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Stephen schlenderte durch den pulvrigen goldgelben Sand, der bei jedem seiner Schritte aufstob, und ging in Gedanken noch einmal die Vorbereitungen durch, die er seine Männer hatte treffen lassen. Ausrüstung Stück für Stück durchsehen und überprüfen. Wasserflaschen und Provianttaschen füllen. Munitionsvorrat aufstocken. Gewehre reinigen und schmieren. Nein, er hatte nichts vergessen, alles erledigt und in Ordnung.

Er ging auf die Knie und setzte sich auf den Boden. Der Untergrund war kühl, und sofort zog ein klammes Gefühl durch den Stoff seiner Hosen. Trotzdem zog er Stiefel und Socken aus, grub seine nackten Zehen tief in den kalten, klebrig mehligen Sand. Ein Gefühl auf der Haut wie Freiheit, und er seufzte selig auf. Der weite Himmel, flach wie eine straff gespannte Plane, war grau und unfreundlich, und vom Meer her kam ein frischer Wind herein, der gut roch, klar und rein. Unschuldig beinahe. Eine Weile saß Stephen nur da, sah auf das Wasser der Lagune hinaus, das in gleichmäßigen Atemzügen über den Strand strich und sich wieder zurückzog, und auf die flachen kamelbraunen Inseln, die die blasse Linie des Horizonts unterbrachen. Aus der Uniformjacke zog er sein Notizbuch hervor, auf dessen Seiten er manchmal etwas festhielt, das ihm wichtig erschien, oder etwas, das ihm gerade durch den Kopf ging, holte einen leeren Briefbogen hervor und setzte den Bleistift an.

Trinkitat, den 28. Februar 1884

Liebe Ads, liebe Grace,

ich danke Euch sehr für Eure lieben Zeilen, wenn ich sie auch mit Verspätung erhalten habe, da wir bereits seit einiger Zeit nicht mehr in Cairo sind. Per Eisenbahn und Schiff sind wir – eingepfercht wie auf einem Viehtransport – nach Suakin verbracht worden, eine Hafenstadt am Roten Meer, die bereits im Sudan liegt und wo wir mittlerweile unser Hauptquartier aufgeschlagen haben. Seit ein paar Tagen halten wir uns weiter im Süden auf, hier in Trinkitat. Mitten im Nichts. Nur Sand und Wasser, so weit das Auge reicht.

Gewiss habt Ihr inzwischen aus den Zeitungen erfahren, dass die im September entsandten ägyptischen Truppen unter Hicks Pasha von den Anhängern des Mahdi Anfang November bei El Obeid restlos vernichtet wurden, bis auf den letzten Mann. (Liest man bei Euch überhaupt etwas darüber? Ich weiß zwar, dass einige Berichterstatter hier herumschwirren, aber mir kommt es so vor, als säßen wir hier am Ende der Welt und plagten uns mit einem Aufstand herum, der im Grunde niemanden wirklich interessiert. Falls ich Euch also mit Nachrichten behellige, die für Euch längst ein alter Hut sind, seht es mir bitte nach!).

Es ist ein Flächenbrand, der den Sudan überzieht. Der ganze Süden bis hinauf nach Khartoum soll in den Händen des Mahdi sein, und mit jedem Sieg findet er neue Anhänger, erbeutet er mehr Feuerwaffen, die ihn noch stärker machen. Es scheint mir sinnvoll, dass unsere Regierung den Khediven gedrängt hat, den Sudan aufzugeben; soll der Mahdi hier doch tun und lassen, was er will. Aber es will mir nicht in den Kopf, dass ausgerechnet wir, die britische Armee, jetzt die Kohlen aus dem Feuer holen sollen. Wir sollen den Sudan räumen und die überall in Garnisonen verteilten und zum Teil von den Aufständischen eingeschlossenen ägyptischen Soldaten herausholen. Warum wir? Die Regierung unter Gladstone will nichts zu tun haben mit Ägyptens Problemen im Sudan, aber uns schicken sie dennoch hierher.

Andererseits ist mir bewusst, das dies auch ein Einsatz für die Menschlichkeit ist, und allein darin sehe ich unsere Verpflichtung, gegen den Mahdi zu marschieren. Schließlich geht es darum, die Zivilisten in Khartoum zu evakuieren, und das sind viele Tausend. Zu diesem Zweck haben sie sogar Major General Gordon aus dem Ruhestand zurückgeholt. Er kennt die Stadt, er war ja einmal dort Gouverneur des Sudan von des Khediven Gnaden. Vor zwei Wochen ist er dort eingetroffen und wird die Räumung der Stadt vorbereiten – und wir, wir sollen den Korridor für die Flucht durch das feindliche Gebiet schlagen, für den wahrscheinlichen Fall, dass der Weg über den Nil von den Mahdisten abgeschnitten wird. Hier im Osten hat sich ein Sklavenhändler namens Osman Digna (ich bin mir nicht sicher, ob er sich so schreibt) dem Mahdi angeschlossen und sich bis fast vor Suakin vorgekämpft. Tokar und Sinkat hat er schon eingenommen und dabei die Truppen von Baker Pasha, die vor uns versucht haben, die Schneise zu schlagen, fast vollständig ausgelöscht. Nur eine Handvoll Männer gelangte zurück in das Camp von Trinkitat. Und wir brauchen Suakin; der Landweg dorthin und von dort über das Rote Meer ist der einzig mögliche Fluchtweg für die Menschen von Khartoum.

Morgen in aller Frühe brechen wir auf ins Landesinnere. Wir werden denselben Weg nehmen wie Baker Pasha, der auch wieder mit dabei sein wird, und wir werden versuchen, mit über viertausend Mann Osman Digna und seine Krieger zu vernichten. Ich würde lügen, wenn ich behauptete, ich hätte keine Angst – denn dieses Mal wird es für uns nicht ohne Kampf abgehen, und das, was wir bisher über die Mahdisten gehört haben, war furchteinflößend.

So bitte ich Euch: Wünscht uns allen Glück und Erfolg bei diesem Unternehmen. Ich hoffe, wir sind bald wieder sicher in Suakin oder Cairo. Sagt bitte dem Colonel nicht, was ich Euch da schreibe, und Mama auch nicht unbedingt. Sie sollen mich beide nicht für einen Feigling halten. Ich hab Euch beide lieb, Ihr fehlt mir sehr! Grüße an unsere Eltern und auch an Becky.

Euer Stevie

P.S. an Grace: Ich nehme an, Jeremy schreibt es Dir nie, und er verliert auch uns gegenüber kein Wort darüber, aber ich weiß, er vermisst Dich.

Nachdem er den Umschlag zugeklebt hatte, sah er noch eine Weile aufs Meer hinaus und vermied es dabei, einen Blick auf die geschützbewehrten Schiffe und auf die vertäuten Boote zu werfen, mit denen sie hierhergekommen waren und die ihn daran erinnerten, warum er hier war. Er wäre gern einfach hier sitzen geblieben, in der Stille fernab des Lagers, vielleicht um die Aussicht, die sich ihm hier bot, in ihrer Ödnis von einer ganz eigentümlichen Schönheit, in einer kleinen Skizze festzuhalten. Wie er es manchmal tat, auf den Seiten seines Notizbuches. Nur Kritzeleien waren es, zu mehr fehlte ihm das nötige Talent, aber sie taten ihm dennoch wohl.

Schweren Herzens rieb er sich den Sand von den Füßen und zog Socken und Stiefel an. Im Aufstehen klopfte er sich den Hosenboden sauber und wanderte dann langsam zum Lager zurück, zwischen den Soldaten und den Offizieren hindurch, die ihren Tornister packten und ihr Bündel schnürten, mit der Pflege ihrer Waffen beschäftigt waren oder einfach beieinandersaßen, rauchten und die Anspannung, vielleicht auch die Angst, wegredeten und weglachten, bis zum Zapfenstreich geblasen würde. Die Sanitäter durchwühlten ihre Medizintaschen und wickelten Bandagen auf, und die Ärzte zählten ihre Instrumente nach.

Er ging auf eines der wenigen weißen Versorgungszelte zu, vor dem auf einer umgestülpten Kiste ein spindeldürrer Kerl saß mit einem Gesicht wie eine zu lange gelagerte Kartoffel. Eine zerknitterte qualmende Zigarette im Mundwinkel, eine andere als Vorrat hinter dem Ohr, pulte er mit der Spitze eines Feldmessers seine Fingernägel sauber.

»He, Fred.« Stephen stieß ihn gegen die Schulter und hielt ihm den Brief unter die Nase. »Meinst du, du könntest den irgendwie nach Suakin bekommen?«

»Wollwoll«, nuschelte Fred, sodass die Zigarette zwischen seinen Lippen auf und ab wippte, griff nach dem Umschlag und ließ ihn sogleich in den geöffneten Sack neben sich fallen, der einen ganzen Berg an Briefen enthielt; offenbar war Stephen nicht der Einzige, der noch schnell nach Hause geschrieben hatte. Fred, der Postmeister, kniff ein Auge zusammen und sah Stephen mit breitem Grinsen von unten herauf an. »Für euch geht’s morgen los, was?« Er ballte die knorrige Hand zur Faust und boxte energisch in die Luft. »Macht sie fertig! Zeigt den Fuzzies, wer der Stärkere ist!« Fuzzies oder Fuzzy-Wuzzies, »Wollköpfe« – der Spottname für die üppige Lockenpracht der Hadendoa, des Stammes von Osman Digna, hatte sich schnell verbreitet, auch und gerade unter den Männern, die noch keinen von ihnen zu Gesicht bekommen hatten.

»Danke schon mal. Für den Brief.« Stephen rang sich ein unverbindliches Lächeln ab und stiefelte weiter. Vorbei an den Husarenregimentern und deren Pferden und an Kamelen und Mauleseln, die Wasser und Munition transportieren würden; vorbei am King’s Royal Rifle Corps in ihren schwarzblauen Uniformen, die sich in der Schlacht von Tel el-Kebir bereits verdient gemacht hatten, und vorbei an der Black Watch in ihren tomatenroten Uniformröcken und schwarzen Kilts; vorbei an der Artillerie, die noch einmal an den Geschützen herumbastelte und herumschraubte, und vorbei an den blauen Uniformen der Royal Navy, die ihre Kanonen hätschelten, hinüber zu den Khakiuniformen seines Regiments, zu seinem Lagerplatz und dem seiner Freunde.

»Was um alles in der Welt macht ihr denn da?«, rief er im Näherkommen.

»Nach was sieht’s denn aus?«, rief Leonard belustigt zurück.

Leonard, Jeremy, Royston und Simon saßen im Kreis auf ihren ausgebreiteten Wolldecken, jeder zwei Haufen Munition links und rechts neben sich. Im Akkord nahm jeder eine Patrone von einem Haufen, bearbeitete sie emsig mit einem Werkzeug und legte sie dann auf den zweiten Haufen, bevor er eine neue Patrone aufnahm. Der Sand vor ihnen war übersät mit Metallspänen und feineren, messingglimmernden Teilchen.

»Letzte Vorbereitungen«, kam es augenzwinkernd von Royston, während Simon mit konzentriert gerunzelter Stirn ganz in seiner Tätigkeit aufging.

Stephen trat näher und kniete sich neben Jeremy, der nur kurz aufsah und Stephen eine der bearbeiteten Patronen gab, die dieser sich genauer besah.

»Ihr feilt den Messingmantel an der Spitze ab?«, rief er verblüfft aus.

»War Jeremys Idee.« Leonards Kopf ruckte in dessen Richtung.

»Nicht ganz«, murmelte dieser, während er die nächste Patrone dieser Prozedur unterzog. »Ist ein Tipp, den ich von einem Offizier bekommen habe, der in Indien gedient hat. Und den hab ich als Hinweis an die anderen und als Befehl an meine Männer weitergegeben.«

»Wenn der weiche Bleikern freiliegt, kann das Geschoss zwar nicht mehr so tief eindringen«, erklärte Leonard und veranschaulichte seine Worte anhand der Patrone in seinen Fingern. »Dafür fällt der Aufprall heftiger aus, und die Kugel verformt sich oder zersplittert gar. Die Wunde ist größer, es fließt mehr Blut, und durch die Splitter lässt sie sich kaum mehr verarzten. Der Feind wird so wirkungsvoll außer Gefecht gesetzt.«

Royston grinste. »Hört auf den lustigen Namen Dum-Dum, nach einer Munitionsfabrik im Norden von Calcutta, in der solche Patronen schon fertig hergestellt werden.«

»Das ist doch barbarisch!« Stephen ließ die Patrone fallen, als handle es sich dabei um ein giftiges Tier, ergriff sein Notizbuch und stand hastig auf.

Jeremy warf ihm einen kurzen Blick zu, und zwischen seinen Brauen erschienen feine Kniffe. »Was glaubst du, was das morgen gibt? Ein entspanntes Picknick oder einen Fünfuhrtee?«

Die anderen lachten, und Stephen schoss das Blut ins Gesicht. »Natürlich nicht! Aber normale Geschosse werden’s doch auch tun! War bislang doch auch so!«

»Ich denke jedenfalls nicht daran«, sagte Jeremy und begutachtete eine weitere abgefeilte Patrone, »irgendeinen noch so kleinen Vorteil zu verschenken. Und du«, er sah Stephen unverwandt an, »bist gut beraten, das auch nicht zu tun. Also gib das an deine Männer weiter und schnapp dir selbst Munition und Werkzeug!«

»Auf keinen Fall!« Stephen verschränkte die Arme vor der Brust.

Jeremy hielt in der Bewegung inne, und sein Mund spannte sich an. Langsam stand er auf. Den Rücken den anderen zugewandt, trat er dicht vor Stephen hin. »Du gehst sofort zu deinen Männern und weist sie an, das Messing an der Spitze abzufeilen!« Leise hatte er gesprochen, aber mit unzweifelhafter Bestimmtheit.

»Nein. Das ist unmenschlich, was diese Geschosse anrichten.« Stephens Miene drückte aus, wie angewidert er von dieser Vorstellung war.

Jeremys Brauen zogen sich zusammen. »Das war kein Vorschlag, Stephen. Das war ein Befehl.«

Stephens Blick flackerte. »Du kannst mir keine Befehle erteilen.«

»Doch, das kann ich, Second Lieutenant Norbury.« Jeremy trat einen Schritt zurück, und Stephens Blick fiel auf den Streifen am Ärmel des Freundes, den Streifen eines Lieutenants, der ihm bislang versagt geblieben war. »Und mein Befehl lautet, Ihre eigenen Patronen entsprechend zu präparieren und diesen Befehl an Ihre Soldaten weiterzugeben. Auf der Stelle. Sollten Sie sich weigern, muss ich Sie melden.«

Stephen wurde weiß um die Nase, weiß vor Wut. Er machte auf dem Absatz kehrt und stakste davon.

Die anderen drei hatten ihre Arbeit unterbrochen, sahen abwechselnd einander und Jeremy an, der sich in augenscheinlicher Gemütsruhe wieder hinsetzte.

»War das denn wirklich nötig?«, durchbrach Simon zaghaft das bedrückte Schweigen.

»Ja, war es.« Jeremy deutete auf eine Patrone, die vom bearbeiteten Haufen neben Simon in den feuchten Sand gerollt war. »Nimm einen Lappen und reib sie sorgfältig sauber!«, wies er ihn barsch an. »Kein Körnchen darf dran kleben bleiben; Sand bekommt den Martini-Henrys nicht!«

Sie verbrachten eine ungemütliche Nacht im Lager von Trinkitat, unter einem bedeckten Himmel, der nur ab und zu einen Blick auf die haarfeine Sichel des neugeborenen Mondes erlaubte. Der Einzug des ersten Bataillons des York & Lancaster um Punkt acht Uhr abends und lange nach dem Zapfenstreich störte die Nachtruhe. Beim Anblick der vergnügt grinsenden Männer in ihrem altmodischen Khakidrillich, das zusammengerollte Bettzeug über die Schulter geworfen, nach dreizehn Jahren in Indien eigentlich auf dem Heimweg, aber in Aden über Suakin hierher umgeleitet, um sie morgen zu unterstützen, brachen jedoch alle in Jubel aus und begrüßten die Neuankömmlinge wie alte, lang vermisste Freunde. Das hob für einige Zeit die Stimmung, währte aber nicht sonderlich lange; die Gedanken an den kommenden Tag, nicht zuletzt daran, ob das öffentlich verkündete Ultimatum an Osman Digna, sich bis Sonnenaufgang zu ergeben, ihnen nicht vielleicht doch den Kampf ersparen würde, lieferten sich ein zähes Ringen mit der Mahnung an sich selbst, unbedingt Schlaf finden zu müssen, um morgen frisch und ausgeruht zu sein. Immer wieder trieben nebelfeine Regenschauer über das Lager, und vor Sonnenaufgang goss es dann wie aus Kübeln. Keiner der Männer war unglücklich, als um fünf Uhr die Fanfare des Signalhorns diese Nacht beendete und sie sowohl an den Latrinen als auch für Kaffee, Tee und Zwieback Schlange standen, bis zum Aufbruch geblasen wurde.

Es war ein Bild, das einer Fata Morgana glich, vielleicht auch einem Fiebertraum, als sich aus dem Morgendunst all die Farben schälten, Scharlach, Khaki, Marineblau, Tannengrün, das grelle Weiß von Helmen und Gurten. Ein schmerzhaft buntes Bild in der leeren Landschaft wie aus zusammengeschüttetem Maismehl, noch greller im gleißenden Licht der hervorbrechenden Sonne. Wie ein Ameisenstaat bewegten sie sich vorwärts, in der akkuraten Formation eines Karrees mit starken, ausgedehnten Flanken. Kein Marsch in strammem Stechschritt war es jedoch, sondern ein lockeres Ausschreiten, die Gewehre lässig geschultert, im Takt der Trommeln und Pfeifen der in vorderster Linie aufgereihten Gordon Highlanders in ihren grauen Jacken und grünen Kilts. Eine Musik, die etwas verhalten Drohendes hatte, eine Gefahr verkündende Schrillheit und die dennoch munter und gut gelaunt wirkte. Wie Schatten tänzelten zu beiden Seiten die Husaren in kleinen Gruppen einher, und die Hufe der Pferde wirbelten Wolken aus pfefferhellem Staub auf. Vorwärts, vorwärts, auf die Hügel und die Befestigungsgräben zu, bewacht von über die Landschaft verteilten Kundschaftern des Mahdi, aus der Ferne als weiße Kommata mit schwarzen Stecknadelköpfchen zu sehen, vorwärts zur Oase von el-Teb.

Auf seiner zugeteilten Position hinter dem Karree, zwischen seinen Männern, den anderen Trupps des Royal Sussex und der berittenen Infanterie und einem Kavallerieverband, auf seinem Pferd, das in gleichmäßigem Schritt ging, wandte Jeremy den Kopf und sah zu Stephen hin, der ihm ihre gestrige Auseinandersetzung immer noch übel nahm. Einsilbig hatte er sich seither gegeben und die Blicke des Freundes gemieden. Jeremys Mundwinkel spannten sich an, und er sah wieder geradeaus. Wenigstens scheint ihm die Wut auf mich Kraft zu verleihen; so entschlossen hat er all die Monate noch nicht gewirkt.

Im nächsten Moment zuckte er zusammen, genau wie alle anderen, als es hinter ihnen donnerte und hallend krachte – obwohl sie wussten, dass es ihre eigenen Geschütze waren, die von Bord der Sphinx in der Lagune Punkt neun Uhr dreißig das erste Sondierungsfeuer eröffneten. In einem hohen Singen und Jammern flogen die Wuchtgeschosse über ihre Köpfe hinweg, landeten mit einem dumpfen Schlag im aufspritzenden Sand vor den Highlandern am vorderen Rand des sich unablässig weiterschiebenden Karrees. Thump. Thump. Gefährlich nah an den Husaren. Thump. Thump. Viel zu nah; das Feuer wurde eingestellt.

»Berittene Infanterie – vorwäärrtsss!«

Das Kommando, auf das sie gewartet hatten. Mit ihren Männern scherten Leonard, Royston, Simon, Stephen und Jeremy aus, gaben den Pferden die Sporen und preschten unter Hufgedonner an den Seiten des Karrees entlang. Ihre Khakiröcke mischten sich unter die Farben der anderen Regimenter. Wie bunte Pfeile, von Hunderten Händen zugleich durch die Schwaden aus Sand und Staub geschleudert, jagten sie, aus voller Kehle brüllend, auf die Kundschafter des Mahdi zu. Sie sahen die dunklen, flachen Gesichter der Hadendoa, grimmig verzogen, und das zu gekrausten Wolken aufgetürmte Haar. Sie sahen die in der Sonne aufblinkenden Speerspitzen, die auf sie gerichteten Gewehrläufe. Keinen Inch wichen die Krieger aus, und keiner schien auch nur an Flucht zu denken.

»Rückzuuug!«

Scharf wendeten sie ihre Reittiere und galoppierten wieder in die entgegengesetzte Richtung, zurück auf ihre ursprüngliche Position.

Die Husaren übernahmen den weiteren Vorstoß und preschten voraus, auf die in ihren Gräben kauernden Mahdisten zu, hin zu dem Fort, in dem diese sich verschanzt hielten, an die Stelle, an der Baker Pasha zuvor gescheitert war. Gewehrschüsse knallten von dort, Rauch stieg auf, aber die Husaren waren zu schnell, schnell wie farbige Blitze, die sogleich wieder auf das Karree zuflogen und erneut wegsausten, ein flügelschlaggleicher Erkundungsritt nach dem anderen. Durch den widerlich süßlichen Gestank der verwesenden Leichen, die zu Hunderten herumlagen, das Gesicht nach unten, von Speeren und Schwertklingen auf der Flucht von hinten niedergemäht – die ägyptischen Truppen Baker Pashas, eine Handvoll europäischer Toter dazwischen, und die rabenähnlichen Vögel, die sich an deren Fleisch labten, ließen sich nur kurz verscheuchen, flogen unter Flügelrauschen auf und sanken gleich darauf als dunkle Wolke erneut auf den Leichenacker nieder.

Eine kurze Verschnaufpause, dann setzte sich das Karree wieder in Bewegung, unter dem Klang der Trommeln und Pfeifen der Highlander, dieses Mal in strammem, gleichförmigem Schritt, nordwärts um die Befestigungsanlagen herum, um den Feind von hinten, an seiner schwächsten Stelle, zu treffen.

Doch es war der Feind, der zuerst zuschlug, mit einer Granate aus einer der Krupps, die weit über das Karree hinausschoss. Die zweite Granate schlug unmittelbar neben den Briten ein und explodierte. Splitter spritzten umher, und unter Schreien und Stöhnen brachen Soldaten zusammen. Noch eine Granate, noch ein Krachen, mehr Verwundete. Die Soldaten rückten weiter vor, Augen geradeaus, noch immer ohne den Befehl, das Feuer zu erwidern. Die Salven knatterten und peitschten auf das Karree ein, mähten Soldaten nieder und schlugen Lücken in die Formation; Lücken, die sich sofort durch nachrückende Männer schlossen. Ärzte und Sanitäter hasteten durch die Reihen und schleppten die Tragen mit den Verwundeten aus der Gefechtslinie. Eine Granate krachte in die Mitte des Karrees, und Staub und Schrapnelle sprühten über die Kamele und Maultiere mit Wasser, Munition und Ausrüstung, über die Sappeure und einzelne Soldatentrupps. Stoisch rückten sie weiter vor, während ihnen der Schweiß über das Gesicht, den Nacken und den Rücken lief, die Nerven zum Zerfetzen angespannt, und die ganze Zeit über versicherten sich Jeremy, Royston, Stephen, Leonard und Simon nicht nur, dass ihre Männer noch vollzählig waren; sie versicherten sich auch mit hastigen Blicken gegenseitig: Wir sind noch da. Wir sind alle noch da. Uns ist nichts geschehen.

Mit einem Mal war es still. Ganz still. Nur die Räder der Geschützwagen quietschten. Und die Stiefel der Soldaten und die Hufe der Pferde knirschten über den harten, sanddurchsetzten Boden.

Kransch. Kranschkranschkransch. Kransch.

»Haaalttt!«

Viereinhalbtausend Mann standen vor dem äußersten Ende der Befestigungsanlagen, einem Erdwall von gut sechs Fuß Höhe, der eine Horde Mahdisten und zwei Kruppgeschütze abschirmte. Die Soldaten warfen sich auf den Bauch in Gefechtsposition; die Artillerie ließ die Kamele in die Knie gehen und lud ab, schraubte in präzisen Bewegungen die Geschütze zusammen und brachte sie in Stellung. Kanonen wurden herangeschoben, und die letzten Husaren stoben in Staubwolken hinter das Karree, um sich aus der Schusslinie zu bringen.

Es war Mittag. Die Sonne stand genau über ihren Köpfen und warf ihren harten Schein zur Erde, bar jeglichen Schattens. Klar wie eine Glasglocke stülpte sich die Luft über die Oase von el-Teb. Jeder Umriss, jede Fläche, jeder Körper trat scharf hervor: die schwarzen Gesichter der Hadendoa, das Aufblinken der Speerspitzen und Schwertklingen. Die Männer von Osman Digna, die ebenso warteten wie sie selbst. Einen Herzschlag und noch einen. Einen Atemzug und noch einen. Jeremy. Stephen. Royston. Leonard. Simon. Die Gewehre mit den aufgepflanzten Bajonetten im Anschlag, ein Auge zugekniffen, das andere auf das Visier konzentriert und zielend, den Finger am Abzug.

»Feuer!«

Die Luft erbebte unter dem Röhren und Zischen aus den Kanonenläufen, den Geschützen, die ein Trommelfeuer ausspien. Granaten schlugen in den Gräben ein, detonierten krachend in einem Splitterregen. Schmerzensschreie gellten durch die Luft. Salve um Salve prasselten die Gewehrkugeln über den Erdwall hinweg, fegten das gegnerische Feuer einfach hinfort. Das Signalhorn schmetterte den Befehl zum Aufstehen, zum Vormarsch, zur nächsten Salve. Welle um Welle prasselten Kugeln auf die feindlichen Stellungen nieder, hagelte es Granaten; Welle um Welle schob sich das Karree vorwärts.

Über den Befestigungswall hinweg stürmten sie auf die Briten zu: dunkle Gestalten, beinahe nackt und die Haut glänzend, mit glühenden Augen unter ungebärdigem Haarschopf, brüllend nach dem Blut der Engländer. Horden schwarzer Panther, geschmeidig, stark und furchtlos, hungrig nach Beute. Die ersten sanken schon oben auf dem Erdhügel nieder und rutschten leblos den Abhang hinunter. Doch immer mehr Krieger rückten nach, Dutzende, Hunderte, und warfen sich mit ihren Schwertern gegen das Karree. Mit Schwertern, die mühelos durch Fleisch und Gebein schnitten wie durch Butter, während die Spitzen der Bajonette verbogen, wenn sie auf Knochen trafen und sogar stecken blieben.

Das Karree teilte sich. Die vordersten Reihen preschten den Wall hinauf, hinein in den donnernden Regen aus den Geschützmündungen, und begannen ihre Jagd durch die Schützengräben, durch das Fort, hinein in das dahinterliegende Dorf. Die zweite Hälfte fing den Ansturm der Mahdisten ab. Die Infanteristen sprangen aus dem Sattel, wie man es ihnen für diese Art von Kampf beigebracht hatte, und warfen sich in die Schlacht. Mann gegen Mann, Schwarz gegen Weiß, Klinge gegen Klinge, Speer gegen Bajonett gegen Gewehrkugeln.

Fünf Sekunden. Fünf Sekunden war das Minimum an Zeit, um ein Martini-Henry nachzuladen und Jeremy Danvers’ persönliche Messlatte. Eins: Hebel ziehen, mit so viel Schwung, dass die Hülse von selbst herausrutscht. Zwei: Patrone aus dem Gurt holen. Drei: Einlegen und mit dem Daumen bis zum Anschlag hineindrücken. Vier: Hebel zurückschwenken. Fünf: Anlegen. Zielen. Ausatmen. Und Schuss.

Pulverdampf stand als dichter Teppich über dem Schlachtfeld und mischte sich mit aufgewirbeltem Sand und brannte in den Augen. Schuss. Treffer. Fünf Sekunden. Gesichter verschwammen zu unkenntlichen Schlieren. Es gab nur eine Unterscheidung: helle Haut und buntes Tuch – Freund. Schwarze Haut – Feind. Schuss. Treffer. Fünf Sekunden. Helles Gesicht über blauer Jacke, auf die eine schwarze Gestalt mit bluttriefender Klinge einhieb. Schuss. Treffer. Fünf Sekunden. Die Erde erzitterte, die Luft geriet ins Schwanken, als die Kavallerie herangaloppierte und einer in einer Staubwolke fliehenden Horde von Mahdisten nachsetzte. Aus der Ferne Schüsse. Schreie. Zielen. Ausatmen. Schuss. Treffer. Fünf Sekunden.

Langsam, langsam legte sich der Schlachtenlärm. Das Signalhorn schmetterte eine Fanfare. Vorbei. Es ist vorbei. Keuchend ließ Jeremy sein Gewehr sinken und sah sich um, noch immer auf der Hut. Langsam löste sich der Rauch auf, gab den Soldaten wieder Gesichtszüge. Gab den Blick frei auf die Pferde und die Kamele und auf die schmauchenden Geschütze. Auf die Verwundeten, die am Boden lagen, auf die Sanitäter und Ärzte, die das Schlachtfeld durchkämmten. Die Weißen in ihren bunten Uniformen waren von Schwerthieben durchbohrt und verstümmelt. Die Körper der Schwarzen waren zerfetzt von Gewehrkugeln, mit versengten Wundrändern, die manchmal noch qualmten. So viele Tote im Sand, der rot getränkt war und glitschig von Blut.

Befreit ließ Jeremy den nächsten Atemzug aus seinem Körper strömen, als er Stephen sah, barhäuptig und zerzaust, aber offenbar unverletzt. Stephen tat ein paar schwankende Schritte auf wackeligen Beinen, schritt dann fester aus und hastete zwischen den Leichen hindurch, fort, nur fort.

Jeremy schüttelte kräftig den Kopf, rieb sich mit dem Handrücken über die brennenden Augen.

»Stevie!«, brüllte er aus Leibeskräften und lud nach, rannte los, hinter Stephen her.

Gereizte Müdigkeit im Blick, wandte Stephen sich um. Dunkle Finger krallten sich um seinen Knöchel, brachten ihn aus dem Gleichgewicht. Das Bajonett seines Gewehrs verhakte sich im Boden, und er fiel hin, auf weiche, noch warme Leiber, lähmendes Entsetzen im verrußten Gesicht. Der Schwarze, der seinen Stiefel umklammert hielt, bäumte sich auf und holte mit dem Speer aus. Ein Schuss zerriss seine magere, knochige Brust, Blut spritzte auf, und er sackte leblos zu Boden. Noch im vollen Lauf lud Jeremy nach und jagte dem Krieger eine zweite Kugel in den Leib.

Stephen riss sein Bein aus der Umklammerung los. Sein Atem ging krampfhaft und keuchend, während er rückwärtskroch wie ein Skorpion ohne seinen Giftstachel und sich mit schreckgeweiteten Augen umsah, als würde er erst jetzt begreifen, was geschehen war. Einzelne Schüsse krachten noch über das Schlachtfeld, streckten weitere Krieger des Mahdi nieder, die sich tot gestellt hatten, um in der Stille nach dem Sturm noch den einen oder anderen Weißen abzustechen.

»Oh Scheiße«, knurrte Jeremy, als Stephens Wangen sich aufblähten und ein heftiger Ruck nach dem anderen durch seinen Körper fuhr. Jeremy packte ihn am Kragen seines Uniformrocks, zerrte ihn hoch und zog ihn mit sich zu dem Erdwall, an eine Stelle, die man vom Schlachtfeld aus nicht so leicht einsehen konnte. Kaum hatte er ihn losgelassen, fiel Stephen auf alle viere und erbrach sich so heftig, als triebe es ihm die Eingeweide den Rachen hinauf.

Jeremy trat ein paar Schritte zur Seite und rammte sein Gewehr mit dem Lauf nach oben in den Boden. Aus der Jackentasche zog er eine Zigarette heraus, steckte sie sich zwischen die Lippen und suchte nach Feuer. Endlich fand er in der Hosentasche ein paar Zündhölzer und riss eines an. Mit zitternder Hand hielt er die Flamme an die Zigarette und sog den Rauch so tief ein, dass er husten musste. Auf einer kleinen Kuppe des Abhangs ließ er sich nieder, fuhr sich mit den Händen durch das nass geschwitzte, verklebte und staubige Haar und blinzelte in das Licht des frühen Nachmittags, grell zurückgeworfen vom Sand und von den Steinen und von kantigen Schatten unterlegt. Keine zwei Stunden hatte die Schlacht von el-Teb gedauert.

Drei Gestalten bewegten sich auf ihn zu: Royston, die Hand auf Simons Schulter, der vorwärtstaumelte und sein Martini-Henry mit sich schleifte, das mit dem Bajonettaufsatz beinahe so lang war wie er, und ein Stück dahinter Leonard. Keiner sagte ein Wort, als sie zu ihm traten, ihre Gesichter speckig und dreckverschmiert und müde, so müde. Simon, die Augen groß und dunkelgrau wie Gewitterwolken, war blass um Mund und Nase, und über Wange und Kinn zogen sich rot gesprenkelte Schürfwunden. Royston wirkte aschfahl; der Ärmel seines Uniformrocks und sein Hemd waren aufgeschlitzt und blutgetränkt, die Stichwunde an seinem Oberarm von getrocknetem Blut dunkel verkrustet. Selbst Leonards ewiges Lächeln war ausradiert.

Sie legten ihre Waffen weg, und Royston holte aus seinem Uniformrock einen silbernen Flachmann hervor, schraubte die Kappe ab und hielt ihn Simon hin. Dankbar nahm Simon ihn entgegen und trank einen kräftigen Schluck, bevor Royston selbst den Flachmann ansetzte und ihn erst Leonard, danach Jeremy in die Hand drückte. Der gab die Flasche Stephen weiter, der auf dem Hosenboden heranrutschte und in stummer Aufforderung die schlackernden Finger nach Jeremys nur noch daumennagellanger Zigarettenkippe ausstreckte. Jeremy warf sie weg und zündete ihm stattdessen eine neue an und sich selbst umgehend die nächste, und auch Leonard, Simon und Royston klemmten sich Zigaretten zwischen die Lippen, steckten sie sich mit zitternden Händen an.

Simon lehnte sich an den Abhang, rutschte in die Hocke und vergrub den Kopf in den Händen.

»Scheißescheißescheißemann«, murmelte er.