51
Mit einem tiefen Atemzug fuhr Grace aus dem Schlaf auf und blinzelte in das lavendelgraue Dämmerlicht. Ihre Hand tastete über das kühle Laken hinweg auf die andere Seite des Bettes, fand sie jedoch leer vor. »Jeremy?«, flüsterte sie in die Schatten des Zimmers hinein, in das von der Gasse heraufdringende Summen und Brausen aus kehligen, geschmeidigen Lauten arabischer Wortkaskaden, schallendem Gelächter, sanften Schritten in Pantoffeln und dem lauteren Klatschen von Sandalen, dem Geschepper und Geklapper aus dem Kaffeehaus gegenüber, das das Wesen Cairos ausmachte. »Jeremy?«
Als sie ihn regungslos am Fenster mit den aufgeklappten Läden stehen sah, nur mit langen Hosen bekleidet und eine brennende Zigarette in der Hand, setzte sie sich auf. Sie hob ihren dünnen Morgenrock vom Boden auf, den sie auf einem Basar gekauft hatte, und zog ihn über ihre Blöße. Sie war immer noch wesentlich dünner als früher, wenn auch nicht mehr so abgemagert wie bei ihrer Ankunft hier im Februar. Das gute, stark gewürzte ägyptische Essen, Hühnchen mit Zimt und Kardamom, Reis mit Bohnen, säuerliche Okraschoten und gesottener Blumenkohl, die klebrig süßen, zuckrigen Kuchenschnitten, hatte seine Wirkung getan. Im Aufstehen band sie sich den Morgenmantel zu und tapste auf nackten Füßen ans Fenster. Sie schob die Hände unter Jeremys Achseln und verschränkte sie vor seiner Brust, die inzwischen nicht mehr so knochig war, küsste ihn auf die Schulterblätter, die nicht mehr so scharf hervorstachen, und schmiegte die Wange in die Kuhle dazwischen.
»Weißt du, was mir einfach nicht aus dem Kopf geht?«, sagte er nach einer Weile. »Als Len so dalag, mit seinem Bauchschuss ... Ich habe die ganze Zeit über nur den Revolver angestarrt, mit dem er uns bedroht hat, und gedacht – nur eine Kugel. Nur eine Kugel.« Er wandte sich halb zu Grace um. »Ich war drauf und dran, die Waffe zu packen und ihn zu erschießen, Grace. Und ich weiß bis heute nicht, ob ich es getan hätte, um mich zu rächen oder um ihn zu erlösen.«
»Das eine wäre nur allzu verständlich gewesen«, murmelte sie gegen seine vernarbte Haut. »Und das andere hätte dich sehr geehrt. Du hast es aber nicht getan.«
Er lachte kurz und trocken auf, beugte sich vor und drückte die Zigarette auf der Untertasse aus, die als behelfsmäßiger Aschenbecher auf dem Mosaiktischchen unter dem Fenster stand. »Nein, ich hab mir vielmehr gewünscht, dass er in den paar Minuten so viel durchmacht wie ich an einem Tag in Omdurman.«
Grace zögerte einige Wimpernschläge lang. »Hast du mir seither je die Schuld daran gegeben, was Len getan hat?«
Er wandte sich um, und zwischen seinen Brauen erschienen feine Kniffe, während sein Mund unter dem sorgfältig gestutzten Bart voll und weich wirkte. »Nein, Grace, keine Sekunde. Nie.« Seine Augen, die in diesem Licht fast schwarz wirkten, wanderten über ihr Gesicht. »Aber ich weiß, dass du dir deshalb Vorwürfe machst.«
»Ja«, hauchte sie, den Blick auf das Haus gegenüber mit den geschnitzten Holzgittern vor den Fenstern und doch in eine unbestimmte Ferne gerichtet. »Es vergeht kein Tag, an dem ich das nicht tue oder daran denke.«
Seine Hand legte sich auf ihre Wange. »Wir haben beide so einiges, mit dem wir von nun an leben müssen.« Als sie nickte, beugte er sich zu ihr und küsste sie.
Einmal mehr durchzuckte Grace das Erschrecken darüber, wie selbstbezogen sie geworden waren. Wie rücksichtslos sie hier in Cairo ihre Liebe auslebten, ohne Scham, ohne Reue, ganz so, als gäbe es nur sie beide auf der Welt; als ob das, was hinter ihnen lag, sie härter gemacht hätte, beinahe kaltherzig. Und doch war ihnen beiden ein Bewusstsein für ihre Verletzlichkeit geblieben, für ihre eigene Sterblichkeit und für die Vergänglichkeit der Dinge, sodass sie umso gieriger jeden Moment auskosteten, zusammen glücklich zu sein.
Jeremys Küsse entfachten den Hunger neu, den Grace zuvor erst gestillt geglaubt hatte. Sanft entwand sie sich ihm und ging rückwärts, weg vom Fenster, auf das Bett zu, wo sie stehen blieb, das Band des Morgenrocks löste und eine Hüfte vorschob, sodass der glatte Stoff auseinanderklaffte. Sonst tat sie nichts, sie stand einfach nur da und genoss es, wie Jeremy sie ansah, die Hände in den Hosentaschen vergraben und einen Funken des Verlangens in den Augen. Er trat auf sie zu und schob ihr den Morgenrock von den Schultern, dass er zu Boden glitt, sein Gesicht ganz dicht bei ihrem, und sie konnte die Wärme seiner Haut spüren, seinen Atem an ihrer Schläfe. Grace hielt still, bis sie ihre Gier kaum mehr ertrug und zu zittern begann.
Unvermittelt versetzte Jeremy ihr einen leichten Stoß gegen die Schultern, und lachend ließ Grace sich auf das Bett fallen. Stoffgeraschel verriet ihr, dass Jeremy sich aus seinen Hosen schälte, und mit einem Schnurren schloss sie die Augen, als er sein Gesicht zwischen ihren Beinen vergrub. Grace fühlte sich wie ein sprudelnder Quell und gleichzeitig wie in einem Fieber, das glühende Schauer durch ihren Körper jagte, während Jeremys Hände, sein bärtiges Gesicht über ihre wieder sanfter gerundeten Hüften strichen, über ihren Bauch, über die kleinen Wölbungen ihrer Brüste, deren Spitzen sich ihm entgegenreckten. Sie seufzte auf, als er in sie hineinglitt, und noch mehr als die rein körperliche Lust genoss sie es, seinen Atem auf ihrem Gesicht zu spüren, seine Haut auf der ihren. Genoss es, ihre Hände über sein Gesicht wandern zu lassen, über seine Schultern und über den Rücken, ihre Finger in seinem Haar zu vergraben, das dicht und schwer war wie ein dickes Tierfell. Ihn zu umfassen und ihm auf diese Weise nahe zu sein. Sie liebte es, wie er sie mit einem halben Lächeln dabei beobachtete, wenn er sich in ihr, mit ihr bewegte, während sie sich beide davontragen ließen in diesem himmlischen und doch allzu irdischen Rausch.
Grace lag in Jeremys Armbeuge und sah im Schein der entzündeten Laterne den blauen Rauchfähnchen zu, die von seiner Zigarette aufstiegen. Ihre Finger strichen sanft über die Haare auf seiner Brust und über die kahlen Stellen dazwischen, wo sich die Narben über die Haut zogen und keine Haare mehr nachwuchsen. Diese Narben, die ein Teil von ihm waren und immer sein würden; so wie das, was hinter ihm lag, immer ein Teil von ihm sein würde. Erinnerungen, über die er nie sprach, aber sie sah es in seinen Augen, wenn er gerade daran dachte; Erinnerungen, die ihn manchmal unruhig schlafen ließen.
So einfach ist das also, dachte sie erstaunt. So einfach ist es, eine gefallene Frau zu sein.
Nein, es war nicht einfach gewesen, verbesserte sie sich sogleich in Gedanken. Nicht allein deshalb, weil sie für Jeremy alle Brücken hinter sich abgebrochen und diese gefährliche Reise auf sich genommen hatte und weil nun Leonards Tod auf ihnen lastete. Scheu waren sie anfangs gewesen miteinander, hier in Cairo. Stundenlang hatten sie nur Arm in Arm dagelegen und sich angesehen. Sich vorsichtig gestreichelt und sich an der Hand gehalten. So zerbrechlich war ihnen ihr Zusammensein vorgekommen, dass sie nur schüchtern wieder die ersten Küsse gewagt, sich nach und nach vorgetastet hatten, nach und nach einander wieder kennenlernten. Behutsam, so behutsam hatten sie begonnen, den Körper des anderen zu erkunden und sich vertraut zu machen. Es hatte Mut gebraucht, den letzten Schritt zu wagen, auf diesem Weg, den sie inzwischen übermütiger gingen und beinahe wie selbstverständlich.
Sie lebten in den Tag hinein, liebten sich, wann immer ihnen danach war, gingen essen, wenn sie Hunger hatten, und schliefen, wenn sie müde waren. Bei den Pyramiden und bei der Sphinx waren sie gewesen und auf dem Nil, im Ägyptischen Museum und auf al-Gazirah, oder sie schlenderten einfach durch die Gassen der Stadt und über die Basare. Die meiste Zeit jedoch verbrachten sie hier, in diesem Zimmer, das ihnen beiden vorkam wie eine Glasglocke, die sie vor den Schrecken der Vergangenheit abschirmte. Aber auch vor jeglicher Zukunft. Ihr Leben in Cairo war ein Leben in einer fortwährenden Gegenwart, jeden Tag, jede Nacht aufs Neue. Allmählich jedoch dämmerte in Grace die Ahnung herauf, dass es nicht ewig so weitergehen konnte. Es gelang ihnen hier in Cairo vielleicht, die Vergangenheit und den Rest der Welt auszublenden, aber auslöschen konnten sie sie nicht.
»Jeremy«, flüsterte sie und drückte ihren Mund auf seine Brust, atmete seinen Geruch ein, der sich gleichfalls verändert hatte, schwerer geworden war, würziger. »Lass uns nach England zurückfahren. Nicht morgen oder übermorgen, aber bald. Zurück in unser altes Leben.«
Jeremy starrte schweigend an die Decke und rauchte seine Zigarette zu Ende. Er setzte sich halb auf, um sie auf der Untertasse auszudrücken, die er auf den Nachttisch geholt hatte, und streckte sich dann wieder neben Grace aus, den Ellenbogen aufgestützt und die Schläfe auf die Faust gelehnt. Mit der anderen Hand strich er ihr über die Wange, spielte mit einer Strähne ihres Haares. »Ich bin zwar lebend aus Omdurman herausgekommen, Grace, aber ich habe kein Leben mehr. Zumindest nicht in England.«
»Dann baust du dir eben ein neues auf«, erwiderte sie und fuhr ihm mit der Fingerkuppe über die Stirn, die sich leicht gefurcht hatte.
»Wie denn, Grace?« Er klang bedrückt, fast schon ungehalten. »In ein Regiment gehe ich nicht zurück, und etwas anderes habe ich nicht gelernt.«
Vater wüsste bestimmt Rat, ging es Grace durch den Kopf. Ja, gewiss wüsste er das.
»Wir finden einen Weg«, wisperte sie. »Lass es uns wenigstens versuchen. Andernfalls können wir immer noch hierher zurückkehren oder woanders hingehen.« Als er schwieg, fügte sie hinzu: »Wir können uns nicht einfach so aus der Verantwortung stehlen. Ich nicht meiner Familie gegenüber und du nicht deiner Mutter.«
Grace hatte Heimweh, Heimweh nach Shamley Green, nach Ada und Stephen und Becky und nach ihren Eltern, und obwohl sie gleich nach ihrer Ankunft in Cairo nach Shamley Green geschrieben hatte, spürte sie Gewissensbisse, dass sie nicht wussten, wie es ihr ging, und sich nicht mit eigenen Augen davon überzeugen konnten, dass sie wohlauf war. Vor allem bedrückte sie der Gedanke an Sarah Danvers, die ebenso wie Jeremys Freunde zu Hause noch immer ahnungslos war, was das Schicksal ihres Sohnes betraf. Jeremy hatte es so gewollt; ein Wunsch, auf dem er so hartnäckig bestanden hatte, dass er und Grace zum ersten Mal in Streit geraten waren und sie schließlich nachgegeben hatte. Fürs Erste, hatte sie sich selbst geschworen. Nicht auf Dauer.
»Du fehlst ihr sehr, das weiß ich«, setzte sie deshalb hinzu.
Über Jeremys Gesicht legte sich ein Schatten, und sein Mund spannte sich an. »Der Sohn, den sie einmal hatte – der fehlt ihr. Aber den gibt es nicht mehr.«
Grace’ Finger glitten an seiner Schläfe hinunter, in sein Haar und vergruben sich tief darin. »Tu das nicht, Jeremy. Nimm ihr nicht die Entscheidung ab, was sie ertragen kann und was nicht. Das hat sie nicht verdient. Sie wird dich auch so lieben, wie du heute bist. Ich tue das ja auch.«
Lange sah er sie einfach nur an, während sich sein Mund verkniff, dann zuckte und sich schließlich löste. Er schob sich näher, bis sein Gesicht über dem ihren war.
»Grace, ich empfinde nicht mehr dasselbe für dich wie damals.« Sie fuhr zusammen, aber mit einem halben Lächeln legte er ihr rasch die Hand auf den Mund. »Warte, hör mir zu. Hör mir einfach nur zu. Ich empfinde nicht mehr dasselbe, weil ich nicht mehr derselbe Mensch bin wie damals. Ich weiß nicht, ob ich den Krieg und die Gefangenschaft überstanden hätte ohne den Gedanken an dich. Vielleicht hätte ich es auch niemals geschafft, von Omdurman fortzukommen, wenn du nicht mit Abbas genau an dem Tag dorthin gekommen wärst. Gut möglich, dass ich sonst nur noch ein Haufen Knochen wäre irgendwo in der Wüste. Aber wie sehr ich dich liebe, das habe ich wohl erst wirklich begriffen, als Len uns bedroht hat. Ich wäre bereitwillig gestorben, um dich zu retten, Grace – und gleichzeitig hat sich alles in mir dagegen gesträubt, dich ihm zu überlassen.« Er verstummte für einige Augenblicke und klang dann rauer als sonst. »Ich kann nicht verlangen, dass du dich noch immer an das Versprechen gebunden fühlst, das du mir damals auf Estreham gegeben hast. Aber wenn du das, was von mir übrig geblieben ist, immer noch willst – dann lass uns heiraten, Grace. So schnell wie möglich. Hier, in Cairo. Bevor wir nach England zurückfahren.«