31
In der Schwärze des Nichts entzündete sich wieder der Funke des Bewusstseins in Jeremy, flackerte, glomm auf, wurde heller und heller. Erinnerungsfetzen sickerten in seinen Kopf, in dem es schmerzhaft dröhnte und qualvoll pochte. Grelle Schüsse. Schlachtengebrüll und Schmerzensschreie. In der Sonne glänzende Speerspitzen und Schwertklingen. Simon. Len. Royston. Stevie. Blut, überall Blut. Seine Zunge war wie ein dürres Stück Holz, das am Gaumen festklebte. Ich kann nicht atmen. Eine Zentnerlast quetschte ihm den Brustkorb und presste seinen Körper gegen den harten Grund. Die Luft roch metallisch und süßlich faulig, schien nur widerstrebend in seine Lungen zu strömen. Ich kann nicht atmen. Mit Gewalt riss er die brennenden Lider auf, doch er sah nur Dunkelheit, und sein Herz geriet ins Stolpern. Ich bin begraben, lebendig begraben. Seine Hände tasteten umher, fühlten mehligen Sand und körnigen Kies. Stoff und darunter etwas Weiches und zugleich Festes, glatt umhüllt. Gliedmaßen. Körper. Tote Körper. Ich bin lebendig begraben.
Jeremy biss die Zähne zusammen, zwang die nackte Angst hinunter. Raus. Ich muss hier raus. Er bohrte die Finger in den Boden und spannte alle Muskeln an, versuchte sich vorwärtszuziehen. Keinen Inch bewegte er sich. Tiefer krallte er die Finger in den Boden und zog sich ein winziges Stückchen vorwärts. Keuchend hielt er inne und tastete sich mit den Fingern weiter vor, bekam mit den Stiefelspitzen hinter sich Halt und konnte sich noch etwas vorwärtsschieben. Und noch ein Stück. Und noch ein Stück. Ein ungeheurer Kraftakt, der Stunden zu dauern schien. Seine Lungen dehnten sich erleichtert aus, als sie Luft einsogen, richtige Luft, und schickten neue Kraft in den geschundenen Leib. Ächzend arbeitete Jeremy sich weiter vor, nun auch mit den Ellenbogen, mit den Knien, robbte nach und nach unter der gewaltigen Last hervor.
Schwer atmend lag er auf der Erde, setzte sich mühsam halb auf und drehte sich um. Das fahle Licht der Sterne enthüllte Schatten und hellere Wölbungen aus schwarzfleckigem Tuch. Jeremy brauchte einige Herzschläge, um zu begreifen. Ein Hügel aus Leichen, tote Männer des Mahdi, Dutzende, die einfach so dalagen, wie sie niedergemäht worden waren, und die Jeremy unter sich begraben hatten. In gedankenverlorenen Bewegungen befühlte er seine Gliedmaßen, seinen Rumpf. Alles an ihm schien heil. Ein geradezu unfassbares Glück schien ihm hold gewesen zu sein. Er erinnerte sich. Abu Klea. Die Schlacht. Simon. Ein Schlag, den er abbekommen hatte. Seine Finger wanderten über seine Schläfe, ertasteten verkrustetes Blut und eine Schwellung, die höllisch wehtat, als er sie berührte. Seine Blicke wanderten weiter, über Berge von Leichen und noch mehr Leichen, Menschen und Tiere. Stöhnend rappelte er sich auf, kam auf die Füße, schwankte und fing sich wieder. Wie lange er hier wohl gelegen hatte? Stunden vermutlich. Er legte den Kopf in den Nacken, sah zu den Sternen hinauf. Ich lebe noch. Wo waren die anderen? Sein Regiment des Royal Sussex und die anderen Truppen? Simon und Stephen, Royston und Leonard?
Er fühlte sich völlig verloren an diesem gottverlassenen Ort, wie der letzte Überlebende einer Apokalypse. Bis er glaubte, ein Flüstern wahrzunehmen, und lauschte. Hinter ihm raschelte es, und er fuhr herum. Er schrak zusammen, als er Gestalten über das Leichenfeld wandern sah, ihre Gewänder hell im Silberlicht, Hände, Gesichter und Füße so dunkel, dass sie in der Schwärze der Nacht aufgingen. Noch bevor er sich davonmachen konnte, hatten sie ihn entdeckt, zogen sich drohend um ihn zusammen. Er tastete nach seinen Waffen, aber außer einer Handvoll Patronen in seinem Gurt besaß er nichts mehr; Schwert und Revolver musste er zuvor verloren haben.
Langsam hob er die Hände. »Amin«, krächzte er flüsternd aus verdorrter Kehle, mit pergamenttrockenem Mund. »Amin – Friede.«
Jeremy sah noch den dunklen Schatten eines Gewehres auf sich zusausen, dann wurde es erneut schwarz um ihn.
Ein scharfer Schmerz riss ihn aus der Bewusstlosigkeit. Etwas Hartes hatte ihn oberhalb der Hüfte getroffen, und er brüllte auf. Es war ein anderer Schmerz als das Brennen an seinen Handgelenken, das Reißen an seinen Schultern und das Schmirgeln an seinem Rücken. Das Sonnenlicht stach wie mit glühenden Dolchen in seine Netzhaut. Über ihm pendelte der dünne Schwanz eines Kamels vor dem gläsernen Himmel, wiegte sich das Hinterteil in gleichmütigem Passgang, und bei jedem Schritt zogen die Hufe dicht an Jeremys Schädel vorbei. Das Seil, das um seine Handgelenke geknotet und am Sattel des Kamels befestigt war, schleifte ihn über den Wüstenboden. Sand und Geröll hatten den Stoff seines Uniformrocks bereits zerschlissen, das Hemd darunter durchgescheuert und die Haut an seinem Rücken stellenweise abgeschürft. Sandkörnchen und sein eigener Schweiß brannten in den Wunden, und dazwischen pochten die zahlreiche Prellungen von den Steinen, über die sein Leib hinweggeholpert war. Erleichtert spürte er, wie das Kamel langsamer ging, schließlich stehen blieb. Hastig rollte er sich zur Seite, um nicht von dessen Leib zermalmt zu werden, als es in die Knie ging. Zitternd zog er die Beine an, kam in die Hocke und stand taumelnd auf. Einige Derwische schritten auf ihn zu, bunte Rechtecke auf ihren Gewändern und ihr Grinsen blendend hell in den dunklen Gesichtern. Jeremy duckte sich unwillkürlich, als er ihre umgehängten Gewehre bemerkte, doch sie wirkten freundlich und lachten, hielten ihm sogar einen Wasserschlauch an die aufgesprungenen Lippen, und er trank in gierigen Zügen, bis sein Magen so voll war, dass er fast gegen die Rippen stieß und zu platzen drohte. In einem schnellen Zungenschlag, der kein arabischer war, aber eine ähnliche Sprachmelodie besaß, redeten sie auf ihn ein, klopften ihm auf die Schulter und drückten ihm ein Fladenbrot in die gefesselten Hände. Gierig riss er mit den Zähnen große Stücke davon ab, kaute und schluckte und kaute und schluckte, während die Männer sich im Sand niederließen und selbst tranken und aßen, bevor sie wieder aufstiegen. Die Kamele ruckelten hoch in den Stand und setzten sich schaukelnd in Bewegung.
Jeremy marschierte hinterdrein, Meile um Meile durch die Wüste. Bis seine Stiefel sich auflösten und seine Füße blasig und wund waren, die Haut in seinem Gesicht verbrannte und in Fetzen herunterhing, seine Augen sich röteten und zuschwollen.
Irgendwann sah er zu seiner Linken unter einer Dunstbank etwas aufglitzern: einen Fluss, vermutlich den Nil. Dann tauchten die ersten einfachen Hütten auf, danach ein paar Häuser, niedrige Klötze aus groben rötlichen Ziegeln, mit einfachen Öffnungen für Fenster und Eingänge. Alles wirkte verlassen, bis die Karawane auf einen größeren, sonnendurchglühten Platz kam, in dessen Mitte ein paar in die Erde gerammte Holzstangen ein Dach aus Palmwedeln und geflochtenen Matten stützten. Scheinbar aus dem Nichts strömten von überall her Männer, elfenbeinschwarz, schokoladenbraun, zimtdunkel, altersgegerbt oder jung, Halbwüchsige, fast noch Kinder, in löchrigen, staubigen Gewändern und mit einem Käppchen oder einem gewickelten Turban auf dem Kopf.
Wild riefen sie durcheinander, drängten sich um Jeremy, begafften und begrapschten ihn. Die Kamele gingen in die Knie, und einer der Männer, die ihn hierhergebracht hatten, stieg ab und löste das Seil, mit dem Jeremy festgebunden war, zog ihn wie ein Stück Vieh hinter sich her.
Im Schatten des Palmdachs wurde Jeremy zu Boden gestoßen, und sein Bewacher ließ sich im Schneidersitz neben ihm nieder, während die Menge nun ehrfürchtig Abstand hielt und Jeremy mit großen Augen anglotzte. Einige speerbewehrte Derwische traten auf Jeremy zu, einen Weißen in ihrer Mitte. Auch er trug das Gewand eines Derwischs, darunter aber Hosen nach europäischer Manier wie Jeremy selbst. Er war noch jung, kaum älter als Jeremy, mit hellen Augen und einem geschwungenen Oberlippenbart in einem breiten, zum eingekerbten Kinn hin spitz zulaufenden Gesicht.
»As-salamu aleikum«, begrüßte er Jeremy mit einer leichten Verneigung und mit aneinandergelegten Handflächen. Jeremy kannte diese Grußformel und auch deren Antwort, schwieg aber. »Willkommen in Omdurman – oder wie wir hier sagen: in der Stadt der Gläubigen. Sie sind Engländer?« Er sprach Englisch mit einem Akzent, der vermuten ließ, dass seine Muttersprache Deutsch war, wenn es auch weicher und singender klang, als Jeremy das Deutsche noch im Ohr hatte. Als er auf die Fetzen von Jeremys Uniformrock deutete, nickte dieser.
Der Weiße ließ sich ihm gegenüber nieder. »Ich heiße Rudolf Slatin. Wie ist Ihr Name?«
Jeremy blieb stumm, und Slatin musterte ihn eindringlich.
»Früher war ich Gouverneur der Provinz von Darfur«, erklärte er dann. »Seit über einem Jahr bin ich Gefangener hier und gewinne allmählich das Vertrauen des Mahdi. Unter anderem bin ich sein Dolmetscher, und ich soll von Ihnen in Erfahrung bringen, wo sich die Stellungen der britischen Armee befinden.« Als Jeremy nichts darauf erwiderte, senkte Slatin die Stimme. »Ich kann Ihnen nur raten, sich entgegenkommend zu zeigen. Sagen Sie mir, wohin Ihre Armee marschiert und was sie vorhat, und ich werde versuchen, dafür zu sorgen, dass Sie bessere Bedingungen hier bekommen.«
Jeremys Verstand, ausgetrocknet und ermattet, wog nur kurz die Möglichkeiten ab, die sich ihm boten. Nach der Anzahl der toten Derwische zu schließen, die er im Nachtlicht gesehen hatte, schien ein Sieg der britischen Truppen in Abu Klea mehr als wahrscheinlich. Allzu lange konnte er nicht bewusstlos gewesen sein, als die Derwische ihn aufgegriffen hatten. Wolseleys Männer waren in dieser Zeit bestimmt noch nicht sehr weit gekommen, würden aber ihren Vormarsch nach Khartoum fortsetzen. Und sobald die Stadt befreit war, würden gewiss auch Truppen in die weitere Umgebung ausschwärmen, auch hierher, nach Omdurman. Zum Verräter zu werden, das kam für ihn nicht infrage, einige Tage oder Wochen könnte er hier sicher aushalten, und so schüttelte er den Kopf. Slatins Blick verhärtete sich. »Mit dieser Einstellung werden Sie hier nicht lange überleben. Ich frage Sie zum letzten Mal: Wo befinden sich die britischen Stellungen, und was ist ihre Aufgabe?«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte Jeremy heiser. In dem Versuch, ein Schlupfloch zwischen Verrat und Hoffnung für sich selbst zu finden, fügte er hinzu: »Das entscheiden alles die Kommandeure. Wir in den unteren Rängen werden immer nur nach und nach über deren Pläne informiert, wenn überhaupt.«
»Das wird keine Antwort sein, die den Mahdi erfreut.« Slatins Mund unter dem geschwungenen Schnauzbart wurde zu einem schmalen Strich.
Jeremy kniff seine entzündeten Augen zusammen. »Eine andere kann ich ihm nicht geben.«
Die Derwische, in deren Begleitung Slatin gekommen war, wurden unruhig, und als Slatins helle Augen zu ihnen hinüberhuschten, sah Jeremy die Angst darin. Als er sich jedoch wieder zu Jeremy hinwandte, blickten sie kühl, beinahe hochmütig. »Schön. Dann nehme ich das als Ihr letztes Wort und gebe es an den Mahdi weiter.« Er erhob sich und setzte leise hinzu: »Falls Sie die nächsten Tage überleben sollten, so rate ich Ihnen, mich schnellstmöglich holen zu lassen und mir dann zu sagen, dass Sie die Sache des Mahdi unterstützen und dem Mahdi die Treue schwören. Dass Sie zum Islam übertreten wollen, weil Sie erkannt haben, dass der Glaube an Allah die einzig wahre Religion ist. So wie ich es getan habe.«
Jeremy war nie ein besonders gläubiger Mensch gewesen, doch den Vorschlag, den Slatin an ihn herantrug, zog er gar nicht erst in Betracht. Er war als Christ geboren, war in der christlichen Welt aufgewachsen, und er würde auch als Christ sterben. Vor allem würde er ganz gewiss nicht zum Anhänger des Mahdi werden, auch nicht zum Schein. Nicht nach allem, was er in diesem Land gesehen hatte.
»Vergessen Sie’s«, knurrte Jeremy, und ohne ein weiteres Wort ging Slatin davon, in Begleitung seiner Derwische, die vielleicht seine Entourage, vielleicht aber auch seine Bewacher sein mochten.
Einige Zeit geschah nichts, bis zwischen zweien der Häuser am Platz ein ganzer Trupp Derwische hervorkam, bewaffnet mit Schwertern und Speeren, und ihr grimmiger Blick ließ nichts Gutes ahnen. Einer von ihnen bellte Befehle in seiner fremden Sprache, und vier Männer stürzten auf Jeremy zu. Zwei packten ihn an den Ellbogen und zerrten ihn hoch; der dritte löste ihm die Fesseln, während der vierte mit gezücktem Schwert dabeistand. Sie schleiften ihn aus dem Schatten heraus in die grelle Sonne, wo zwei andere Derwische bereits mit einem gefüllten Wassereimer, mit einem Seil und mit Holzscheiten warteten. Mit groben Griffen wurden ihm die Hände übereinandergelegt, Handflächen nach unten, und das Seil darumgeschlungen; eines der Holzscheite wurde unter das Seil geschoben und zugezwirbelt, bis das Seil Jeremys aufgescheuerte Handgelenke eng umschloss. Einer der Männer nahm den Eimer und goss Wasser auf das Seil, das sich sofort vollsog und aufquoll. Es begann zu brennen, und Jeremy biss die Zähne zusammen, keuchte mit nassen Augen, als der Schmerz immer heftiger wurde, geradezu unerträglich, weil sich das Seil immer tiefer und tiefer in die Haut fraß. Mit Entsetzen spürte er, wie es in seinen Händen zu pochen begann, wie sie anschwollen und stachen wie von Tausenden von Nadeln gepeinigt und dann allmählich taub wurden. Nicht meine Hände! Nicht meine Hände! Ich will nicht als Krüppel nach Hause zurückkehren! Ich will nicht zum Krüppel werden wie mein Vater! Nicht meine Hände!
Die Menschen, die vorhin noch Abstand gehalten hatten, schoben sich näher. Einige begannen zu johlen, weitere stimmten ein, bis sich der Jubel zu einem rasenden Taumel steigerte. Blitzende Lichter blendeten Jeremy. Es waren Schwertklingen und Speerspitzen, die vor seinen Augen tanzten, unter dem Gebrüll seiner Bewacher. Sieh nicht hin, befahl er sich selbst, doch als er die Augen schloss, wurde der Schmerz in seinen Händen nur noch stärker. Jeremy glaubte zu spüren, wie seine Finger unter dieser Pein abstarben. Denk an etwas anderes. Denk an etwas Schönes. Denk an Grace. Grace. Grace. Er sah Grace vor sich, mit ihrem hellen Haar, den braunen Augen, die ihn anlächelten, hörte ihre Stimme. Jeremy. Ich bin bei dir, Jeremy. Er roch ihren Duft nach frischem Gras und nach Schlüsselblumen. Es nahm ihm nicht den Schmerz, nicht die Angst, aber es ließ ihn beides besser ertragen.
Der Zauber zerstob, als man ihn erneut packte und über den Platz schleifte. Unwillkürlich riss er die Augen auf, und sein Blick fiel auf drei übermannshohe Holzgestelle. Jeweils zwei im Boden vergrabene Balken, ein dritter quer darübergelegt, um den ein Strick mit einer Schlaufe am Ende geschlungen war.
Vielleicht war es Einbildung, vielleicht auch Wirklichkeit, dass sich die unverständlichen Laute der tobenden Menge und der Männer, die ihn zum Galgen führten, nach und nach zu einem englischen Wort formten. Stirb! Stirb!, glaubte er sie skandieren zu hören. Stirb! Stirb!