11

Ein heftiger Regenschauer in den frühen Morgenstunden hatte die sommerstaubige Luft reingewaschen, und während die Sonne die letzten Wolkenfetzen beiseitedrängte, ließ ihr heißes blassgoldenes Licht das noch feuchte Laub und das nasse Gras in sattem Grün erglänzen und die Fassade von Sandhurst aufleuchten wie feinstes Bone China.

Schmissige Marschmusik strömte über den Vorplatz, donnerte, pulsierte und jubilierte und ließ kein Herz ungerührt. Nicht beim Kommandanten und seinem Stellvertreter, die jeweilige Uniformbrust von Orden und Abzeichen überkrustet, nicht bei all den Offizieren und Lieutenants, den Professoren und Ausbildern, deren blaue Uniformen in der Sonne an Libellenleiber erinnerten. Die Pferde von Sandhurst präsentierten sich mit schimmernd gestriegeltem Fell und im Paradezaumzeug und ließen die gebellten Befehle und die Salutschüsse, den Applaus und die Beifallsrufe des Publikums ungerührt über sich ergehen. An einen Sommergarten erinnerten die eleganten Nachmittagskleider in Weiß und Rosé, Bleu und Lichtgelb, eigens von Müttern, Großmüttern, Schwestern, Angebeteten für diesen Anlass erworben, und die Volants, Spitzen und Raffungen der Kleider, die Drapierungen aus Tüll und die munter flatternden Bänder an den Hüten und die zierlichen Sonnenschirme hatten etwas von der Zartheit und Leichtigkeit von Schmetterlingen. Nüchterner nahmen sich hingegen die Bowlerhüte aus, die Zylinder der Väter, Großväter und Brüder, die gestärkten weißen Hemden unter Gehröcken. Und militärische Glanzpunkte setzten die grünen, roten, grauen Uniformen einstiger oder derzeitiger Regimenter, auf denen die Rangabzeichen, die Erinnerungen an Feldzüge bei der kleinsten Bewegung auffunkelten. Alle Blicke galten jedoch den Söhnen, Enkeln, Brüdern, Kavalieren, deren großer Tag heute so feierlich begangen wurde. Das alltägliche Kadettenblau hatten die jungen Männer abgelegt; im goldbelitzten, goldbeknöpften und schwarz abgesetzten Scharlachrot ihrer Galauniform marschierten sie in Reih und Glied über den Platz, eine akkurate Formation atemberaubend prächtiger Rotmilane.

»Unglaublich! Sie tut es schon wieder«, stöhnte Cecily, die hinreißend aussah in einem mit cremehellen Ranken bedruckten Vergissmeinnichtblau, als Becky sich in die erste Reihe drängelte und mit dem Feldblumensträußchen in der Rechten den frischgebackenen Offizieren zuwinkte und mit der Linken dem vorübermarschierenden Stephen Kusshände zuwarf.

»Lass sie doch endlich in Ruhe«, gab Grace verärgert zurück. »Das geht nur sie und Stevie etwas an – also halt dich bitte gefälligst heraus!«

»Cecily.« Diese wandte den Kopf, als sich Constance Norburys Hand auf ihre Schulter legte. »Sprich bitte nicht so verächtlich über Becky. Es hat nicht jeder das Glück, in einem solchen Elternhaus aufgewachsen zu sein wie du – mit einer Mutter und mit einer Gouvernante, die einen in jeder noch so kleinen Feinheit der Etikette unterweisen.«

Eine leichte Röte erschien auf Cecilys Wangen. »Gewiss, Lady Norbury. Entschuldigung.« Doch kaum hatte sie den Blick wieder nach vorn gerichtet, murmelte sie trotzig: »Peinlich finde ich ihr Verhalten trotzdem.« Sie warf Grace einen herausfordernden Seitenblick zu.

Grace’ Aufmerksamkeit indes war über Adas lindgrün bebänderten Strohhut hinweg auf einen Punkt irgendwo in der Menge gerichtet. »Entschuldigt mich bitte einen Augenblick.«

Cecily sah ihr nach, wie sie sich durch die Familienangehörigen der Absolventen hindurchschob, hier und dort kurz stehen blieb, um einen freundlichen Gruß zu entrichten, stellte sich schließlich auf die Zehenspitzen, um besser ausmachen zu können, wen von ihren gemeinsamen Freunden und Bekannten Grace entdeckt haben könnte. Aber die betreffende Dame mittleren Alters war ihr völlig unbekannt, kam ihr auch völlig unbedeutend vor in den fahlen Tönen von Grau und hellem Braun, die sie in wenig erlesener Manier trug. Achselzuckend widmete Cecily sich wieder der Parade und schwelgte im Anblick der jungen Männer, von denen heute einer schneidiger aussah als der andere.

Unschlüssig blieb Grace stehen, mit einem Mal nicht mehr sicher, ob sie sich nicht doch getäuscht hatte. Das aschblonde Haar unter dem schlichten Hut, der zwar sonnengetönte, aber im Grunde helle Teint und die Gesichtszüge, die nicht gerade zart geschnitten, aber auch nicht übermäßig derb waren, das alles wies so gar keine Ähnlichkeit mit Jeremy auf. Trotzdem gab es da etwas, das Grace an ihn erinnerte, nicht zuletzt die Art, wie diese Frau sich wie mit einem unsichtbaren Schutzwall umgab, der sie von den Umstehenden trennte und hinter dem sie sich allem Anschein nach zwar nicht wohlfühlte, aber dennoch einigermaßen sicher.

Grace atmete tief durch und machte den letzten Schritt auf sie zu. »Verzeihen Sie – Mrs Danvers?«

Graue Augen richteten sich erschrocken auf sie, verdunkelten sich sogleich in vorsichtiger Zurückhaltung. »Ja bitte?« Weiche Züge, lebhaft trotz des Schleiers aus Müdigkeit, der darüberlag; ein in seiner Milde noch junges Gesicht, obwohl Zeit und Kummer scharfe Linien um Mund und Nase eingegraben hatten.

Grace streckte ihr lächelnd und in einer offenen Geste ihre Rechte hin. »Schön, dass Sie heute hier sind. Ich bin Grace. Grace Norbury.« Ihr Name verklang, ohne dass sich eine Spur des Wiedererkennens in Mrs Danvers’ Gesicht zeigte. »Die Schwester von Stephen?«, erklärte Grace weiter, und unwillkürlich hob sich ihre Stimme am Ende, wie bei einer Frage. »Er und Jeremy waren in derselben Kompanie und saßen im Unterricht nebeneinander? Mein Vater war ihr Professor in Gefechtsführung, und Jeremy hat einige Wochenenden bei uns zu Hause verbracht ...« Als sich die Stirn von Jeremys Mutter fragend furchte, begriff Grace, dass er offensichtlich nie von ihr erzählt hatte, und ein scharfer Stich fuhr durch sie hindurch.

»Tatsächlich.« Zögernd ergriff Mrs Danvers Grace’ Hand und musterte sie ebenso neugierig wie verwundert. Die Verlegenheit stand dick zwischen ihnen, bis sich Mrs Danvers’ Miene schließlich aufhellte und sie herzlich zu lachen begann, begleitet von einem festen Händedruck. »Bitte entschuldigen Sie vielmals – mein Sohn war noch nie sonderlich mitteilsam!« Von einem Augenblick zum nächsten war ihre Zurückhaltung aufgebrochen, und eine Wärme ging von ihr aus, die Grace in ein Gefühl der Geborgenheit hüllte und sie sogleich Vertrauen fassen ließ.

Sie stimmte in dieses Lachen ein. »Nein, das ist er wahrhaftig nicht. Ich gratuliere Ihnen auch im Namen meiner Eltern zu Jeremys Abschluss. Sie müssen sehr stolz auf ihn sein!«

»Stolz?«, murmelte Mrs Danvers, als wollte sie die Laute auf der Zunge schmecken, erst darüber nachdenken, was dieses Wort bedeutete. Die Wärme verschwand wieder hinter wohlbedachter Reserviertheit, während Mrs Danvers ihren Sohn mit Blicken suchte, bis sie ihn salutierend inmitten der Formation fand. Das Lächeln auf ihrem Gesicht schrumpfte, bis es nur noch ein halbes war. Dasselbe halbe Lächeln wie bei Jeremy.

»Ich freue mich von Herzen für ihn, dass er das erreicht hat, was er sich immer ersehnte. Und er hat meine ganze Hochachtung dafür, dass er sich davon auch nie hat abbringen lassen«, sagte sie in dem gleichen langsamen, schweren Zungenschlag, den man manchmal auch noch bei Jeremy heraushörte. Grace hatte das Gefühl, dass zwischen Trommelwirbeln, harschen Männerstimmen und den metallischen Klängen der Blaskapelle vieles unausgesprochen in der Sommerluft hängen blieb.

»Darf ich Sie vielleicht meiner Mutter vorstellen?«, schlug Grace spontan vor. »Sie würde sich sehr freuen, Sie kennenzulernen.«

Unentschlossen, beinahe scheu, sah Mrs Danvers in die Richtung, in die Grace gedeutet hatte. Die Menge der Zuschauer gab gerade den Blick auf Constance Norbury frei, die lachend ein kleines Mädchen an den Händen hielt und mit ihr im Takt der Musik ein paar Tanzschritte machte. Grace hoffte inständig, dass die Gabe ihrer Mutter, dass sich in ihrer Gegenwart auch fremde oder eigenbrötlerisch veranlagte Menschen auf der Stelle wohlfühlten, ihre Wirkung auf Jeremys Mutter nicht verfehlen würde. Stattdessen fühlte sie einmal mehr Mrs Danvers’ Blick auf sich ruhen, eindringlich, beinahe forschend, spürte schließlich, wie etwas an ihrem Gegenüber aufweichte, sich nachgerade öffnete. »Natürlich. Sehr gern, Miss Norbury.«

»Hat sie sich das auch gut überlegt mit dir?« Schnipp-schnapp machte der Fächer in den Händen von Lady Evelyn, während sie ihn ungeduldig auf- und zuklappte und dabei unter hochgezogenen Brauen ihre Blicke durch die Turnhalle von Sandhurst schweifen ließ, die heute Abend zum Ballsaal umgestaltet war. »Sie sollte sich nicht von Reichtümern und Titeln blenden lassen – schließlich weiß niemand so gut wie ich, wie sehr einen das später reuen kann.«

Reck, Barren, Bock und Pferd hatte man in einen Lagerraum verbannt, und auch von Matten, Seilen, Lederbällen, den Masken und Floretten des Fechtunterrichts war nichts zu sehen. Nur wenig erinnerte daran, dass hier sonst junge Männer unter gebellten Befehlen dazu getrieben wurden, ihrem Körper das Äußerste abzuverlangen, bis die Muskeln brannten und schmerzten und der Schweiß in Strömen herablief, bei Übungen, die an Akrobatik grenzten. Eine leichtfüßige Lebenslust füllte heute die Halle und schwang im Takt der Musik mit. Keine Marschmusik war es, die die Militärkapelle, auf einem Podest zusammengedrängt, zum Besten gab, sondern die beliebtesten Walzer und Quadrillen, Polkas und Mazurkas. Taft und Crêpe de Chine, Musselin und Tüll, Federn und Pelzbesatz glänzten in Weiß und Schwarz, leuchteten in Türkis, Zitronengelb, Apfelgrün, Magentarot, Koralle und Königsblau, schimmerten in Rosé und Elfenbein und Taupe. Die Abendroben der Ladys, die schmucken Uniformen der Gentlemen machten aus der spartanischen Turnhalle ein Gewächshaus voll kostbarer Tuberosen, Lilien, Orchideen und Teerosen, tropischen Faltern und exotischen Vögeln. Und trotz der einzelnen sperrangelweit aufgerissenen Scheiben der Sprossenfenster hoch über den Köpfen der Ballgäste hatte sich auch die Luft zur dampfigen Schwere eines Treibhauses verdichtet, getränkt von den Parfums der Damen, dem Dunst von erhitzter Haut und schweißdurchfeuchtetem Haar und Stoff.

»Evelyn, bitte«, kam es müde von Lord Ashcombe. Ihm war anzusehen, wie sehr es ihm widerstrebte, sich in diesem Trubel aufzuhalten – wie gern er sich wieder in die Einsamkeit von Ashcombe House zurückgezogen hätte, wo er am liebsten mit der Flinte unter dem Arm und einer Meute Jagdhunde neben sich über die Heide zu streifen pflegte.

»Nein, Nathaniel!«, widersprach sie, ohne ihren Gatten anzusehen. Ihre Aufmerksamkeit war gänzlich von einem jungen Paar in Anspruch genommen, das sich gerade im Walzertakt an ihr vorüberdrehte, und die Art, wie sie ihren Mund spitzte, verriet, dass die beiden keine Gnade vor ihren Augen fanden. »Nachher ist das Wehklagen groß! Und erfahrungsgemäß obliegt es dann mir, die Wogen wieder zu glätten. Als hätte ich keine anderen Sorgen!« Großgewachsen und überschlank, die Gesichtszüge klar und aristokratisch, wirkte Lady Evelyn, vor allem wenn sie sich über etwas ereiferte, wie ein feinnerviges, nervöses Rennpferd. Ihre steingrauen Augen richteten sich auf ihren Erstgeborenen. »Lady Cecily hat Stil und Klasse, und deshalb ist es mir unbegreiflich, wie ihre Wahl ausgerechnet auf dich fallen konnte.« Schnipp-schnapp.

»Danke, Mutter«, erwiderte Royston trocken, »für diese erhellenden Einsichten. Der Segen, um den ich dich und Vater gebeten habe, hätte mir allerdings vollauf genügt.«

»Wozu?« Schnipp-schnapp. »In drei Monaten bist du mündig und kannst tun und lassen, was du willst. Als ob du das nicht schon immer getan hättest ... Grundgütiger, habt ihr den Boden einmal genauer betrachtet?« Ihr zugeklappter Fächer richtete sich auf die Dielen, die zwar frisch poliert, aber doch über die Jahre sichtlich zerschrammt waren, beschrieb dann einen Bogen zur Decke, wo Trapez und Ringe mehr schlecht als recht hinter der feierlichen Dekoration verborgen waren. »Mir kommen doch erhebliche Zweifel am Zustand unseres Empires, wenn sich eine Institution wie Sandhurst für einen solchen Anlass nichts Besseres leisten kann als derart dürftige Räumlichkeiten! Von diesen jämmerlichen Papiergirlanden ganz zu schweigen!«

Mit einem stummen Seufzen sahen Vater und Sohn sich an.

Etwas unbeholfen legte der Earl die Linke auf Roystons Schulter und schüttelte ihm mit der Rechten die Hand. »Mein Einverständnis und meinen Segen habt ihr jedenfalls.«

»Nun, wenn Sie weder verlobt noch versprochen sind, Miss Norbury, dann sind Sie demnach noch zu haben, und ich kann mir weiter Hoffnungen machen«, schloss der Honourable Roderick Ashcombe in ganz eigener Logik, während seine lichtgrauen, noch kindlich wirkenden Augen hingebungsvoll auf Grace’ Gesicht geheftet waren.

Grace lachte. »Weder verlobt noch versprochen, in der Tat – aber dennoch vergeben, Mr Ashcombe!«

»Unmöglich, Miss Norbury!« Er blickte entrüstet drein, während er krampfhaft bemüht war, Grace nicht auf die Füße zu treten und nicht aus dem Takt der Musik zu kommen. »Was könnte das auch für ein Gentleman sein, der einer Dame wie Ihnen nicht sogleich einen Antrag –«

»Nicht verzweifeln, Grace, deine Rettung naht!«, mischte sich Royston ein und fasste Grace am Ellenbogen.

»Heeey«, protestierte Roderick. »Du hast doch schon eine Herzdame – du brauchst keine zweite!«

»Werd du erst mal trocken hinter den Ohren, Brüderlein!«, brummte Royston mit schroffer Fürsorglichkeit. »Dann suchst du dir vielleicht auch nicht mehr ausgerechnet die Ladys aus, die eine Nummer zu groß für dich sind!« Er verpasste Roderick einen Knuff gegen die Schulter und zog Grace mit sich fort.

Einen trübsinnigen Ausdruck auf dem blässlichen, konturlosen Gesicht, sah Roderick seinem Bruder und Grace hinterher; dann seufzte er auf und hielt mit unvermittelt wieder wachem Blick Ausschau nach einem lohnenderen Ziel für seine noch ungelenken Verführungskünste.

»Ich möchte dich um einen Gefallen bitten«, raunte Royston in einem Winkel der Turnhalle Grace zu. »Sei doch so gut und trommle die anderen draußen vor der Tür zusammen. Sis und ich haben euch etwas mitzuteilen; Len weiß schon Bescheid.«

Grace umklammerte seine Hand. Ihr Herz schlug schnell, und ihre Augen glänzten. »Habt ihr euch etwa ...«, setzte sie an, doch Royston legte den Zeigefinger auf die Lippen und blinzelte ihr verschwörerisch zu, bevor er sich durch die Menge hindurchmanövrierte, hinüber zum Kommandanten, und ihn mit einem respektvollen Zusammenschlagen der Hacken und einem kurzen Salut ansprach, während Grace sich ihrerseits wie ein Fisch im Wasser durch das Ballgetümmel bewegte, auf der Suche nach den anderen.

»Und – was sagst du?« Die Hände in die Taille gestützt, stellte Becky sich vor Stephen hin. Als er sie fragend ansah, drehte sie den Kopf hin und her. »Ist dir meine neue Frisur noch gar nicht aufgefallen?«

Unsicher betrachtete er ihr aufgestecktes und von Schmucknadeln geziertes Haar, das für ihn aussah wie immer bei einem solchen Anlass. So wie das Haar aller Ladys aussah heute Abend. Von seinen beiden Schwestern hatte Stephen jedoch gelernt, dass es auf eine solche Frage wie die von Becky nur eine mögliche Antwort gab. »Ja, doch ... Ist hübsch«, sagte er deshalb folgsam.

Becky strahlte überglücklich, zog dann aber sogleich ein zweifelndes Gesicht. »Gefällt’s dir besser so – oder so, wie ich es sonst trage?«

Auf Stephens Miene spiegelte sich Hilflosigkeit. Eine Hilflosigkeit, wie sie ihn immer öfter in Beckys Gegenwart überfiel. Vermutlich war er der Letzte gewesen, der bemerkt hatte, dass Becky in ihm nicht mehr nur den Bruder ihrer besten Freundin sah, irgendwann zwischen seinem letzten Jahr in Cheltenham und seiner Aufnahme in das College. Die Verliebtheit, mit der Becky ihn förmlich überschüttete, hatte er erst ungläubig zur Kenntnis genommen, dann gleichermaßen verlegen wie verwirrt. Bis die tagtägliche, knöcherne Angst, in Sandhurst zu versagen und die Erwartungen seines Vaters nicht zu erfüllen, ihn bis ins Mark durchdrungen und alles andere überlagert hatte. Erst jetzt, da der Rausch nachließ, dass er diese Erwartungen sogar noch übertroffen hatte, nun, da der Gedanke an den Dienst in einem Regiment mit jedem Tag seine Schrecken verlor, seit er Jeremy, Leonard, Simon und Royston dort an seiner Seite wusste, rückte Becky wieder in sein Blickfeld.

Wie sie so vor ihm stand, in diesem jadegrünen Kleid, das sich eng um ihre runden Hüften schmiegte und ihr üppiges Dekolleté zur Schau stellte, wirkte sie auf eine kernige, propere Art durchaus nicht reizlos. Er mochte Becky, weil sie ein feiner Kerl war, lustig und lebendig und nie ernsthaft beleidigt. Aber reichte das schon aus, um es Liebe zu nennen? Die spritzigen Kabbeleien zwischen Royston und Cecily, die selbstverständliche Verbundenheit von Leonard und Grace, die stille, verhalten knisternde Nähe zwischen Grace und Jeremy, schließlich die beinahe magnetische Kraft, die Simon und Ada immer stärker zueinander zog: Nichts davon ähnelte dem, was er für Becky empfand. Unfähig, seine Gefühle für sie zu benennen, konnte er sich weder dazu durchringen, Becky zurückzuweisen, noch, ihrem Drängen nachzugeben. Und ebenso unentschlossen fiel nun auch seine Antwort aus. »Sieht beides gleich gut aus. Wirklich!«

Innerlich atmete er auf, als just in diesem Augenblick Grace zu ihnen trat, sich bei ihm unterhakte, Becky um die Taille fasste und beide an sich zog.

»Wir treffen uns alle in ein paar Minuten draußen«, flüsterte Grace ihnen zu. »Es gibt wichtige Neuigkeiten!«

Becky riss die Augen auf. »Oh, was? Was?!«

Ada wäre am liebsten im Boden versunken, als Simon sie durch den Saal führte, um sie mit seinen Eltern bekannt zu machen. Dabei wusste sie, dass der Abschlussball die wohl beste Gelegenheit für eine solche Begegnung bot: zwar kein informeller Anlass, aber doch einer, der ohne allzu steifes Zeremoniell auskam.

»Mutter – Vater.« Das Kinn selbstbewusst hochgereckt, die Iris seiner Augen hell, beinahe durchscheinend in erwartungsvoller Vorfreude, trat Simon mit Ada zu seinen Eltern. »Darf ich euch Miss Ada Norbury vorstellen? Ada – meine Mutter, Lady Alford.« Das Gesicht zu unregelmäßig, um es schön zu nennen, war die zweite Lady Alford mit ihrem porzellanhellen Teint und dem kupferfarbenen Haar dennoch eine aparte, immer noch jugendliche Erscheinung. Ihr hatte Simon seine verträumten Augen und den vollen, breiten Mund zu verdanken. »Mein Vater, Lord Alford.« Mit Ende fünfzig sichtlich um einiges älter als seine Frau, dafür beinahe einen halben Kopf kleiner, hatte der Baron etwas Verlässliches, Bodenständiges, Unerschütterliches, beinahe wie die alten Eichen, die Shamley Green umgaben. Wenn man Vater und Sohn miteinander verglich, lag die Vermutung nahe, dass sich Simons zu kräftig geratene Züge in einigen Jahren zu dem distinguierten Aussehen Lord Alfords auswachsen würden.

Ada war hin- und hergerissen zwischen dem Drang, zu fliehen, und dem Wunsch, die beiden kennenzulernen und dabei einen möglichst guten Eindruck zu hinterlassen. Simons Arm, auf dem ihre behandschuhten Finger ruhten, gab ihr jedoch den nötigen Halt, als sie einen Knicks andeutete. »Guten Abend, Eure Ladyschaft – Euer Lordschaft.«

»Guten Abend, Miss Norbury!« Die Herzlichkeit, mit der Lady Alford sie ansprach und ansah und ihre Hand nahm, erinnerte Ada an die zarten Ausläufer der Wellen des Mittelmeeres: so sanft, so unablässig wie diese über den Saum des Strandes hinwegstrichen und den Sand mit sich forttrugen, so spürte Ada, wie ihre Schüchternheit in Gegenwart von Simons Mutter weggespült wurde. »Mit Ihren Eltern und Ihren Geschwistern hatten wir bereits im Herbst das Vergnügen. – Maxwell, du erinnerst dich doch sicher an die Norburys?«

»Selbstredend«, ließ der Baron sich vernehmen. Seine Stimme war tief und voller Herzenswärme, und jedes seiner Worte versprühte einen behaglichen Charme. »Sir William und Lady Norbury sind zu beneiden, mit gleich zwei solch bezaubernden Töchtern beschenkt worden zu sein.«

Ada errötete bis unter die Haarwurzeln. Ihr blieb jedoch keine Zeit, in ihrer Verlegenheit zu verharren.

»Sie waren längere Zeit im Ausland, nicht wahr?«, erkundigte sich Lady Alford.

»Ja, auf dem Kontinent. Etwas mehr als ein Jahr.« Adas Rechte, die sich unter der Seide des Handschuhs verkrampft hatte, entspannte sich ein wenig.

»Simon war letzten Sommer auch in Italien, wie er Ihnen bestimmt erzählt hat. Bei uns«, Lady Alford schenkte ihrem Gatten einen leicht wehmütigen Blick, »liegt es schon etwas länger zurück, fast drei Jahre. Seither gab es in unserer Familie immer abwechselnd eine Verlobung, eine Hochzeit oder eine Taufe zu feiern, sodass uns einfach die Zeit fehlte. Wir hoffen, wir können das bald nachholen.« Sie strich mit dem Handrücken über den Ärmel seines Smokings, eine zarte Geste, die Ada anrührte. »Gefiel es Ihnen denn im Süden?« Unter dem offenen, aufmerksamen Blick von Simons Mutter, der bar jeder Aufdringlichkeit oder Oberflächlichkeit war, legte sich Adas Scheu zunehmend.

»Sehr! Obwohl ich es überall herrlich fand, denke ich jetzt am liebsten an die Zeit zurück, die ich in Paris verbracht habe.«

Lady Alfords Lächeln vertiefte sich. »So wie Sie das sagen, klingt beinahe schon Sehnsucht heraus ... Wissen Sie – immer, wenn ich höre oder lese, Paris sei die Stadt der Liebe, kommen mir nicht zuallererst frisch Verliebte in den Sinn oder Paare in den Flitterwochen. Ich denke dabei an die Liebe, die man unweigerlich für diese Stadt empfindet, die einem das Herz so leicht und frei und beschwingt schlagen lässt.«

Adas übrig gebliebene Befangenheit zerging wie ein verharschter, hartnäckiger Rest Frühjahrsschnee unter der Märzensonne. »Genauso habe ich es auch empfunden!«, rief sie selig aus. »Allein schon dieses Licht! Es zeichnet alle Formen weich und verleiht den Farben eine sanftere Tönung. Kein Wunder, dass die Stadt immer schon Künstlern eine solche Inspiration war! Paris bringt die Seele zum Träumen – ich würde fast behaupten, sie verleiht ihr Flügel.« Sie bemerkte gar nicht, wie sicher sie plötzlich wirkte, als sie ihre Worte mit lebhafter Gestik unterstrich. Welch eine Leidenschaft aus ihren Augen loderte und wie Lady Alfords Blick sanft wurde.

Von Paris kamen sie auf Rom, das ihnen beiden eine Stadt strotzender Lebenskraft war, kräftiges Fleisch und starke Muskeln über dem bleichen Gebein der Antike, und von der Malerei über die Architektur schließlich zur Musik.

Adas Blick fiel auf Grace, die von einer Reihe tanzender Paare daran gehindert wurde, zu ihrer Schwester und den Digby-Jones herüberzukommen. Mittels Fingerzeichen und Lippenbewegungen bedeutete sie Ada, sich mit Simon draußen einzufinden. Ada antwortete mit einem Nicken, zögernd, beinahe unwillig, die Gesellschaft von Lady Alford aufzugeben, und sei es auch nur für kurze Zeit.

»Wenn Sie einmal während der Wintersaison in London sein sollten«, schlug Lady Alford gerade vor, »möchten Sie uns dann nicht in die Oper begleiten? Sie wären uns in unserer Loge herzlich willkommen!«

Ada sah Simon an. Im Widerschein der Zufriedenheit, die Lord Alford heute Abend ausstrahlte, dass aus seinem ungebärdigen Jüngsten nun doch noch etwas Vernünftiges zu werden versprach, schien Simon einen Kopf größer geworden zu sein, und mit dem Strahlen, das sich nun auf seinem Gesicht ausbreitete, schien er gleich noch ein Stückchen weiter zu wachsen. Einen flüchtigen Augenblick lang dachte Ada daran, dass sie dafür die Erlaubnis ihrer Eltern würde einholen müssen, dann flatterte dieser Gedanke auch schon wieder davon, fortgeweht von einem ungeheuren Gefühl des Glücks. »Danke, Lady Alford, unheimlich gerne!«

Als Grace ins Freie trat, empfing die milde Julinacht sie mit einer schwerelosen Frische, die beinahe kühl war auf ihren durchwärmten Oberarmen und Schultern. Unter ihren Sohlen knisterte der längst wieder getrocknete Boden, raschelten sanft die kurz gehaltenen Grashalme. Eine einsame Grille wagte sich an ihr zaghaftes Lied, das durch die Nacht zitterte und immer wieder verstummte. Als lauschte sie nebenbei den Stimmen der Schemen, die sich gegen den Lichtschein aus der Turnhalle abzeichneten: Väter, die im traulichen Halblicht ihren Söhnen Anerkennung aussprachen oder ihnen Ratschläge für die Zukunft erteilten. Töchter, die ihren Müttern die Vorzüge eines bestimmten jungen Mannes anpriesen, oder solche, die die geäußerte Begeisterung ihrer Mutter für einen gewissen Offizier als künftigen Ehemann schweigend überdachten. Freunde, denen mit ihrem Auszug aus dem College ein Abschied auf ungewisse Zeit bevorstand und die sich noch einmal ewige Verbundenheit schworen. Liebespaare, die sich gegenseitig Zärtlichkeiten zuflüsterten, einander den Himmel versprachen und auf den anderen zu warten gelobten, sich zu heimlichen Küssen hinreißen ließen, sobald sie sich unbeobachtet glaubten. Damit bei aller Nachsicht mit Jugend, Verliebtheit und Feierlaune die Schicklichkeit gewahrt blieb, patrouillierten in regelmäßigen Abständen Offiziere des Colleges über das Gelände. Zwei von ihnen nahmen aus einigen Schritt Entfernung gerade eine Handvoll Jungoffiziere in Augenschein, die mit Gläsern in der Hand auf dem Cricketrasen lagerten.

»... Radau die ganze Nacht«, schmetterten sie aus rauen Kehlen und reichlich schief in den Nachthimmel hinauf. »... weeeeeillll ... Scham-pus-Char-lie, ja, so heeiiß ich! Scham-pus-Char-lie, ja, so heeiiß ich! Bin im Spiel der Nacht dabeeii ...« Einer der frischgebackenen Offiziere hatte Grace erspäht und rutschte kniend über den Rasen auf sie zu, während er mit dramatisch ausgebreiteten Armen weitergrölte: »Bin im Spiel der Nacht dabeeiiii! Scham-pus-Char-lie, ja, so heeiiß ich!«

Grace lachte, als sie an ihm vorüberging. Mit einem kurzen Salut entboten die beiden Offiziere der Aufsicht ihr den Gruß. »Guten Abend, Miss Norbury. Alles in Ordnung?«

»Guten Abend, Lieutenant Mellow – Lieutenant Smith. Ja, danke, alles in Ordnung.«

Grace’ Weg schien ziellos, wie ein müßiges Umherflanieren. Doch das war er nicht. Wie eine Kompassnadel, die unbeirrbar auf den Nordpol zeigt, richtete sie ihre Schritte hinüber zum Polofeld. Hin zu der einzelnen, kaum erkennbaren Silhouette, die sie mehr spürte denn sah.

»Hallo«, sagte sie leise, als sie hinzutrat.

Jeremy wandte den Kopf, so ruhig, so wenig überrascht, als hätte er nur auf sie gewartet. »Hallo, Grace.«

Eine Weile standen sie still nebeneinander, im Grillengezirp und dem Flüstern der nächtlichen Spaziergänger. Die temperamentvolle Musik aus der Turnhalle brandete an sie heran, und die angetrunkenen Jungoffiziere besangen weiter die Freuden von Champagner und lockerem Lebenswandel.

Bis Grace das Schweigen nicht länger ertrug. »Du machst dir nicht viel aus solchen Abenden, nicht wahr?«

Jeremy trank einen Schluck. »Nein, wirklich nicht.«

»Deine Mutter fühlt sich hier auch nicht besonders wohl – das ist zumindest mein Eindruck.«

Grace klang bedrückt, beinahe als betrachte sie dies als ihr eigenes Versagen, und so fasste Jeremy es auch auf. »Uns sind solche Feste einfach gänzlich fremd. Sie war ohnehin nur mir zuliebe hier.«

»Ist sie schon gegangen?« Grace klang erschrocken.

Jeremy nickte. »Ich hab sie vorhin in ihre Pension im Dorf gebracht. Sie nimmt morgen früh den ersten Zug.« Das Glas in seiner Hand blinkte auf, als er damit herumspielte. »Danke, dass du sie Lady Norbury vorgestellt hast. Und dass ihr beide euch heute ein bisschen um sie gekümmert habt.«

Sie lachte sanft. »Das war doch selbstverständlich.«

»Nein, Grace, das war es nicht, und das weißt du auch.« Sein Kinn schob sich vor. »Ich fand das einen feinen Zug von dir.«

Grace senkte rasch den Kopf; sie wollte sich nicht anmerken lassen, wie sehr sie sich über seine Bemerkung freute. Die Unterlippe zwischen die Zähne gezogen, scheitelte sie mit der Spitze ihres Schuhs das Gras, bis sie den Kopf mit einem tiefen Einatmen wieder hob. »Sie scheint über deine Berufswahl nicht sonderlich glücklich zu sein.«

Sein Glas verharrte auf halbem Wege in der Luft. »Das hat sie dir erzählt?«

»Sie hat es in andere Worte gefasst, aber es war ihr anzusehen, dass sie es so empfindet.«

Jeremy richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf das Glas in seiner Hand und gab einen Laut von sich, halb Schnauben, halb Lachen. »Wie machst du das nur immer«, raunte er, »dass jeder vor dir sofort sein Innerstes nach außen kehrt?«

»Muss ich wohl von meiner Mutter haben«, entgegnete sie leichthin. »So ganz trifft das auch nicht zu: Fast jeder tut das. Mit Ausnahme ...«

»... von mir. Ich weiß.« Jeremy klang belustigt, wurde dann aber mit einem Mal ernst, als er hinzufügte: »Nein, sie ist nicht glücklich damit. Sie hätte sich gewünscht, dass ich einen anderen Lebensweg einschlage.« Er machte eine kurze Pause. »Und dennoch hat sie mir jeden Penny, den sie erübrigen konnte, zu meinem Ersparten dazugeschossen, damit ich nach Sandhurst kann. Das rechne ich ihr hoch an.«

Obwohl es nicht den Anschein hatte, als sei er betrunken, noch nicht einmal beschwipst, schien etwas an ihm, das Grace immer verhärtet vorgekommen war, heute Abend gelockert, nachgerade gelöst. Und davon ging eine solch ungeheure Anziehung aus, dass Grace unwillkürlich auf ihn zutrieb. Sie sehnte sich danach, ihren Arm unter den seinen zu schieben, ihr Gesicht an seine Schulter zu drücken – doch sie wagte es nicht. Nicht an diesem Ort, der so trügerisch war und ihnen vorgaukelte, sie wären ganz unter sich, wo doch jederzeit jemand herüberspazieren konnte. »Warum ist deine Mutter gegen die Offizierslaufbahn?«, fragte sie stattdessen. »Dein Vater war doch schließlich auch in der Armee.«

»Glaub mir, Grace, das Leben mit meinem Vater war weitaus weniger glanzvoll«, er wies auf die hell erleuchtete Turnhalle hinter ihnen, »als das hier.« Jeremy verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein, legte den Kopf in den Nacken und atmete tief ein, starrte dann in die Dunkelheit vor ihnen, zwischen die Baumstämme, deren Laub vom Licht der Sterne silbrig übergossen war.

»Meine Mutter«, sagte er schließlich langsam, »hat erfahren müssen, was der Krieg aus einem Menschen machen kann. Mein Vater ...« Sein nächster, tiefer Atemzug schien ihm Mühe zu bereiten. »Der Mann, den sie vor dem Krieg geheiratet hatte, der ist auf der Krim geblieben. Zurück kam ein anderer. Für mich war es wahrscheinlich leichter, ich hab ihn ja nicht anders gekannt.« Er rieb sich mit dem Knöchel seines Daumens über den Mund. »Keine schöne Vorstellung, dass es einem mit dem einzigen Sohn genauso ergehen könnte.«

»Und trotzdem hast du dich dafür entschieden«, stellte sie behutsam fest.

Er gab ein verhaltenes Lachen von sich, kurz und angehaucht, das tief unten in seiner Kehle hängen blieb. »Ja, trotzdem hab ich mich dafür entschieden. Was hätte ich nach der Schule auch anderes tun sollen? Meinen Onkel fragen, ob er auf dem Hof noch zwei Hände gebrauchen kann? Oder im Gemischtwarenladen meines anderen Onkels aushelfen? Dafür hätte ich nicht all die Jahre am Christ’s Hospital büffeln brauchen. Und für die Universität hätt’ ich nicht getaugt – ich bin kein geborener Gelehrter wie Stephen!« Seine Stimme, gerade noch energisch, durchdrungen von ätzender Bitterkeit, wurde leise, leise und glühend, und Grace spürte seine Augen heiß auf ihrem Gesicht. »Ich bin nicht dumm, Grace, aber ich hab auch kein besonderes Talent für irgendwas. Trotzdem will ich’s zu was bringen. Ich glaube – nein, ich bin sicher – in der Armee ... In der Armee ist das möglich. Und ich weiß, dass ich es schaffen kann.«

Das wirst du auch. Ich glaube an dich. Alles, was ihr an Erwiderungen in den Sinn kam, schien ihr zu abgeschmackt, zu phrasenhaft, mochte sich vielleicht belanglos oder gar herablassend anhören. Stattdessen legte sie ihre Hand auf Jeremys Brust und hoffte, dass er verstand. Unter ihren Fingerspitzen hob und senkte sich sein Brustkorb bei jedem Atemzug, und beinahe glaubte sie seinen Herzschlag zu spüren. Sie erschauerte, als er ihren Nacken umfasste und mit zwei Fingern durch ihren Haaransatz strich. Grace’ Stirn sank gegen sein Schlüsselbein, und ein glücklicher Seufzer entfuhr ihr.

»Das nenn ich mal clever«, drang eine Stimme wie Säure zwischen sie.

Jeremy und Grace blickten auf. Aus dem Halbdunkel hinter ihnen schälten sich die Umrisse eines Pärchens, und ein sichtlich angetrunkener Freddie Highmore fuhr fort: »Kriegt erst den Abschluss in den Hintern geschoben ...«

»Bitte, Freddie – hier sind Ladys anwesend!«, giggelte das Mädchen, das an seinem Arm hing.

»... und schmeißt sich jetzt an die Tochter vom Colonel ran, um die Leiter gleich noch weiter raufzufallen!«

Grace’ Finger lösten sich von Jeremy, widerstrebend zwar, aber sie hielt es für klüger. Jeremy jedoch schloss seine Hand um die ihre und presste sie fest an seine Brust. »Jeder, wie er’s verdient, Highmore!«

Highmore richtete das Glas in seiner Hand auf Jeremy und zielte mit abgespreiztem Zeigefinger auf ihn. »Du kriegst in jedem Fall noch, was du verdienst! Dafür sorg ich schon, keine Bange!«

»Fred-diiee«, maulte das Mädchen und zerrte an seinem Arm. »Können wir nicht wieder reingehen? Ich will tanzen!« Widerstrebend ließ er sich von ihr rückwärts mitziehen. Sein Finger peilte immer noch drohend Jeremy an, bis er auf seinen unsicheren Beinen ins Stolpern geriet und sich auf dem Absatz umdrehte.

Grace und Jeremy verharrten reglos und schweigend, Grace’ Hand immer noch in Jeremys, beide unberührt von Highmores Drohung. Als ob das, was sie verband, sie von allem Übel abzuschirmen und zu beschützen vermochte. Beide warteten darauf, dass sich die Unruhe legte, die Highmores Auftritt hinterlassen hatte, Staubkörnchen gleich, die langsam wieder zu Boden sanken, nachdem ein Windstoß sie aufgewirbelt hatte.

»Du denkst jetzt hoffentlich nicht«, flüsterte Jeremy schließlich heiser, »dass ich deshalb ...«

»Nein«, hauchte sie, ohne ihn anzusehen. »Gewiss nicht.«

Sie spürte unter ihrer Hand, wie etwas in ihm sich anspannte und wie dann ein Ruck durch ihn hindurchging. »Wir beide kommen aus ganz verschiedenen Welten, Grace.« Worte, die an einen Holzzaun erinnerten, ebenso dürr und sperrig.

Ihr Herz schlug schneller; trotzdem nahm sie sich Zeit, ihre eigenen Worte mit Bedacht zu wählen. »Es ist doch nicht wichtig, woher jemand kommt. Nur wohin er geht.«

Jeremy setzte mehrmals zu einer Erwiderung an, die ihm nicht über die Lippen zu kommen schien. Bis er schließlich hervorbrachte: »Siehst du das wirklich so?«

Ein Lächeln, irgendwo zwischen Neckerei und Zärtlichkeit, umspielte ihren Mund, als sie das Gesicht zu ihm hob. »Kennst du mich so wenig, dass du mich das noch fragen musst?«

Er blieb ihr die Antwort schuldig. Es war ein stummes Zwiegespräch, das sie führten, mit ihren Atemzügen, die tiefer und länger wurden. So wie Grace’ Fingerkuppen sich in seine Uniformbrust gruben und dann sanft darüberstrichen und wie Jeremys Daumen über ihren Handrücken rieb. Wie Grace’ Wange sich in die Wärme schmiegte, die sein Gesicht, das dem ihren so nah war, ausstrahlte und wie er den Duft ihres Haares einsog.

Nicht jetzt. Nicht hier.

Jeremy holte scharf Atem und bog den Kopf zurück. »Du wolltest mich doch nicht etwa wieder überreden, mit dir zu tanzen?«

Dunkel hoben sich die Umrisse ihrer Freunde von dem weichen, buttrigen Licht ab, das aus Fenstern und Türen strömte und den spitzgiebeligen Bau unter seinem Glockentürmchen wie mit einem Glorienschein umgab. Eng beisammen standen sie, leise durcheinanderredend wie die Versammlung eines Geheimbundes, unter die Jeremy und Grace sich wie Verschwörer in eigener Sache mischten. Unauffällig, aber nicht unbemerkt, wie Roystons Nicken in ihre Richtung bezeugte.

»Jetzt, da wir vollzählig sind ...« Hand in Hand mit Cecily, die lächelnd zu ihm aufsah, ergriff Royston das Wort und räusperte sich, bevor er in einer tieferen, gewichtigeren Tonlage neu ansetzte. »Ihr seid mehr als nur Freunde für mich.« Der Reihe nach blickte er die anderen an. »Ihr seid die Menschen, die mir auf dieser Welt am nächsten sind. Ein Leben ohne euch kann und will ich mir nicht vorstellen, und ich verspreche euch hier und heute, dass ich euch immer so loyal zur Seite stehen werde, wie ich es von euch in der Vergangenheit erfahren habe.« Seine Stimme geriet ins Wanken und verstummte für ein, zwei Herzschläge. Als Cecily ihre Wange an seinen Oberarm schmiegte, fuhr Royston fester fort: »Für uns Jungs beginnt mit diesem Sommer ein neues Kapitel unseres Lebens. Ab heute sind wir Offiziere Ihrer Majestät der Königin, und ab September stehen wir bereit, den Frieden und die Ehre des Königreiches zu verteidigen. Ihr als meine Freunde«, wieder wanderten seine Augen über die Runde, »sollt die Ersten sein, die erfahren, dass ich gestern Lord Grantham um eine Unterredung gebeten habe.« Als er das Raunen um sich herum vernahm, flog ein glückliches, aufgeregtes Lächeln über sein Gesicht, und er sah Cecily zärtlich an. »Heute Nachmittag, nach der Parade, habe ich dann dieses liebreizende Geschöpf an ein lauschiges Plätzchen entführt und sie dort gebeten, meine Frau zu werden. Sie hat Ja gesagt.«

Ein wildes Durcheinanderrufen brach los. »Alles, alles Gute für euch zwei!« – »Glückwunsch!« – »Na endlich, wurde auch langsam Zeit!« – »Gratuliere, altes Haus!« – »Oh Sis, ich freu mich so für euch!«

Ada und Grace fielen Cecily um den Hals, während Becky es bei einem kurzen Händedruck beließ, und alle drei Mädchen umarmten Royston, wie auch die jungen Männer Cecily auf brüderliche Weise kurz in die Arme schlossen und Royston mit derbem Schulterklopfen bedachten.

»... wir dachten an August«, erzählte eine glückstrahlende Cecily.

»Ich hoffe, ich kann meine Eltern überreden, uns Estreham House dafür zur Verfügung zu stellen«, ergänzte Royston.

»Oh ja«, rief Cecily aus. »Ich liebe dieses Haus!« Bevor sie noch etwas hinzufügen konnte, horchte sie auf. In der Turnhalle hinter ihnen war die Musik verklungen; stattdessen schien der Raum vor erwartungsvollem Gemurmel zu bersten. »Wir müssen rein!« Sie fasste Roystons Hand und zog ihn hinter sich her. Er konnte den anderen gerade noch mit einem Winken bedeuten, ihnen zu folgen.

Den Freunden blieb nur ein Eckchen neben dem Türrahmen, in das sie sich noch drücken konnten, während Cecily und Royston sich lachend durch die tuschelnde und plaudernde Menge hindurchschlängelten. In Richtung des Podestes, auf das just in diesem Moment General Frederick Dobson Middleton hinaufstieg. Hochdekoriert für seine Verdienste in den Kriegen gegen die Ureinwohner Neuseelands und bei der Niederschlagung des Aufstands in Indien, war er einst selbst Absolvent des Colleges gewesen, dem er als Kommandant heute vorstand.

Vierschrötig und weißbärtig, sein Glas in der einen Hand, die andere auf den Rücken gelegt, ließ er seine schmalen Augen über die versammelten Gäste, den Stab des Colleges und die jungen Offiziere schweifen. Sobald er sich vergewissert hatte, dass sich die Aufmerksamkeit aller auf ihn richtete, erhob er die Stimme.

»Ladys und Gentlemen! Wir sind heute hier zusammengekommen, um die Männer zu feiern, die sich als die Besten der Besten erwiesen haben. Eine Ehre ist es, in Sandhurst aufgenommen zu werden, und eine noch größere Ehre stellt es dar, diese Institution erfolgreich zu durchlaufen. Wir entlassen heute diese jungen Männer in ihre Zukunft, die für sie noch viel größere Ehren bereithalten möge. Denn ehrenvoll ist es, im Dienste Ihrer Majestät Königin Victoria sein Leben dem Erhalt und dem Ruhm unseres Empires zu weihen.« Er machte eine kurze, bedeutsame Pause. »Eines, Ladys und Gentlemen – eines ist jedoch noch weitaus ehrenvoller zu nennen. Nämlich«, ein Seitenblick streifte Cecily und Royston, die vor dem Podest standen und abwechselnd den Kommandanten, dann wieder einander andächtig ansahen, »nämlich den Bund fürs Leben mit einem Offizier Ihrer Majestät zu schließen. Ladys und Gentlemen – ich bitte Sie, Ihr Glas zu erheben auf Lady Cecily Hainsworth, die bereit ist, dieses Opfer zu bringen. Auf die Verlobung von Lady Cecily und Lord Amory!«

Hochrufe und Applaus donnerten durch den Saal, Glückwünsche prasselten auf Cecily und Royston nieder, auf die sichtlich überglücklichen Hainsworths und die sich zurückhaltender gebenden Ashcombes.

Am Rand des freudigen Tumults biss sich Ada auf die Lippen, um vor Ergriffenheit nicht aufzuschluchzen. Sie zuckte zusammen, als eine Hand nach der ihren tastete. Ungläubig starrte sie aus tränenfeuchten Augen Simon an, auf dessen Zügen sich ein schüchternes Lächeln andeutete, und während die erste Freudenträne über Adas Wange kullerte, verschränkten sich ihre Finger mit denen Simons, und ein Strahlen breitete sich auf ihrer beider Gesicht aus. Becky verschlang Stephen, der scheinbar teilnahmslos vor sich hin starrte, mit Blicken, die gleichermaßen sehnsüchtig wie erwartungsvoll waren. Bis dieser sich unvermittelt zu ihr herüberbeugte und ihr mit heißem Atem ins Ohr flüsterte: »Schenkst du mir den nächsten Tanz?«

»Ladys und Gentlemen«, dröhnte es durch die Turnhalle, »bitte aufstellen zum Kotillon!«

Die Menge der Ballgäste wogte auf, teilte sich schließlich wie das Rote Meer. Großväter, Väter, Mütter, Großmütter, die Offiziere des Colleges und deren Gattinnen zogen sich an den Rand des Saales zurück, während die frischgebackenen Offiziere ihre Herzdamen oder Schwestern bei der Hand fassten.

In der Mitte des Raumes nahmen die scharlachrot berockten jungen Männer in einem Viereck Aufstellung, Aug’ in Auge mit ihren Damen, die sich in einem größeren Viereck um sie herum aufreihten. Auf das Zeichen des Kapellmeisters hin setzte die Musik ein, langsam und schmeichlerisch und nur für Royston und Cecily bestimmt, gehörte dieser Tanz in der Mitte der beiden Vierecke ihnen allein. Und sie nutzten es weidlich aus: Royston hielt Cecily enger, als schicklich zu nennen war, wagte es gar, ihr zuweilen einen Kuss auf die Schläfe zu drücken, während Cecily hin und wieder ihre Stirn oder ihre Wange an Roystons Schulter ruhen ließ, und niemand nahm es ihnen übel.

Eine überschäumende, weltumarmende Freude durchströmte Grace, rein und ungetrübt, die diesem Abend galt, diesem Sommer, dem ganzen Leben. Ihr Herz quoll über, als ihr Blick von Royston und Cecily hinüberwanderte zu Becky, die gegenüber von Stephen im Viereck stand und sichtlich im siebten Himmel schwebte. Zu Simon, der nicht mittanzte und bei Ada geblieben war, beide in stillem Glück in die Augen des anderen versunken. Dann zu Leonard, der sich Simons abgelegter Balldame angenommen hatte und dieser zuzwinkerte, was der eleganten Brünetten sichtlich gefiel.

Grace’ Augen kehrten zu Jeremy zurück, der die Augen unverwandt auf sie gerichtet hielt und in denen ein leises und dennoch selbstbewusstes Hochgefühl glänzte. Mittlerweile kannte sie Jeremy in legerem Zivil und im Frack, im Rugbydress und in der Kadettenuniform. Doch nichts stand ihm so gut wie die Galauniform, einer Offiziersuniform zum Verwechseln ähnlich, die seine dunklen, kräftigen Farben betonte und das Schneidige seiner Züge klarer hervortreten ließ.

Die Kapelle wechselte in einen schnelleren Takt, in eine lebhaftere Melodie, und Grace und Jeremy traten mit den anderen Paaren aufeinander zu. Wie alle anderen Gentlemen verneigte sich Jeremy, und wie alle anderen Ladys antwortete Grace mit einem Knicks.

»Ab morgen«, sagte er, als er sie für die erste Figur des Kotillons an sich zog.

Grace lächelte. »Ja. Ab morgen.«