18
... Ich kann es kaum glauben, dass jenes Wochenende auf Estreham schon etwas mehr als ein Jahr her sein soll. Oft denke ich daran und an das Versprechen, das Du mir gegeben hast.
Grüß Ada und Becky von mir und auch Colonel Norbury und Lady Norbury.
Jeremy
Grace faltete den Brief zusammen, den sie bestimmt schon ein Dutzend Mal gelesen hatte, seit er heute Nachmittag nach seiner dreizehntägigen Reise eingetroffen war. Das Jahr, seit sie sich heimlich mit Jeremy verlobt hatte, in jenem Gewitter, unter dem Pavillon im Garten von Estreham, war ihr endlos lang vorgekommen. Dabei war es ein Jahr gewesen, das sicher nicht mit weniger Festen, Einladungen und Empfängen ausgefüllt gewesen war als das davor, mit Ausritten und Jagdausflügen und Spaziergängen und Büchern und all den kleinen und großen Dingen, bei denen sie ihrer Mutter auf Shamley Green zur Hand ging. Und dennoch kam es ihr vor, als ob die Zeit spürbar langsamer verging, seit Stephen, Leonard, Simon und Royston nicht mehr hier waren. Seit Jeremy fort war vor allem.
Nachdenklich sah sie zum Fenster hinaus, in den Regen, der über dem Garten niederging und die leuchtenden Farben des Septembers auszuwaschen schien. Ich wünschte, Du wärst wieder hier, Jeremy. Du fehlst mir. Die Sehnsucht nach ihm lief wie ein Krampf durch sie hindurch, noch verstärkt durch die träumerische Melodie, die aus dem Musikzimmer herübertröpfelte. Grace schloss die Augen und lehnte die Stirn gegen den Fensterrahmen. Sie schrak auf, als sie hinter sich eine Stimme hörte, und wandte sich halb um. »Entschuldigung – was hast du gesagt?«
Ihre Mutter hob die Augen von ihrem Stickrahmen, ein mit Weitblick schon jetzt begonnener Kissenbezug für den Weihnachtsbasar der Holy Trinity Church. »Ich habe dich gefragt, ob du schlechte Nachrichten bekommen hast.«
»Nein«, beeilte sich Grace zu antworten, zwang sich zu einem Lächeln, das schnell wieder verlosch, und ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern, als sie sich wieder zum Fenster wandte. »Nein, keineswegs.« Ein nasser Flaumball schoss aus dem Nichts auf den Blumenkübel zu und landete auf dem Rand. Unter dem Laubdach des Pomeranzenbäumchens, das eigentlich schon längst für den Winter hätte hineingeräumt werden sollen, schüttelte sich der Spatz aus und plusterte sich auf, ließ unter ruckartigen Bewegungen des Kopfes seine Stecknadelkopfäuglein bekümmert umherhuschen und flog dann wieder davon.
Grace verschränkte die Arme und drehte sich wieder zu ihrer Mutter um. »Wie hast du das nur all die Jahre ausgehalten?«
»Du meinst«, sorgfältig zog Constance Norbury die Nadel mit dem roten Garn durch den straff gespannten weißen Stoff, »während euer Vater noch in Indien war?«
»Ja.« Grace ging hinüber zum Kanapee und setzte sich neben ihre Mutter. »Das muss doch sicher schwer für dich gewesen sein.« Sie schlüpfte aus den Schuhen und zog die bestrumpften Beine an, drückte die Wange gegen die Lehne und sah ihre Mutter an.
Constance Norbury schmunzelte und stach die Nadel wieder hindurch. »Nun, unter Langeweile habe ich gewiss nicht gelitten mit Shamley und mit euch Kindern. Ihr habt mich ganz schön auf Trab gehalten.« Sie warf ihrer ältesten Tochter einen schnellen Blick zu. »Du ganz besonders.«
Grace lachte leise und wurde dann wieder ernst. »Du musst Vater doch schrecklich vermisst haben ... Warum bis du nicht mit ihm dort geblieben? Du hattest doch davor fast dein ganzes Leben in Indien verbracht.«
Ihre Mutter nickte. »Eben deshalb. Ich habe miterlebt, wie Frauen in der Garnison schwer erkrankten und starben, und ich hielt manch eine in den Armen, die gerade ihr kleines Kind am Fieber verloren hatte. Und nach dem Aufstand ...« Sie ließ sich Zeit, bis sie weitersprach. »Wenn du einmal eine Frau in deinem Haus sitzen hattest, abgerissen und zu Tode erschöpft von der Flucht und mit einem schweren Schock, nachdem sie mit knapper Not dem blutrünstigen Mob entkommen ist, ihr Kind aber nicht retten konnte ...« Ihre Brauen zogen sich zusammen, und unvermutet energisch zupfte sie an dem Faden, der nicht auf Anhieb geschmeidig genug durch das Gewebe gleiten wollte. »Wir in Bengalen hatten Glück, uns ist nichts passiert. Aber gerade dann denkt man umso häufiger daran, ob es nicht noch einmal zu einem ähnlichen Ereignis kommen könnte und ob man dann ebenso verschont bliebe.« Constance Norbury ließ ihre Handarbeit sinken und sah ihre Tochter unverwandt an. »Ich habe Indien sehr geliebt, und das tue ich heute noch. Aber ich habe immer gewusst, dass ich meine Kinder nicht dort bekommen und großziehen will. Das hatten dein Vater und ich vor unserer Hochzeit bereits vereinbart.« Sie streckte die Hand aus und umfasste zärtlich das Kinn ihrer Tochter. »Und als wir dann wussten, dass du unterwegs bist, hat dein Vater Sonderurlaub beantragt, ich habe schnell meine Sachen gepackt und mich von ihm nach Shamley bringen lassen, in die Obhut deiner Großmama.« Grace lächelte bei der Erwähnung ihrer Großmutter. Wenn ihr auch nach all den Jahren nur wenige Erinnerungen an sie geblieben waren, so waren es doch gute Erinnerungen: an einen weichen Schoß und an Arme, in denen sie sich als ganz kleines Mädchen geborgen gefühlt hatte; an eine liebevolle Stimme und an den Duft von Vanille und Veilchen.
Ihre Mutter widmete sich wieder ihrer Stickerei, und Grace’ Gedanken wanderten weit, weit über Shamley Green und Surrey hinaus, nach Indien, wo ihre Mutter und ihr Vater sich begegnet waren und geheiratet hatten. Lange bevor Becky ihr eine grobe Ahnung davon vermittelt hatte, wo die kleinen Kinder herkamen, hatte Grace gewusst, dass es sie schon gegeben hatte, als ihre Mutter noch in Indien war; eine Grace in einem seltsamen, namenlosen und nicht greifbaren Zustand. Und sie hatte einige Zeit damit verbracht, in sich hineinzuhorchen, ob diese allererste Zeit im Mutterleib auf indischem Boden sie in irgendeiner Weise geprägt hatte. Immer wieder hatte sie das geschnitzte Tischchen im Schlafzimmer ihrer Eltern betrachtet, den bronzenen Elefantengott auf dem Frisiertisch ihrer Mutter, und einmal – und dafür hatte sie einen tüchtigen Klaps auf die Finger bekommen – hatte sie sogar den Stapel bunter Seidensaris aus dem Schrank gezogen, die sich ihre Mutter als junges Mädchen gekauft hatte, weil ihr die Farben und Muster so gefielen, obwohl sie sie nie hatte tragen können. Doch nie mochte sich bei Grace eine Erinnerung an etwas Fremdes, Exotisches einstellen, und irgendwann hatte sie aufgehört, über ihren Ursprung im fernen Bengalen nachzudenken. Grace war und blieb durch und durch englisch, einmal davon abgesehen, dass ihr Leibgericht nicht Lammpastete war. Sondern ein höllisch scharfes Curry, von Bertha zu besonderen Gelegenheiten nach einem Rezept zubereitet, das Constance Norbury aus Calcutta mitgebracht hatte. Erst übers vergangene Jahr hatte Grace wieder begonnen, darüber nachzudenken – und darüber, wie es wohl sein möge, in einem fremden Land zu leben, und sei es nur für eine gewisse Zeit.
»Das Warten und die Sehnsucht gehören dazu«, ergriff ihre Mutter wieder das Wort. »Das ist das Los von uns Offiziersfrauen. Und auch dass man sich beschäftigt hält, um die Zeit zwischen den Urlauben seines Mannes zu verkürzen.« Die Nadel glitt langsamer durch den Stoff. Es schien, als würde sie ihre nächsten Worte wohl abwägen, und schließlich setzte sie behutsam hinzu: »Gewöhn dich besser schon jetzt daran. Es sei denn, du überlegst es dir doch noch anders und entscheidest dich für Leonard statt für Mr Danvers.«
Grace wandte rasch den Kopf ab und kratzte mit dem Daumennagel über den Brokatstoff des Lehnenpolsters, und in diesem Augenblick zeigte sie in Gestik und Mimik eine verblüffende Ähnlichkeit mit ihrer jüngeren Schwester.
»Wir waren immer nachsichtig mit dir, Grace«, hörte sie ihre Mutter leise sagen. »Aber wir sind nicht blind. Ich muss dir wohl nicht erzählen, dass dein Vater alles andere als begeistert ist.«
Grace schüttelte den Kopf. »Nein.« Offen sah sie ihre Mutter an. »Obwohl ich es nicht gerechtfertigt finde.«
»Ach, Grace«, seufzte ihre Mutter und schob den Stickrahmen im Schoß zurecht, »ich verstehe dich durchaus, und ich weiß, wovon ich rede. Zu meiner Zeit war es weiß Gott noch nicht selbstverständlich, dass man den Mann heiratet, für den das Herz schlägt.« Sie beugte sich vor, griff zu ihrer zierlichen Schere und schnitt den Faden auf der Rückseite der Stickerei ab. »Mein Vater war auch nicht gerade glücklich über meine Wahl, so schwer verwundet, wie dein Vater damals war. Er fürchtete, ich junges Ding würde mich ein Leben lang an einen pflegebedürftigen Invaliden ketten, und da spielte es für ihn auch keine Rolle, dass euer Vater als Held galt und dazu mit dem Victoria Cross ausgezeichnet wurde. Aber mein Vater konnte sich darauf verlassen, dass mit Shamley zumindest immer für mein Auskommen gesorgt sein würde. Was Mr Danvers jetzt und wohl in den nächsten Jahren verdient, reicht nicht für eine Familie. Selbst dann nicht, wenn du den kleinen Fonds dazunimmst, den wir auf deinen Namen für deine Mitgift angelegt haben.« Mit einem weichen Ausdruck auf dem Gesicht sah sie ihre Tochter an. »Auch die größte Liebe leidet auf Dauer darunter, wenn kein Geld für Brot und Milch und für Kleider und Schuhe und Schulbücher da ist! So unromantisch das auch sein mag, aber gerade Kinder verschlingen viel Geld.«
»Ich weiß, Mama«, flüsterte Grace. Sie hatte genug Einblick in die Bücher von Shamley Green gehabt, um eine Vorstellung davon zu gewinnen, was das Leben kostete, selbst wenn man, wie die Norburys, zwar nicht reich, aber doch wohlhabend war und keinen verschwenderischen, aber doch einen gehobenen Lebensstil pflegte.
Nachdenklich strichen Constance Norburys schlanke Finger über die bereits gestickten Blüten und Blätter. »Dein Vater und ich waren uns immer einig, dass wir euch drei nie zu einer Ehe zwingen und euch auch nie verbieten werden, jemanden zu heiraten, gerade weil uns beiden das erspart geblieben ist. Aber wir werden ganz gewiss nicht die Hände in den Schoß legen und tatenlos zusehen, wenn eines von euch Kindern im Rausch der Gefühle dabei ist, sein Leben zu zerstören.« Sie schnitt ein Stück grünes Garn ab, feuchtete den Anfang zwischen den Lippen an und fädelte es durch das Nadelöhr. »Wenn du Mr Danvers unbedingt willst, dann musst du warten und hoffen – und am besten gleich noch beten, dass ihm ein schneller Aufstieg vergönnt ist. Und wir machen keinen Hehl daraus, dass uns Leonard weitaus lieber wäre, in jeder Hinsicht.« Sie atmete tief durch und lächelte. »So, genug gepredigt für heute.«
Grace sah ihrer Mutter eine Weile zu, wie sie die Rosenknospe des Kissenbezugs mit zarten Kelchblättern versah. »Ich habe mir überlegt, vielleicht ans Bedford zurückzugehen.«
Constance Norbury schmunzelte, ohne aufzublicken. »Um deinetwillen oder damit euer Vater Ada vielleicht doch noch die Erlaubnis gibt?«
Grace’ Wangen färbten sich. War sie denn heute aus Glas, ebenso durchschaubar?
»Beides«, bekannte sie schließlich.
Das Schmunzeln ihrer Mutter vertiefte sich. »Da musst du deinen Vater fragen.«
Im Korridor blieb Grace stehen und warf einen Blick durch die geöffnete Tür des Musikzimmers. Den Kopf gesenkt, saß Ada am Piano und spielte immer ein und dieselbe Melodie. Über ihren Schultern lag der Schal in Rosé und Grün und Cognac, den Simon ihr aus Chichester geschickt hatte, zu Weihnachten; dem Weihnachten, das er und die anderen jungen Männer bereits auf Malta verbracht hatten. Ihre Schwester wirkte in sich gekehrt, seit Simon fort war, fast noch stiller als früher, aber zugleich so, als ruhte sie in sich selbst, und immer lag in ihren Augen ein ganz besonderer Glanz, der zuvor noch nicht da gewesen war. Ada schien weder besonders unglücklich darüber zu sein, dass ihr gesellschaftliches Debüt zunächst einmal um ein Jahr verschoben worden war, noch darüber, dass sie nicht zurück ans Bedford durfte. Als wäre sie damit zufrieden, in ihrer kleinen Welt zu sein und ihre Tage zwischen dem Piano und den Büchern und ihren Farben und Pinseln zu verbringen. Nur wenn ein Brief von Simon eintraf, lebte sie auf, riss ihn ungeduldig auf und las ihn auf der Stelle, ein verzücktes Lächeln auf ihren Zügen – und missbilligend beobachtet vom Colonel, und doch schritt er weder ein noch sagte er etwas dazu.
Grace ging weiter und blieb vor dem Arbeitszimmer ihres Vaters stehen. Sie lauschte einen Augenblick und klopfte dann selbstsicher an.
»Herein!«
Colonel Norbury sah sie über den Rand seiner Brille hinweg an, die er seit dem Frühjahr bei Schreibarbeiten trug. »Grace!«
»Hast du einen Moment Zeit für mich, Papa?«
»Sicher.« Er nahm die Brille ab, und Grace schloss die Tür hinter sich. »Setz dich doch.«
Sie ging über den tannengrün und tabakbraun gemusterten Teppich zum Schreibtisch und ließ sich auf dem Stuhl davor nieder, Jeremys kostbaren Brief noch immer in der Hand. Mit der anderen langte sie nach unten, um Gladdy in seinem Korb die Flanken zu streicheln. Bei ihrem Eintreten hatte der Setter den Kopf gehoben und müde mit der Rute gewedelt. Jetzt ließ er den Kopf wieder sinken und gab einen Laut von sich, der halb ein tiefes Schnaufen und halb ein zufriedenes Brummen war.
»Ich höre«, sagte der Colonel leicht knurrig.
Grace richtete sich auf. Sie schätzte lange Vorreden und weitschweifige Einführungen ebenso wenig wie ihr Vater und brachte ihr Anliegen deshalb sogleich freiheraus vor. »Ich würde gern ans Bedford zurück.«
Der Colonel schürzte die Lippen unter dem Bart, legte die Brille auf die Papiere vor sich und lehnte sich zurück. »Das kommt nun doch etwas überraschend, findest du nicht?«
»Ich wollte gründlich darüber nachdenken, bevor ich dich frage.«
Ihr Vater schob die Brille ein Stück nach links und fuhr mit der Kuppe des Zeigefingers über den Bügel. »Woher dieser plötzliche Sinneswandel?«
Grace’ Augen wanderten durch den Raum, der in ihrer frühen Kindheit noch kahl und spartanisch eingerichtet gewesen war. Erst nach und nach, mit jedem Besuch des Colonels, hatte er sich gefüllt und nach der endgültigen Rückkehr des Vaters aus Indien die Ausstattung erhalten, die bis heute unverändert geblieben war. Hinter den Glastüren der Schränke schlummerten ledergebundene Bücher in exakt ausgerichteten Reihen. Auf dem mit Filz bezogenen Tisch unter dem Fenster war eine Karte ausgebreitet und mit Nadeln an den vier Ecken festgesteckt. Ein Briefbeschwerer aus Messing in Form einer Götterstatute, eine silberne Schatulle und ein Steinbrocken mit dem Teil eines figürlichen Reliefs waren außerdem darauf verteilt, um die Karte plan zu halten, und aus dem Fach unter der Tischplatte schauten die Enden mehrerer Dutzend zusammengerollter Karten hervor. Ein Globus stand auf der Kommode, in der ihr Vater die Kassette mit seinen ganzen Orden und Regimentsabzeichen aufbewahrte und wo er seine Pistolen unter Verschluss hielt. Auf der grün bespannten Wand kreuzten sich Säbel und Schwerter mit bunten Bändern und Troddeln am Heft; blitzblank polierte Gewehre mit ziselierten Beschlägen reihten sich in ihren Halterungen untereinander. Dazwischen hingen gerahmte Karten, kolorierte Stiche und Gemälde mit Szenen aus den Schlachten, in denen Colonel Norbury gekämpft hatte, die Namen der Schauplätze und die Daten in glänzende Metallschildchen eingraviert. Schlacht an der Alma, 1854. Mudki, 1845. Aliwal, 1846. Inkerman, 1854. Ferozeshah, 1845. Gefecht von Rowa, 1858. Sobraon, 1846. Kriege, die auf Shamley Green kaum je Gesprächsgegenstand gewesen waren.
»Ich komme um vor Langeweile«, sagte Grace schließlich. »Ich kann einfach nicht mehr länger nur herumsitzen!«
Eine Braue des Colonels hob sich. »Du könntest weitere Aufgaben auf Shamley übernehmen. Hier gibt es mehr als genug zu tun.«
Verwunderung zeichnete sich auf dem Gesicht seiner Tochter ab. »Aber Stevie wird Shamley doch einmal übernehmen, oder?«
Die Schultern des Colonels zuckten kurz hoch. »Es würde dir zumindest nicht schaden. Womöglich bist du später froh, wenn du auf diese Erfahrung zurückgreifen kannst.«
Unter dem bohrenden Blick ihres Vaters senkte Grace die Lider. Er brauchte kein Wort mehr zu sagen, um seiner Erwartung Ausdruck zu verleihen, dass sie eines Tages Herrin über Givons Grove und Hawthorne House sein würde. Indem sie Leonard das Jawort gab.
Als seine Tochter schwieg, hakte er nach. »Deine ... Anwandlung hat nicht zufällig etwas damit zu tun, dass ich deiner Schwester nach wie vor die Erlaubnis verweigere?«
Grace hatte früh begriffen, dass ihr Vater einiges vertrug, solange er nicht den Eindruck hatte, dass man mit verdeckten Karten spielte; etwas, das ihrer eigenen Wesensart sehr entgegenkam. Sie sah ihn unverwandt an. »Doch, Papa. Ich möchte selbst wieder dorthin zurück, aber ich hoffe auch, dass du Ada dann ebenfalls gehen lässt.«
Ihr Vater schob seine Brille ein Stück weiter weg und stützte sich mit verschränkten Unterarmen auf dem Tisch ab. »Du bist mündig, Grace.«
Grace verschränkte ebenfalls die Arme und stützte sie auf den Tisch, genauso, wie sie es schon als kleines Mädchen getan hatte, wenn sie ihm die Stirn bot, und das Auffunkeln in seinen Augen verriet ihr, dass er daran auch heute noch sein Vergnügen hatte. »Du weißt genau, dass ich trotzdem deine Unterschrift für die Anmeldung brauche, und selbst wenn ich das Studiengeld aus meinem Fonds bestreiten wollte, bräuchte ich dafür ein entsprechendes Dokument aus deiner Feder.« Das Spielerische verschwand aus ihren Zügen. »Und ich gehe nicht ohne Ada.«
Auch die Miene ihres Vaters wurde ernst. Er lehnte sich zurück und betrachtete aus schmalen Augen seine Tochter, die seinem Blick unverwandt standhielt.
»Bitte, Papa – Ada wünscht es sich so sehr, das weiß ich«, setzte sie noch hinzu.
In Augenblicken wie diesen fragte sich Colonel Norbury, ob er nicht doch zu viele Jahre in der Erziehung seiner Kinder versäumt hatte und ob seine Connie nicht doch zu nachsichtig gewesen war, während er in der Ferne seine Pflichten für das Empire erfüllte. Diese Kinder, das älteste nicht lange nach der Hochzeit gezeugt, die beiden jüngeren während zweier Heimaturlaube, in jenen Nächten, in denen es für ihn und Connie so viel nachzuholen gab. Kinder, die er immer nur im Abstand von zwei oder mehr Jahren gesehen hatte. Die ihm jedes Mal wie neue Kinder vorgekommen waren, in ihrer Entwicklung viel weiter vorangesprungen, als er sie in Erinnerung gehabt hatte. Nie hatte er ein Neugeborenes im Arm gehalten, nie war er dabei gewesen, wenn eines seiner Kinder die ersten unsicheren Schritte gewagt hatte, und nie war ihr erstes Wort »Papa« gewesen.
Vor allem bei Grace hatte er sich diese Frage oft gestellt, wenn er zufällig Zeuge wurde, wie sie auf Bäume hinaufkletterte, die Zunge konzentriert im Mundwinkel; wie sie sich mit Leonard Hainsworth im Gras balgte und lachend davonrannte, die Hand mit dem noch warmen Stück Kuchen triumphierend hochgereckt, das sie Bertha vom Blech herunterstibitzt hatte.
»Ist es nicht schon zu spät für eine Anmeldung zum kommenden Trimester?«, fragte er schließlich nüchtern.
Auf Grace’ Wangenknochen bildeten sich zwei glühende Flecken. »Ich habe an Miss Sidgwick geschrieben, und auf ihre Fürsprache hin würde das leitende Komitee für Ada und mich eine Ausnahme machen. Sofern wir uns in den nächsten zwei Wochen entscheiden.«
Der Mund des Colonels zuckte kaum wahrnehmbar. Sosehr Grace ihrer Mutter im Aussehen, im Wesen glich – zuweilen erkannte er sich im Charakter seiner Ältesten selbst wieder. Und so stolz er auch war auf seine schöne Tochter, so ertappte er sich doch oft dabei, sich vorzustellen, was Grace wohl für einen fabelhaften Burschen abgegeben hätte.
Bei diesem sorgfältig geplanten Handstreich gegen seine väterliche Autorität ging es aber nicht nur um Grace; es ging vor allem um Ada und um ihr Wohlergehen. Mir scheint, hatte Miss Sidgwick damals, nach Adas unrühmlicher Heimkehr aus London, geschrieben, Miss Ada leidet darunter, im Schatten ihrer Schwester zu stehen, die sie sich zu sehr zum Vorbild nimmt. Einige Zeit getrennt von Miss Norbury zu verbringen, am besten in einer neuen Umgebung, könnte hier meiner Auffassung nach Abhilfe schaffen und Miss Adas persönlicher Entwicklung förderlich sein.
Und es ging dabei auch um Simon Digby-Jones.
Am Bedford würden seine Töchter von morgens bis abends von anderen Frauen und Mädchen umgeben sein, abgesehen von den überwiegend männlichen Mitgliedern des Lehrkörpers, die zu ihren jeweiligen Unterrichtsstunden ins Gebäude kamen und es danach wieder verließen. Dennoch widerstrebte es ihm, die Aufsicht über die beiden Mädchen aus der Hand zu geben. Andererseits waren sowohl Simon Digby-Jones als auch Jeremy Danvers mehr als zweitausend Meilen weit entfernt, und nach menschlichem Ermessen war eine baldige Rückkehr des Royal Sussex unwahrscheinlich.
Zwar hatten die Truppen von General Wolseley nach einem kurzen, erfolgreichen Gefecht bei Kassassin vor Tel el-Kebir den Aufständischen eine empfindliche Niederlage beigebracht: Arabis Truppen waren bei Sonnenaufgang in nur einer halben Stunde vernichtend geschlagen worden, und der Weg nach Cairo war für diesen Teil der Armee frei. Dennoch war ein Ende des Einsatzes in Ägypten einstweilen nicht in Sicht; zuvor müssten erst die restlichen Truppen den Vormarsch von Alexandria nach Cairo in Angriff nehmen, wo das Herz des Aufstands schlug. Bis die Rebellion im Keim erstickt und die Stadt befriedet sein würde, bis in Ägypten so weit Ruhe einkehrte, dass man die Truppen zurückbeorderte, würde noch viel Wasser den Cranleigh hinabfließen. Dem Colonel bliebe also genug Zeit, seine Töchter wieder heimzuholen, ins sichere familiäre Nest. Wenn er sich denn dazu entschiede, sie gehen zu lassen.
»Falls ich euch die Erlaubnis gebe«, sagte er schließlich, »übertrage ich dir die Verantwortung für deine Schwester. Bist du dir dessen bewusst?«
»Ja, Papa. Ich verspreche dir, gut auf Ada aufzupassen.« Einen Herzschlag lang durchzuckte Grace ein Anflug von Schuldbewusstsein. Ihr fiel ein, dass es einen Tag gegeben hatte, an dem sie einen Moment lang nicht gut genug auf ihre kleine Schwester geachtet hatte. Ein Moment, aus dem ein paar Stunden geworden waren. Jene Stunden mit Jeremy während des Gewitters, die ihr selbst so kostbar gewesen waren; Stunden, über die Ada nie ein Wort verloren hatte.
»Lass mich noch eine Nacht darüber schlafen und in Ruhe mit eurer Mutter darüber sprechen«, ließ sich ihr Vater schließlich vernehmen.
Unter dem verdutzten Blick Gladdys sprang Grace auf, lief um den Schreibtisch herum und schlang die Arme um ihren Vater. »Danke, Papa!«
»Noch habe ich nicht Ja gesagt!«, brummte er.
Grace löste sich von ihm und lachte, doch ihr Lachen erstarb, als ihr Vater sie am Handgelenk festhielt, weil sein Blick auf den Brief in ihrer Hand gefallen war. Rasch wollte sie sich losmachen, doch er war stärker und besah sich den Absender. 2nd Lt. J. Danvers, 1. Batt. R. Sussex, 4. Inf- konnte er zwischen ihren Fingern entziffern. Er sah seiner Tochter ins Gesicht, sah den Aufruhr darin.
»Grace, ich habe immer große Stücke darauf gehalten, dass du weißt, was gut und richtig ist.« Seine Stimme war leise, bekam aber zunehmend eine eiserne Härte. »Und dass du dich bei allem, was du tust, von deiner Vernunft leiten lässt. Das erwarte ich auch weiterhin von dir.« Der Druck seiner Finger verstärkte sich. »Enttäusch mich nicht.«