Oliver Hainsworth ließ es sich nicht nehmen, seinen Neffen einmal mehr an seinem reichen Erfahrungsschatz teilhaben zu lassen – und für den Fall, dass auch Tommy dereinst diesen Weg einzuschlagen gedachte, bezog er den Jungen gleich mit ein; die Art, wie dieser jedoch dabei mit glasigen Augen Löcher in die Luft starrte, verriet, dass er allenfalls mäßiges Interesse dafür aufbrachte.
Wie ein herber Likör, der unter eine Süßspeise gerührt wird, sickerte die Gewissheit um den Abschied in den Tag. Ein Abschied voneinander und von diesem Wochenende, ein Abschied vor allem von Royston, Stephen, Leonard, Simon und Jeremy, die einer nach dem anderen in den kommenden Tagen aufbrechen würden, um sich in der Kaserne des Royal Sussex in Chichester einzufinden. Kein Grund jedoch, in Schwermut zu verfallen – schließlich war es kein Abschied für immer; spätestens zu Weihnachten wären sie alle wieder zusammen.
Ein Gedanke, der Colonel Norbury durchaus beschäftigte an diesem Tag, während sein Blick aufmerksam über die Hainsworths, die Ashcombes und ihre gemeinsamen Gäste schweifte, die in angeregtes Plaudern vertieft waren und sich in Lobreden auf dieses Wochenende und auch auf die Räumlichkeiten von Estreham und auf den Garten ergingen. Royston und Cecily strahlten, scheinbar unberührt von der langen Nacht, die hinter ihnen lag, und nahmen überglücklich weitere Glückwünsche und Komplimente entgegen, während Becky auf einen abwesend wirkenden Stephen einredete.
»Wo ist Ada?« Die Stimme des Colonels klang gefährlich scharf.
»Danke sehr.« Lady Norbury nahm die Teetasse entgegen, die das Serviermädchen ihr reichte. »Sie wollte sich gemeinsam mit Grace die übrigen Gärten ansehen.«
»Und Digby-Jones?«
Constance schmunzelte und trat dicht vor ihren Mann. »Findest du nicht, du übertreibst es ein wenig mit deiner Sorge um Adas Tugend?«, raunte sie ihm liebevoll zu. »Simon hat sich in der Zeit, die er bei uns verbracht hat, mehr als anständig verhalten, auch und gerade Ada gegenüber. Gönn ihnen jetzt noch die letzten Stunden, diesen Nachmittag hier und den Abend bei uns zu Hause, bevor Simon seine Sachen packt und morgen früh zu seinen Eltern nach Somerset fährt.«
»Hm«, brummte der Colonel, keineswegs überzeugt, und rührte in seiner Tasse herum.
»Schau dich doch um – der Garten wimmelt von Menschen, die beiden hätten weder die Zeit noch die Möglichkeit, irgendwelchen Unfug zu treiben, und außerdem hat Grace ja ein Auge auf sie. Ein paar Monate werden sich Ada und Simon nicht mehr sehen – das ist eine Ewigkeit, wenn man siebzehn oder achtzehn ist.« Sie nahm ihre Tasse auf. »Wahrscheinlich machst du dir völlig grundlos Gedanken, weil sich ihr Interesse aneinander bis dahin schon wieder gelegt hat.«
»Ich bin jedenfalls froh, wenn ich die beiden etliche Meilen voneinander entfernt weiß.« Er nippte an seinem Tee. »Je mehr, desto besser.«
»Streng genommen gehört das alles«, Grace’ ausgestreckte Hand überstrich eine Seite der Allee aus immergrünen Steineichen, die jenseits der roten Ziegelmauer von Estreham fortführte, »noch zu Surrey. Surrey – der südliche Grat, das Reich südlich der Themse. Estreham war früher einmal ein Teil der Ländereien von Chertsey Abbey, genau wie Shamley.« Die Luft war drückend und schwülheiß, und hinter den Bäumen dräute der Himmel eisengrau, kündigte ein heraufziehendes Gewitter an.
»Warst du schon einmal hier?« Jeremy schlüpfte aus seinem Jackett und klemmte es sich unter die Achsel, löste die Manschettenknöpfe seines Hemdes und krempelte die Ärmel auf. Außer ihnen und Simon und Ada, die schweigsam und die Hände ineinander verschränkt hinter ihnen gingen, war auf dem schmalen Feldweg hinter dem Torbogen keine Menschenseele unterwegs.
Grace nickte. »Ein- ... nein, zweimal sogar. Als Lady Evelyn hier während der Saison eine Gesellschaft gegeben hat. Allerdings habe ich da nur einen kleinen Teil des Hauses zu sehen bekommen und auch nur ein Stück vom Garten.«
Jeremy hängte sich das Jackett am Zeigefinger über die Schulter. »Es ist dir anzumerken, wie sehr du hier verwurzelt bist, in Surrey.«
Grace lächelte belustigt. »Du demnach nicht in deinem Lincolnshire?«
Seine Mundwinkel kerbten sich ein, und er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin mir dessen bewusst, wo ich herkomme und inwiefern es mich geprägt hat, das ist aber auch schon alles.«
Sie nickte verstehend und riss einen sonnengebleichten Halm vom Wegesrand ab.
Jeremy betrachtete sie, wie sie neben ihm einherschlenderte, in ihrem hübschen, aber schlichten Sommerkleid in Weiß und Grün und wie selbstverständlich ohne Hut, ohne Schirm, als kümmerte es sie nicht, dass die Sonne ihre Haut bräunte und die Sommersprossen auf ihrer Nase mehrte. Grace war so gänzlich anders als all die Mädchen, als all die Frauen, denen er begegnet war, geprägt davon, die Tochter eines Baronets und eines Offiziers zu sein, auf dem Land groß geworden, ohne etwas Provinzlerisches zu haben, fest verwurzelt in der kleinen, überschaubaren Welt, in der sie aufgewachsen war.
»Könntest du dir überhaupt vorstellen, an einem anderen Ort zu leben?«
Sie zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen. »Ich weiß es nicht. Das hängt vermutlich davon ab, wo genau und warum – und mit wem ...« Sie hatte es kaum ausgesprochen, als sie bemerkte, wie bedeutungsvoll das Ende des Satzes klang, und als sie Jeremy ansah, verriet ihr das Funkeln in seinen Augen, dass er es ebenso aufgefasst hatte.
Grace biss sich auf die Unterlippe und gluckste in sich hinein, beinahe schon verlegen; sie machte einen schlenkernden Schritt zur Seite und dann einen wieder zu Jeremy hin, und unabsichtlich streifte ihre Schulter seinen Oberarm. »So sehr viel habe ich ja noch nicht gesehen von der Welt«, sprach sie schnell weiter. »Außer Surrey und London und die Gegend um Portsmouth. Oh, und in Italien war ich mit dreizehn, mit meiner Mutter und Ada. – Erinnerst du dich daran eigentlich noch, Ads?« Sie warf einen Blick zurück und blieb jäh stehen. »Ads?!« Von Ada und Simon war nichts mehr zu sehen »Ads? Simon? Ads!« Grace reckte sich, stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte sich nach allen Seiten um. »Ich muss sie suchen gehen«, rief sie hastig und raffte den Rock ihres Sommerkleides, um loszulaufen.
»Bleib hier!« Jeremy packte sie am Arm, fest, beinahe grob. »Simon wird sich schon untadelig benehmen!«
»Das mag sein – aber wenn mein Vater davon erfahren sollte, dass die beiden allein herumgestreift sind, dann steht ihnen ein gewaltiger Krach bevor!«
Jeremy grub seine Finger fester in ihren Arm. »Du bist nicht verantwortlich für Ada, Grace! Und auch nicht für den Frieden in eurem Haus! Deine Schwester ist alt genug, um selbst zu wissen, was sie tut. – Und außerdem«, seine Stimme senkte sich, klang noch rauer als sonst, »außerdem waren wir beide auch schon allein.«
Der Klang seiner Worte beschwor die Kühle eines dichten Waldes herauf und den blauen Hauch eines Meeres aus Glockenblumen, und Grace hatte das Gefühl, der Boden unter ihren Füßen würde weich und nachgiebig.
»Das ist etwas anderes«, flüsterte sie. »Mit uns.«
»Bist du dir da so sicher?« Seine Hand strich an ihrem Arm hinab, umfasste ihr Handgelenk, hob es an, und beide sahen zu, wie sich seine Handfläche gegen die ihre legte und wie seine Finger sich mit den ihren verschränkten.
Das Jackett rauschte zu Boden. Jeremy schlang den Arm um Grace’ Taille und zog sie an sich. Sie erschauerte, als sein Mund über ihre Schläfe strich, über ihre Wange und über ihren Mundwinkel, bis er ihre Lippen fand, die sich ungleich weicher anfühlten, als er es sich je hätte vorstellen können, und die schmeckten, wie feuchte Grashalme dufteten, und wie Klee.
Ada und Simon liefen durch den südlichsten Teil des Gartens, der eigentümlicherweise »Wildnis« genannt wurde, obwohl akkurat getrimmte Hecken aus Buchsbaum und Eiben ihn durchzogen, um Reihen niedriger Hainbuchen zu einem Irrgarten angeordnet und an den Ecken von vier Pavillons aus weiß lackiertem Holz geziert.
Ada blieb so unvermittelt stehen, dass Simon beinahe auf sie geprallt wäre, und ihm entfuhr ein überraschter Laut, als sie sich auf dem Absatz umdrehte, ihn am Revers seines Jacketts packte und stürmisch auf ihn einküsste.
»Bist du verrückt«, japste er lachend zwischen zwei Atemzügen, »wenn uns jemand sieht!«
»Hier kann uns niemand sehen«, schnurrte sie an seiner Wange. Mit einem raschen Seitenblick vergewisserte er sich, dass die Kronen der versetzt angeordneten Buchen tatsächlich vom Haus her keine Einblicke erlaubten; dann erwiderte er Adas Küsse, bis sie ihn von sich stieß, sodass er ins Taumeln geriet.
»Ada«, rief er ihr hinterher, als sie weiterrannte und ihn über die Schulter anlachte, und mit einem glücklichen Flattern in der Magengrube lief er ihr nach.
Es war ein Fangenspielen nach Adas Regeln, das sie durch die Gärten von Estreham führte. An der Orangerie und den blühenden Granatapfelbäumchen vorbei, durch den Kräutergarten und unter einem Gewölbe an weißen und flammenfarbenen Kletterrosen hindurch. Ada war es, die den Weg vorgab und dabei Haken schlug wie ein Hase und immer wieder unvermittelt stehen blieb, die Arme um Simon schlang und sein Gesicht mit Küssen bedeckte, sodass ihm schwindelig wurde, bevor sie weiterrannte und er ihr folgte. Über einen schmalen Wiesenstreifen und in ein Wäldchen aus Laubbäumen, auf das Häuschen aus Backstein unter einem grauen Schindeldach zu. Keuchend lehnte sie sich gegen die Eingangstür, schob sie mit der Schulter auf und wartete, bis Simon nur noch wenige Schritte entfernt war, dann schlüpfte sie hinein, und die Tür fiel schwer hinter ihr ins Schloss.
Verdutzt blieb Simon stehen. Dann ging er ihr nach.
»Ada?« Er drückte die Tür auf und trat über die Schwelle. Auf zwei Seiten des niedrigen Raumes standen Türen offen und gaben Einblick in enge Zimmer, die vollgestopft waren mit spinnwebbedeckten Schränken und verhüllten Kanapees und Sesseln, mit aufeinandergestapelten Kisten und Säcken. Es roch muffig hier, nach Staub und altem Holz und trockenem Papier und vergilbten Stoffen, nach Zeit und nach Ewigkeit. »Ada?«
»Hier oben!«
Simon musterte die schmale Treppe, die sich nach ein paar Stufen im Dämmerlicht verlor. Er zögerte, einen, zwei Wimpernschläge lang. Dann setzte er den Fuß auf die erste Stufe.
Der Himmel hatte sich auf die Wipfel der Bäume gelegt, undurchdringlich und wolfsdunkel. Kein Laut war zu hören. Kein Insekt schwirrte mehr umher, und auch die Vögel blieben stumm. Aus der Ferne zitterte ein Grollen heran, schwoll an zu einer polternden, hallenden Kaskade und verklang in einem leiser werdenden Rumpeln, dessen Echo noch einige Herzschläge lang in der Luft vibrierte.
»Wir sollten umkehren«, raunte Jeremy gegen Grace’ Mund.
Ihre Lider zuckten, öffneten sich schließlich, wenn auch widerstrebend, und sie nickte.
Er entließ sie aus seinen Armen und bückte sich, um sein Jackett aufzuheben, es nachlässig auszuklopfen und sich über die Schulter zu werfen. Wortlos streckte er die Hand nach ihr aus, und ebenso wortlos legte Grace ihre Finger hinein. Eine Weile waren nur ihre Schritte zu hören, knirschend auf dem trockenen Boden, auf dem groben Kies. Das Rascheln, als ein einzelner Windstoß durch das Laub über ihren Köpfen fegte und sich sogleich wieder davonmachte.
»Schreibst du mir aus Chichester?«
Erneut rollte ein Donner heran, kräftiger diesmal und mit länger anhaltendem Nachhall. Und umso bleierner war die Stille danach.
»Jeremy?«
Ein Blitz flammte in den Wolken auf.
Jeremy blieb stehen und sie mit ihm. Er sah auf ihre verschlungenen Hände hinab und verstärkte den Druck seiner Finger. »Ich habe in den letzten Wochen viel nachgedacht, Grace. Mir wollte einfach nicht in den Kopf, warum das Ministerium gleich fünf Offiziersstellen mit uns Absolventen besetzt hat. Allein mit der neuen Zusammensetzung des Regiments nach der Reform konnte ich es mir nicht erklären. Also habe ich mir überlegt, dass es einen triftigen Grund geben muss, wenn die Reihen des Regiments aufgestockt werden.« Zwischen seinen Brauen zeigten sich schmale Kniffe, und sein Mund wirkte angespannt. »Momentan scheint zwar alles ruhig, aber offenbar rechnet man im Ministerium durchaus mit einem baldigen Einsatz des Royal Sussex.«
Grace’ Kehle wurde plötzlich eng, und das Sprechen fiel ihr schwer. »Kannst du dir vorstellen, wo das sein könnte?«
Seine Augen wanderten über Grace hinweg in die Ferne. »Irgendwo in Afrika vielleicht. Eine neue Krise, nach den Kriegen gegen die Zulus und die Buren. Ägypten möglicherweise.«
Ägypten. Sand und Pyramiden und der Nil. Pharaonen und Fellachen und die Sphinx. Grace durchforstete ihr Gedächtnis, rief sich in Erinnerung, was sie unlängst in Zeitungen und Magazinen darüber gelesen hatte. Ein korruptes und bankrottes Land, europäischen Mächten gegenüber hoch verschuldet und dadurch deren Einfluss ausgeliefert. Ein zwischen Osmanischem Reich und dem Khediven als Marionettenherrscher gespaltenes Land, zerrissen zwischen Großbritannien und Frankreich, zwischen Ägyptern, Tscherkessen, Türken und Albanern, zwischen Altertum und Moderne, zwischen Armut und Überfluss. Und ein Land, das vom Leben in Surrey so weit entfernt schien wie der Mond.
»Das Royal Sussex unterhält Garnisonen auf Malta und auf Zypern. Womöglich werde ich nicht lange in Chichester bleiben. Ich hoffe zumindest, dass ich nicht auf Dauer dort bleibe. Wenn es zu einem Krieg kommt, dann will ich dabei sein, Grace! Das könnte meine Chance sein – meine Chance, mich verdient zu machen, vielleicht eine Beförderung zu erringen.«
Seine Augen glänzten wie im Fieber. »Eine Chance für uns, Grace.«
Adas Herz hämmerte gegen ihre Rippen, und sie presste sich fester mit dem Rücken gegen die Wand neben dem Türrahmen. Sie mochte sich lieber nicht vorstellen, dass es in diesem Haus tatsächlich spuken könnte. Schon bei dem Gedanken daran richteten sich die Härchen an ihren Unterarmen auf. Angst machte ihr diese Vorstellung jedoch nicht. Eigentlich machte ihr nichts Angst, solange sie Simon in ihrer Nähe wusste. Und er war in ihrer Nähe, das verriet das Knarzen der Dielen vor der Tür.
»Ada?«
Allenfalls ihre eigene Courage vermochte ihr Angst einzujagen, mit der sie sich am frühen Morgen, während Grace in dem breiten Himmelbett noch fest schlief, aus dem Gästezimmer gestohlen hatte, um das ehemalige Gärtnerhaus näher in Augenschein zu nehmen.
»Ada, wo bist du?«
Sie fasste das breite Bett ins Auge, auf dem zusammengefaltete Decken und Laken und stockfleckige Kissen lagen, und ihr Magen schlug einen Purzelbaum.
»Ich bin hier, Simon!«
Als er eintrat und sich suchend umblickte, stieß sie sich von der Wand ab und ging um ihn herum. Noch im Gehen schlüpfte sie aus ihren Schuhen und zupfte die letzten verbliebenen Nadeln aus ihrem Haar, das ihr vom schnellen Lauf in losen Strähnen über die Schultern fiel. Sie wich seiner ausgestreckten Hand aus und stellte sich ans Fußende des Bettes. Vor allem seinem Blick wich sie aus; sie konnte ihn nicht dabei ansehen.
Mit gesenkten Lidern öffnete sie die obersten Knöpfe ihres Kleides, eines der wenigen, die sie besaß, die sich ohne fremde Hilfe anziehen und ausziehen ließen.
»Was machst –« Die Frage blieb ihm im Hals stecken, der plötzlich rau und trocken war wie Sandpapier. Unfähig, sich zu rühren, schaute er zu, wie sie sich aus dem Kleid schälte und es achtlos zu Boden fallen ließ. Wie sie die Häkchen an der Vorderseite des Korsetts eines nach dem anderen aufmachte, die mit Streben verstärkte Stoffbahn beiseitewarf und danach aus dem leichten Unterrock stieg.
Simon durchlief es heiß und kalt zugleich, und seine Finger umkrampften schweißfeucht das Jackett in seiner Hand, das er auf dem Weg hier herauf ausgezogen hatte. Nicht, Ada. Hör auf.
Nur in Unterwäsche ließ sie sich auf der Bettkante nieder und rollte einen Strumpf herunter, dann den anderen. Sie kauerte sich zusammen, um sich das taillierte Hemdchen über den Kopf zu ziehen, hob kurz die Hüften an und schob sich aus der langen, volantbesetzten Unterhose. Einen Berg Wäsche zu ihren Füßen, saß sie schließlich da, leicht vorgebeugt, die Knie beisammen, das Haar wie in dicken Strängen aus Seide über den Schultern, über der Brust. Endlich hob sie den Blick, den Kopf mit den roten Wangen schräg gelegt.
»Jetzt ... du?«
Mit ihrer hellen Haut sah sie aus wie eine an Land gespülte Meerjungfrau. Nichts an ihr wirkte lasterhaft oder gar verdorben. Sie war ganz Unschuld, so als handele es sich um ein harmloses Kinderspiel, und doch war sie die leibhaftige Versuchung und ganz Frau.
Nicht, Ada, wir müssen doch nicht ... Das Jackett glitt aus seinen Fingern, und wie von selbst setzten sich Simons Füße in Bewegung. Bleib anständig, Simon! In den vier Schritten bis zum Bett peinigten ihn Gedanken an den Colonel. Ich kann doch nicht – ich darf doch nicht ... Colonel Norbury würde dafür sorgen, dass Simon Digby-Jones noch vor Dienstantritt aus dem Regiment flog und niemals mehr irgendwo einen Posten bekäme. Aus und vorbei. Gedanken, die sich zu albtraumhaften Bildern steigerten. Wie Adas Vater ihn mit Kugeln durchsiebte. Gott, Ada, ich will dich so sehr ... Wie der Colonel ihn mit einem einzigen Schwertstreich entmannte. Ich bin erledigt, wenn das je ...
Dann dachte er nichts mehr, und er sank vor Ada auf die Knie.
Vorsichtig, als fürchtete er, sie würde sich bei der ersten Berührung in Luft auflösen oder ihn von sich stoßen, legte er die Hände auf ihre Schenkel, und als nichts geschah, als sie stillhielt, ließ er sein Gesicht darauf ruhen. Ein schwacher Duft ging von ihr aus, schwer wie voll erblühte Lilien, und Simon drückte mit seinem Kopf ihre Beine auseinander, umschlang ihre Hüften, die schmal waren und doch sanft gerundet, und bahnte sich seinen Weg zum Quell dieses Duftes. Ada wand sich, gab einen Laut von sich, der klang wie ein Aufkichern, als er sein Gesicht gegen das dunkle Vlies ihres Venushügels drückte, atmete dann entzückt aus, als er ihren Duft trank. Aufwärts, aufwärts, über ihren flachen Bauch, hin zu ihren kleinen Brüsten, die Spitzen blass und zart wie Rosenknospen. Ihre Finger krallten sich in sein Haar, und Funken sprangen über Simons Rückgrat hinab, als sie seinen Nacken hinunterstrich, an seinem Hemd zerrte, bis sie es ihm abgestreift hatte, und irgendwie gelang es Simon dabei noch, Schuhe und Socken auszuziehen.
Sie tauschten ein kleines Lächeln, und Ada langte hinter sich, rutschte auf dem Rücken in die Mitte des Bettes, und Simon, der mit fahrigen Bewegungen Hosen und Unterhosen abstreifte, folgte ihr auf allen vieren.
Dann gab es für Simon nur noch Ada. Weiche Haut und weiches Haar, schlanke Glieder und mädchenhaft sanfte Rundungen unter seinen Händen, seinem Mund, seiner Zunge; alles, was er berührte und schmeckte, was er roch und atmete, war Ada, nichts als Ada. Adas Finger, unbeholfen noch, aber umso neugieriger, tasteten und streichelten und wiesen ihrem heißen Mund den Weg. Jeder Muskel in Simons Leib war zum Zerfetzen gespannt, und jede Ader, jede Vene bis zum Bersten übervoll mit seinem Verlangen. Er wollte warten, warten auf irgendwas, das er vergessen hatte; vielleicht etwas, das er hätte fragen oder sagen sollen oder das von Ada hätte kommen müssen, aber er konnte nicht mehr warten. So langsam und so sanft, wie es ihm noch möglich war, schob er sich zwischen ihre Schenkel, in sie hinein, bis er auf Widerstand stieß. Er hielt inne, zauderte kurz, ganz kurz und konnte dann doch nicht anders, als sich dem Sog zu überlassen, der aus Ada kam.
Ada entfuhr ein fiepender Laut, als Simon etwas in ihr zerbrach. Es tat weh, viel mehr, als sie gedacht hätte; es brannte, brannte wie Feuer. Stockend füllten sich ihre Lungen wieder mit Atem unter diesem Brand, der ihr Innerstes, ihr Geheimstes zum Schmelzen brachte. Der Schmerz verschwand nicht, aber sie vergaß ihn über den warmen Wellen, die Simon mit jedem seiner Stöße durch ihren Körper schickte. Ihre Haut schien plötzlich dünner als zuvor, alle Nerven schienen darunter bloßzuliegen, beinahe quälend überempfindlich, und dann spürte sie nicht mehr, wo Ada aufhörte und wo Simon begann. Sie wusste nicht, ob das Zucken, das sie tief in sich wahrnahm, seines war oder ihres und wessen Atem erst so schnell ging und dann in einem lang gezogenen, kehligen Laut auslief. Und alles, alles versank sogleich in der Seligkeit, die durch Ada hindurchrann wie schwerer Honig und die in jeden noch so entlegenen Winkel ihres Seins hineintroff.
Groß wie Pennys klatschten die ersten Regentropfen zur Erde und stanzten dunkle Abdrücke in den Boden. Die Luft roch nach herabgewaschenem Staub und nach nassem Grün, schweflig wie abbrennende Streichhölzer, wieder und wieder entzündet von den grellen Blitzen und durchdröhnt von Donnerkrachen.
besonneneren Rufen und von leisem Klirren und Scheppern – die Nachmittagsgesellschaft war vom Gewitter überrascht worden, und die Bediensteten beeilten sich, das Nötigste zusammenzuräumen und ins Trockene zu bringen.Jeremy und Grace rannten durch das Tor, jagten über den Rasenstreifen zwischen den Hecken und der hohen Umfriedungsmauer, schlüpften atemlos unter das Dach eines der Pavillons. Ein Lachen kitzelte Grace hinter dem Brustbein, doch es wollte nicht hervorkommen, und als sie sich über das nasse Gesicht wischte, wusste sie, dass sich darauf Regen und Tränen vermischt hatten. Zwischen den Hainbuchen drang mehrstimmiges spitzes »Ach je!« und »Huch!« hervor, unterlegt von
Das Kleid klebte ihr am Körper, und Grace fröstelte, obwohl das Gewitter noch keine wirkliche Abkühlung gebracht hatte, und unwillkürlich verschränkte sie die Arme.
»Hier.«
Sie sah auf, als Jeremy ihr sein Jackett um die Schultern legte. Sein Haar war schwarz vor Nässe, hing ihm triefend in die Stirn, und sein Hemd haftete fast durchsichtig an seinem Oberkörper. Grace wandte die Augen ab und wickelte sich fester in den Stoff, der nach Jeremy roch, ein bisschen wie frische Sägespäne und wie Bienenwachs. »Danke.«
Stumm sahen beide hinaus in den Regen, über dem Blitz und Donner sich einen lebhaften Schlagabtausch lieferten.
Jeremy packte das Revers seines Jacketts und zog sie an sich, sodass sie sich gegenüberstanden, kaum eine Handbreit voneinander entfernt, und sie gezwungen war, ihm in die Augen zu blicken. »Grace, hör mir zu. Es mag das Unvernünftigste sein, was ich je getan habe – aber ich kann einfach nicht anders. Ich bin nicht in der Lage, eine Frau, eine Familie ordentlich zu ernähren, und ich weiß nicht, ob und wann das jemals der Fall sein wird.« Grace’ Herz begann wild zu schlagen, und Jeremys Stimme klang mit einem Mal heiser. »Eigentlich habe ich kein Recht, jetzt so vor dir zu stehen. Trotzdem werde ich alles tun, was ich kann, um so bald wie möglich vor deinen Vater zu treten und in aller Form um deine Hand anzuhalten. So lange – so lange kann ich dich nur bitten, auf mich zu warten. Und dich fragen, ob du mir versprechen willst, eines Tages meine Frau zu werden.«
Wie gut kennst du Jeremy wirklich?, blitzte es in Grace’ Verstand auf. Gut genug, Len. Gut genug.
Ein gewaltiges Gefühl des Glücks schäumte in Grace auf und trieb ihr neue Tränen in die Augen. Sie musste mehrmals schlucken, bevor sie antworten konnte. »Ja, Jeremy. Das verspreche ich dir von ganzem Herzen. Wie lange es auch dauern mag.«
Der Regen trommelte auf das Dach des alten Gärtnerhauses, plitschte irgendwo durch eine undichte Stelle zwischen den altersrußigen, mit dicken Staubschnüren behangenen Holzbalken hindurch. Bläuliche Lichtflecken flackerten dann und wann in den Raum hinein, und beinahe schon behaglich grummelte vor dem Fenster der Donner des nachlassenden Gewitters.
Es widerstrebte Simon, eine der alten und nach faulendem Laub riechenden Decken über Ada zu breiten. Aber er hatte nichts anderes, und Ada fror; zumindest zitterte sie, und ihre Zähne schlugen aufeinander. Sorgsam entfaltete er den abgenutzten Stoff, zog ihn über ihren schlanken Leib und bettete ihren Kopf in seine Armbeuge. »Besser?«
Sie nickte, die Lider geschlossen, und schmiegte sich enger an ihn. Verwundert und dankbar betrachtete er sie, fuhr mit dem Finger die Konturen ihres Gesichts nach, so als müsste er sich vergewissern, dass sie wirklich war. Er war überwältigt, nicht mehr nur die rauschhafte Erfüllung körperlichen Begehrens erlebt zu haben, sondern tief in seiner Seele berührt zu sein. Wie von einer Engelsschwinge gestreift.
Ada erriet, dass sie sich schuldig fühlen müsste oder voller Scham, aber sie empfand nichts dergleichen. Nicht einmal die Nässe zwischen ihren Beinen, ihr Blut und Simons Samen, war ihr unangenehm. Aufgewühlt lauschte sie dem Pulsieren in ihrem Unterleib, dieser seltsamen, köstlichen Vermengung von Brennen und wohliger Wärme und einer Leere, die sie noch nie zuvor wahrgenommen hatte und die zugleich Sattheit war. Und als sie ihre Wange an Simons Brust, an seine warme Haut schmiegte, seinen Herzschlag mehr fühlte denn hörte, dachte sie, dass sie noch nie so glücklich war wie jetzt, in diesem Augenblick.
Ihre Lider flatterten, hoben sich. Sie zog einen Arm unter der Decke hervor und nahm Simons Hand, hauchte einen Kuss hinein und spielte mit seinen Fingern, zeichnete die Linien in seiner Handfläche nach, faltete die ihre schließlich in die seine.
»Jetzt gehören wir für immer zusammen«, flüsterte sie.
Simon blinzelte, um die Tränen zurückzudrängen, die hinter seinen Augäpfeln brannten. »Ja, Ada.« Er drückte sie fest an sich und legte seine Lippen auf ihre Wange. »Und nichts und niemand wird uns jemals mehr trennen.«