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Die Soldaten schlugen sich weiter durch, hinunter zum Nil, entrichteten zwischen Abu Kru und Gubat noch einmal einen Blutzoll, in einer Schlacht, die die letzte sein sollte, in der sich Truppen der britischen Armee zu einem Karree formierten. Das Karree, das so viele Siege gebracht und das hier, im Sudan, so viele Leben gekostet hatte. Am Nil trafen sie mit der Kolonne zusammen, die über den Fluss in den Süden vorgestoßen war, und unter heftigem Feuer erreichten sie am 28. Januar Khartoum. Ein Khartoum, das umstellt war von jubelnden Männern des Mahdi, aus dem geschossen wurde und dessen Palast in Trümmern lag. Vor allem ein Khartoum, über dem nicht mehr die ägyptische Flagge wehte wie unter Gordon, sondern ein Khartoum, über dem der süßliche Geruch von Tod und Verwesung lag.

Sie waren zwei Tage zu spät.

Zwei Tage zuvor hatte der Mahdi die Stadt stürmen lassen, und seine Männer hatten keine Gnade gekannt. In einem Rausch aus Gewalt und Blut waren sie durch die Stadt getobt, hatten geplündert und vergewaltigt und angezündet, verstümmelt und gemordet, und die Frauen, die Kinder, die sie am Leben gelassen hatten, nahmen sie mit und überbrachten sie dem Mahdi und dessen engsten Getreuen als Geschenk. Nur die Allerkleinsten nicht, die noch der Mutterbrust bedurften; die ließen sie zurück und überantworteten sie dem Tod durch Hunger und Durst und den Aasvögeln.

Wolseleys Männern blieb nichts, als mit schamgebeugtem Haupt, mit ausgezehrtem Leib und mit wunder Seele den Rückzug anzutreten. Mit aufrichtiger Trauer im Herzen vor allem. All ihre Anstrengungen, all die Kämpfe, die Verwundeten und die Toten des Feldzugs – sie waren umsonst gewesen.

Einen dicken Packen Zeitungen unter dem Arm, hastete Grace die Baker Street mit ihren geordneten Klinkerfassaden hinter schmiedeeisernen Zäunen entlang. Ein Pferdefuhrwerk rumpelte an ihr vorbei, gleich dahinter eine stattliche Kutsche, und die Hufe der gestriegelten Rösser klapperten munter über das von grauen Schneeresten bedeckte Pflaster. Gentlemen in strengen Anzügen und Bowlerhüten auf dem Kopf überquerten die Straße, Ladys mit flotten Hüten, in eng anliegenden Jacken oder kurzen Capes, unter deren Rückensaum die Rüschen der modischen Turnüre hervorrieselten, wie sie inzwischen auch Adas und Grace’ Röcke und Kleider zierte. Es war zum Morgenritual der Norbury-Schwestern geworden, eine halbe Stunde früher aufzustehen und noch vor dem Frühstück loszulaufen, um Zeitungen zu besorgen; einen Tag Ada, den anderen Tag Grace, so wie an diesem nebelkalten Februarmorgen.

Die Nachricht vom Fall Khartoums hatte England bis ins Mark erschüttert, und die Wellen der Trauer, der Wut und der Empörung schlugen hoch, und schon wurden Stimmen laut, die den Rücktritt von Premierminister Gladstone forderten, der mit seinem Zögern den Untergang der Stadt besiegelt hatte. Aus den Zeitungen hatten Ada und Grace von Abu Klea erfahren, von den Scharmützeln danach und vom vergeblichen Vormarsch in die längst gestürmte Stadt, vom langsamen, immer wieder von Kämpfen begleiteten Rückzug der britischen Truppen, die sich auf dem Weg in das Lager in Korti befanden. Gierig stürzten sie sich auf jeden Artikel, auf jede Meldung, in der Hoffnung und in der Angst zugleich, zu erfahren, wie es Stephen, Jeremy, Simon, Leonard und Royston im Sudan erging, wenn schon kein Brief, kein Telegramm für die Schwestern eintraf. Solange wir nichts hören, ist alles gut, nicht wahr?, versicherten sie sich gegenseitig jeden Tag aufs Neue. Wenn ihnen etwas geschehen wäre, hätten wir doch schon längst Nachricht bekommen, oder nicht?

Grace trat unter den von Säulen gestützten Balkon vor der Bibliothek im oberen Stockwerk, nahm die zwei Stufen eines der beiden Hauptportale im Laufschritt und schob die schwere Tür unter dem fächergleichen Oberlicht auf. Mit langen Schritten und unter dem Klacken der Absätze ihrer Stiefeletten auf dem glatten Steinboden eilte sie durch die Halle mit ihrem großen Buntglasfenster und den Arkaden. Der Papagei in seiner großen Voliere vor einer der Säulen spreizte sein buntes Gefieder und krächzte heiser.

»Grace!« Von dem Tisch, auf dem allerlei Broschüren und Faltblätter für Konzerte, Aufführungen und Ausstellungen auslagen, löste sich die Gestalt einer jungen Frau und huschte unter Schuhgetrippel und Röckerascheln auf Grace zu.

»Morgen, Maud!«

»Ihr habt Besuch, Grace – du und Ada!« Das flächige Gesicht von Maud Denbrough unter dem üppigen herbstlaubfarbenen Haar ruckte in Richtung der an einer Wand aufgereihten Stühle, vor denen Miss Smith stand, eine der Leiterinnen des Komitees, die in ihrer nüchternen, nonnenartigen Tracht stets strenger wirkte, als sie eigentlich war. Ein Gentleman war bei ihr, von dem Grace nur den Mantelrücken und einen sorgfältig getrimmten dunklen Haarschopf erkennen konnte. Miss Smiths Blick fiel auf Grace, und unter leisen Worten und mit einer einladenden Geste führte sie den Gentleman zu ihr hin.

»Miss Norbury?« Forschend sah er sie aus dunkel umschatteten grauen Augen an. Er mochte um die vierzig sein, und sein eckiges Gesicht, blass und eine Spur aufgedunsen, war Grace zwar unbekannt, aber nicht gänzlich fremd, denn er sah jemandem ähnlich, den sie gut kannte. »Miss Grace Norbury, nehme ich an?«

»Ja, das bin ich«, antwortete Grace tonlos. Ihr Mund war wie ausgedörrt, und ihr Magen wand und verknotete sich voller Angst. Jeremy.

Den Zylinder und die Handschuhe in der Linken, streckte er ihr die Rechte entgegen, die leicht zitterte. »Wir sind uns bisher leider noch nicht begegnet, und ich bedaure sehr, dass es nun unter solchen Umständen geschehen muss. Charles Digby-Jones.«

»Wir können gern in mein Büro gehen«, hörte Grace den behutsamen Vorschlag von Miss Smith neben sich. »Dort spricht es sich gewiss ruhiger.«

Ein Gefühl der Enge stieg in Grace’ Kehle auf. Die Zeitungen, die sie unter den Arm geklemmt hatte, entglitten ihr und klatschten zu Boden. Heiser flüsterte sie: »Simon?«

Der Weg die Treppen hinauf war endlos, und Grace war froh, Maud neben sich zu haben, die sich fest bei ihr untergehakt hatte und sie stützte. Vor der Tür zu ihrem Zimmer blieb Grace stehen und fuhr sich mit dem Handrücken über das tränenüberströmte Gesicht.

»Wird es gehen?«, fragte Maud besorgt.

Grace nickte schwach. »Es muss«, bestärkte sie sich selbst.

»Ich bin in der Nähe, wenn ihr mich braucht«, flüsterte Maud ihr zu und strich ihr über die Schulter.

»Danke, Maud.« Grace atmete tief durch und drehte den Türknauf, trat ein und schloss die Tür hinter sich.

»... wo hab ich das denn nur?«, murmelte Ada, während sie hektisch einen Stapel Bücher auf ihrem Zeichentisch durchging, um ein ganz bestimmtes Buch zu finden. »Ich komm doch noch zu spät ...« Sie sah auf, sah ihre Schwester an, die mit verweinten Augen an der Tür lehnte, und das Lächeln, das gerade noch über ihre Züge gehüpft war, verlosch. Unter Ada geriet der Boden ins Wanken. Gibt ... gibt es schlechte Nachrichten?, fragten ihre geweiteten Augen.

»Simons Bruder ist unten«, flüsterte Grace.

Adas Kopf drehte sich kaum merklich hin und her, in der Andeutung eines Kopfschüttelns voller Ungläubigkeit, voller Abwehr und Entsetzen. »Nein, Gracie. Nein.«

»Ada ...«, setzte ihre Schwester an, doch weiter kam sie nicht, sie hatte keine Worte, um auszudrücken, was sie empfand.

Ada tat zwei schwankende Schritte auf Grace zu. »Sag, dass das nicht wahr ist, Gracie! Sag mir, dass es Simon gut geht!«

Ada presste die Hände auf die Ohren, als könnte sie so all die Worte ausblenden, die, obwohl unausgesprochen, die schreckliche Wahrheit in sie hineinfrästen. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie krümmte sich und schluchzte auf, schlang die Arme um sich, als drohte sie auseinanderzubrechen. Es tat weh, so weh, als hätten die Speere der Derwische sich hierher verirrt, in diesen Raum, der für Ada immer ein Hort der Geborgenheit gewesen war, und stießen mitten in Ada hinein.

Grace war sogleich bei ihr, drückte sie so fest an sich, wie sie nur konnte. Ada stieß einen hohen Klagelaut aus, dann schrie sie, schrill und gellend, als risse ihr jemand bei lebendigem Leib das Herz heraus.

Grace führte ihre kleine Schwester behutsam zum Bett und setzte sich mit ihr, hielt sie im Arm, und Ada klammerte sich an sie wie eine Ertrinkende. Maud schlüpfte leise ins Zimmer und setzte sich dazu, die Arme um Adas Taille gelegt und das Gesicht an ihren von Schluchzern geschüttelten Rücken gepresst. Später kam Katherine herein, die sich auf dem Boden niederließ, Adas Knie umfasste und den Kopf in Adas Schoß legte. Und die ganze Zeit weinte Grace mit Ada, die ihren Liebsten verloren hatte und all ihre Träume und Hoffnungen, weinte um Simon, den Freund, den Kleinsten und Jüngsten der fünf, den man mit seinem Witz und seiner quirligen Lebenslust einfach gernhaben musste und der nun nicht mehr da war. Und in all diesen Stunden fegte ein makabres Ringelreihen aus Gedankenfetzen durch Grace’ Kopf.

JeremyStevieLenRoystonStevieJeremyJeremyStevieLen. Royston. Jeremy. Stevie. Len. Bitte, lieber Gott. Bitte. Ich flehe dich an. Jeremy. Stevie. Len. Royston. Bitte nicht. Nicht sie auch noch. Bitte.