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Für einige Stunden glich der strenge Bau des Colleges einem Tollhaus. Einhundertzwanzig junge Männer hatten sich auf dem Korridor vor dem Zimmer des stellvertretenden Kommandanten gedrängt, um ihren Namen auf den ausgehängten Listen zu entdecken. Überraschte Laute gingen in Freudenschreie über und wurden von Schulterklopfen und rippenquetschenden Umarmungen begleitet. Einige der jungen Männer bekamen weiche Knie vor Erleichterung, andere bissen sich enttäuscht auf die Lippen, und nicht wenige hockten sich niedergeschmettert auf die Stufen, den Kopf in den Händen vergraben, zusätzlich noch niedergewalzt von der Schmach, dass man zu Hause durch die vorab an die Eltern oder den Vormund verschickten Prüfungsergebnisse bereits über ihr Versagen Kenntnis besaß.
»Vierzehnter!!« Simon, auf Roystons breitem Rücken Huckepack getragen, brüllte es jedem Kadetten entgegen, dem sie auf ihrem Weg ins Freie begegneten. »Vier-zehn!« In der einen Hand schwenkte er seine Kadettenkappe, in der anderen den kostbaren Umschlag aus dem Heeresministerium, den die Kadetten, deren Namen auf der Liste markiert gewesen waren, nebst einer Glückwunschfloskel beim stellvertretenden Kommandanten hatten abholen können. »Vi-hiieer-zehn!«, jodelte er im Vorbeitraben auf Freddie Highmore hinab, unbeeindruckt von dessen finsterer Miene über dem geöffneten Umschlag.
Hinter ihnen lachte Leonard, einen Arm um einen wie versteinert wirkenden Jeremy gelegt, den anderen um einen selig vor sich hin grinsenden Stephen. »Hoffen wir, dass uns das Glück weiter hold ist und wir diese Visage nie wieder sehen müssen!«
»Heiliger Strohsack, bist du schwer geworden«, schnaufte Royston, als er draußen vor dem Gebäude bockte wie ein unleidlicher Ackergaul, um Simon abzuschütteln. »Du hast die letzten Wochen bestimmt nicht nur von Luft und Liebe gelebt!« Er riss sich die Kappe vom Kopf, die ihm in den Nacken gerutscht war, und ließ sich wie die anderen auf den Rasen fallen. Mit dem Handrücken fuhr er sich über das nasse Gesicht, auf dem die Julisonne noch mehr Schweiß hervorperlen ließ, und lachte seine Freunde dann reihum an. »Habe ich es nicht immer gesagt: Die dreizehn ist meine Glückszahl!«
»War es neulich nicht die neunzehn? Neunzehn wie die neunzehn Lenze, die eine gewisse junge Dame ...« Leonard brach in Gelächter aus, als Royston mit seiner Kappe auf ihn eindrosch. »Halt die Klappe und mach endlich deinen Umschlag auf!«
»Jeremy, fang du an, du bist der Älteste«, rief Simon.
Stumm starrte Jeremy auf den Umschlag in seiner Hand, der so schwer wog wie Blei. Dass er es tatsächlich geschafft hatte, dass er seinen Namen an vierter Stelle auf den Listen fand, mit lächerlichen fünf Bewertungspunkten Abstand gleich hinter Leonard, war für ihn wie ein Schock gewesen und rief sein altes Misstrauen gegenüber dem Schicksal wach. Die Nackenhaare stellten sich ihm auf bei der Vorstellung, in sein altes Regiment zurückberufen zu werden, seinen früheren Kameraden, die für Jeremy Danvers und seine hochfliegenden Pläne nur Hohn und Spott übrig gehabt hatten, als Vorgesetzter gegenüberzutreten.
»Nein, du zuerst«, gab er langsam zurück und legte den Umschlag vor sich auf den Boden.
Mit hoffnungsvollem Grinsen riss Simon sein Kuvert auf und keuchte auf, als er die Zeilen überflog.
»Was ist?« – »Sag schon!« – »Raus mit der Sprache!«
Das Schreiben an die Brust gepresst, warf Simon sich auf den Rücken, strampelte mit den Beinen und lachte in den Himmel hinauf, der ihm noch nie zuvor so blau vorgekommen war. »Royal Sussex«, japste er. »Erstes Bataillon!«
Keiner seiner Freunde neidete ihm dieses Regiment, und doch wünschte sich jeder von ihnen, dort selbst einen Posten zu erhalten. Im Zuge der jüngst erfolgten Heeresreform aus der Verschmelzung zweier alter Regimenter entstanden, konnte vor allem das Erste Bataillon über den königlichen Ehrentitel hinaus auf eine lange Reihe von Auszeichnungen für siegreiche Schlachten in den fast zwei Jahrhunderten seiner Geschichte zurückblicken. Gibraltar. Québec. Martinique. Havanna. Santa Lucia. Maida. Eine Ehre, dort dienen zu dürfen; ein ungeheurer Glücksfall, dass das Regiment seinen Sitz in Chichester hatte, einem hübschen, geschichtsträchtigen Städtchen rings um eine normannisch-gotische Kathedrale. In der fruchtbaren, smaragdgrünen Küstenebene von West Sussex zwischen den Hügeln der South Downs und der Küste eingebettet, war Chichester nur einen Katzensprung vom Hafenort Havant entfernt, knapp fünfundvierzig Meilen südlich von Guildford und an der Bahnlinie zwischen Waterloo und Portsmouth.
Ich bleibe in Adas Nähe.
Einen Wimpernschlag lang herrschte Stille, dann ergoss sich lärmender Jubel über Simon.
»Los, Stevie – jetzt du!«
Stephen, noch trunken davon, wider Erwarten nicht nur bestanden, sondern gar einen hervorragenden elften Rang belegt zu haben, öffnete behutsam seinen Umschlag. Ein Lächeln entzündete sich auf seinem Gesicht, breitete sich zu einem hellen Leuchten aus, und er raunte ungläubig: »Royal Sussex. Erstes Bataillon.« Überglücklich ließ er das Gebrüll und die Rippenstöße seiner Freunde über sich ergehen.
»Alter vor Schönheit, mein Lieber!« Royston, der zwei Monate jünger war als Leonard, deutete auf den Umschlag in dessen Händen.
Als hätte es nie auch nur den Hauch eines Zweifels gegeben, hielt Leonard das Blatt hoch, ein triumphierendes Strahlen auf seinen Zügen. »Ich komme mit, Jungs! Auf nach Chichester!«
Unter dem tosenden Beifall der anderen rupfte Royston sein Kuvert auf, las das an ihn gerichtete Schreiben und atmete tief aus. Er legte die Hand über die Augen und seufzte auf. »Je nun! Es wäre auch zu schön gewesen ...« Er hob den Kopf und machte eine schicksalsergebene Geste. Die betroffenen Blicke der Runde erwiderte er mit einem betrübten Nicken, das unvermittelt einem listigen Lächeln wich. »Jetzt muss ich euch doch noch einige Zeit ertragen!«
»Wie famos!« – »Verdammt, Roy, hast du uns einen Schrecken eingejagt!« – »Glückwunsch, du oller Phrasendrescher!« Eine Kaskade von Freudenrufen und Schulterklopfen prasselte auf seine massige Gestalt nieder, die er mit gelassenem Grinsen über sich ergehen ließ.
Gebannt richteten sich die Augen der vier auf Jeremy, der mit unbewegter Miene den Umschlag vor sich anstarrte. Mit jedem Kuvert, das geöffnet worden war, waren nach allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit seine eigenen Aussichten, ebenfalls in das Royal Sussex einzutreten, geschwunden. Jeremy hoffte jedoch inständig, einem zumindest gleichwertigen Regiment zugeteilt worden zu sein. Vielleicht dem Queen’s Royal West Surrey in Guildford oder dem Berkshire in Reading. Welche Entscheidung man jedoch in der Horse Guards Avenue in London für Kadett Jeremy Danvers auch immer getroffen hatte – sie war nicht mehr zu ändern. Wie in Stein gemeißelt war sie, niedergeschrieben in diesem Brief.
Äußerlich ungerührt, innerlich jedoch zum Zerreißen angespannt, nahm er das Kuvert, öffnete es und faltete das Schreiben auseinander. Zwischen seinen zusammengezogenen Brauen erschienen zwei Kniffe, während seine Augen, dunkel und glatt wie polierter Stein, wieder und wieder über die Zeilen glitten.
»Mach’s nicht so spannend!« – »Raus mit der Sprache!«
Mit einer Stimme, die trocken und spröde klang wie herabgefallene Blätter im Herbst, sagte er so leise, dass es kaum zu verstehen war: »Royal Sussex. Ers–«
Aufheulend wie ein Rudel Wölfe stürzten sich die vier auf ihn; wie junge Hunde balgten sie sich unter hervorbrechenden Lachsalven auf dem Rasen und ergingen sich in rohen Umarmungen. Die Tür zu einer neuen Welt hatten sie aufgestoßen, zu einer Welt voller Wunder und Abenteuer. Stark und unverwundbar waren sie wie junge Götter, gierig danach, das Leben mit beiden Händen zu packen und sein Mark bis zur Neige auszusaugen.
Aus dem Knäuel an jungen Leibern reckte sich Simon empor; den Kopf in den Nacken gelegt, peitschte er mit den Zeigefingern in die Luft und brüllte zum Himmel hinauf: »Wir sind die Größten! Die Allerallergrößten! Uns gehört die Welt!«