37
Grace legte den Kopf in den Nacken und bestaunte die gewaltige Kathedrale, die über die Dächer der Stadt hinausragte und gleichsam über die Seelen der Menschen Wache hielt. Mit ihrer längsgerippten Fassade, dem hohen wuchtigen Aufbau dahinter, den schlanken, lang gestreckten Spitzbogenfenstern und den spitzen Fialen, die geradewegs in den Himmel zu ritzen schienen, stellte sie die eindrucksvollste Kirche dar, die Grace je gesehen hatte. Dann richtete sie ihren Blick wieder auf den Brief in ihrer Hand, überflog noch einmal die Wegbeschreibung, sah sich um und stapfte weiter bergan, über das holprige Kopfsteinpflaster des schmalen Sträßchens, das weiter vorn einen Bogen machte. Zu beiden Seiten reihten sich zweistöckige Backsteinhäuschen mit weißen Fensterrahmen aneinander. Die Schindeln der Dächer waren nicht ganz gleichmäßig ausgerichtet und sahen aus, als wären sie in aller Eile auf das Gebälk genagelt worden. Vor einer schwarz lackierten Tür blieb sie schließlich stehen, vergewisserte sich, dass sie am richtigen Haus angelangt war, und drückte die Tür auf.
Ein dunkles Treppenhaus empfing sie, in dem es ein wenig muffig roch, und sie stieg die Treppe hinauf. Sie atmete ein paar Mal tief durch, um ihren aufgeregten Herzschlag zu beruhigen. Dann ließ sie den Türklopfer gegen das ebenfalls schwarze Holz der Etagentür schlagen.
Schritte kamen näher, und die Tür ging auf.
Jeremys Mutter stand vor ihr, dunkel gekleidet, und obwohl der Flur hinter ihr dämmrig war, sah Grace, dass ihr Gesicht noch müder wirkte als damals, vor über fünf Jahren. Noch mehr Linien hatten sich hineingegraben, schon vorhandene hatten sich vertieft, und unter ihren Augen lagen dunkle Schatten.
»Guten Tag, Mrs Danvers.« Grace streckte die Hand aus, und als Mrs Danvers sie ergriff, stieg in Grace dieselbe Zuneigung auf, die sie an jenem Tag sogleich zu Jeremys Mutter gefasst hatte.
»Guten Tag, Miss Norbury. Bitte, treten Sie doch ein.« Die Tür fiel hinter Grace zu. »Stellen Sie Ihre Tasche einfach hier ab – und Ihre Jacke und den Hut können Sie gern mir geben. Hatten Sie eine gute Reise?«
»Ja, danke.« Während Grace ablegte und ihre Handschuhe abstreifte, huschten ihre Augen fortwährend umher, durch den kleinen Flur mit den geweißelten Wänden, über die dunklen Türen, die in die einzelnen Zimmer führten, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Hier also hat Jeremy gelebt ...
»Bitte hier entlang, Miss Norbury.« Mrs Danvers führte sie zur letzten Tür auf der rechten Seite. Ein enger Raum, nüchtern eingerichtet mit einem Tisch und vier Stühlen, einem Büfettschrank aus dunklem Holz und mit einer Standuhr, die schwerfällig vor sich hin tickte. Unter dem Fenster stand ein Kanapee mit mokkabraunem Bezug. »Nehmen Sie doch Platz. Entschuldigen Sie nochmals, dass ich Sie nicht vom Bahnhof abholen konnte, aber samstags ist bei uns im Laden immer viel los. Ich bin selbst erst vor gut einer halben Stunde nach Hause gekommen und musste mich noch umziehen. Möchten Sie einen Tee?«
»Ja, sehr gern.«
»Das Wasser müsste auch fast so weit sein. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.«
Mrs Danvers ging hinaus, und Grace konnte sie in der Küche hantieren hören. Sie hatte sich kaum hingesetzt, da sprang sie in ihrer Nervosität schon wieder auf und lief zur Tür. »Ich helfe Ihnen gern!«, rief sie über den Flur hinweg in die Richtung, aus der die Geräusche kamen.
»Danke, lieb von Ihnen, aber das ist nicht nötig!«, schallte es von dort zurück.
Grace’ Blick blieb an einer gerahmten Photographie an der Wand hängen, und ihr Herz machte einen Sprung, als sie glaubte, Jeremy in Uniform darauf zu entdecken. Gleich darauf stellte Grace enttäuscht fest, dass er dem bärtigen Mann auf dem Bild nur sehr ähnlich sah. Mrs Danvers kam mit einem voll beladenen Tablett zurück, und hastig trat Grace von der Wand weg. »Entschuldigen Sie vielmals – ich wollte nicht neugierig sein!«
Jeremys Mutter stellte das Tablett ab und schmunzelte verhalten. »Das ist doch ganz verständlich, Miss Norbury. Ich fände es eher seltsam, wenn Sie hier wären, ohne zumindest ein bisschen neugierig zu sein. Hier, bitte – nehmen Sie es ruhig mit an den Tisch.« Sie löste das Bild von dem Haken in der Wand und reichte es Grace, die wieder Platz nahm. »Mein verstorbener Mann Matthew«, erklärte sie, während sie je ein Gedeck für Grace und sich hinstellte, Milchkännchen und Zuckerdose und eine Schale mit Gebäck, ihnen beiden einschenkte und sich setzte. »Das war kurz vor unserer Hochzeit und bevor er auf die Krim ging. Neunundzwanzig war er damals.«
Die beiden Frauen sahen sich kurz an, und jede wusste, was die andere dachte: Ungefähr so alt, wie Jeremy jetzt ist. Wäre. Ist?
Grace schluckte und vertiefte sich wieder in die Photographie. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht mit den Fingern über das Glas zu streichen. »Die Ähnlichkeit ist wirklich sehr groß. Das könnte auch ein Bild von Jeremy sein, wenn er sich einen Bart hätte stehen lassen.«
»Ja, das Walisische meines Mannes schlug bei Jeremy sehr deutlich durch. Haben Sie auch eine Photographie von Jeremy?«
Grace nickte. »Allerdings nur das Gruppenbild seiner Kompanie in Sandhurst.« Ihre Stimme bekam dabei eine Schwere wie unter einer zu großen Last. Stolz und ernst sah Jeremy darauf aus, umringt von seinen Freunden. Stephens empfindsames, für einen Offizier vielleicht fast zu zartes Gesicht. Leonards strahlende Miene, auch wenn er nicht ausdrücklich lächelte, und Roystons selbstbewusste Haltung. Und Simon, Simon, der verschmitzt in die Kamera schaute. Eine Erinnerung an so schöne, so unbeschwerte Tage, die das Leben längst weggefegt hatte. Grace spürte Mrs Danvers’ Blick auf sich.
»Es hat mich sehr betrübt, als ich von Ihnen erfahren habe, wie es Jeremys Freunden ergangen ist. Für Ihre Familie muss das alles sehr schrecklich sein.«
»Ja, das ist es auch.« Grace’ Worte waren kaum zu hören.
Jeremys Mutter nippte an ihrem Tee und schwieg. Dann kam es leise von ihr: »Nun muss ich Sie um Entschuldigung bitten für meine Neugierde, Miss Norbury ...«
»Bitte nennen Sie mich doch einfach Grace!«
Ein kleines, halbes Lächeln zeigte sich auf Mrs Danvers’ Zügen. »Grace.« Es war, als spürte sie den ausgesprochenen Lauten nach. »Ein wirklich schöner Name, er passt zu Ihnen. – Verzeihen Sie die neugierige Frage einer Mutter, Grace ... Sie und mein Sohn standen sich wohl sehr nahe?«
»Wir ...« Grace’ Kehle war wie zugeschnürt. Sie räusperte sich, damit sie weitersprechen konnte. »Wir hatten uns heimlich verlobt, bevor ... bevor er nach Chichester ging. Und als er mir aus Cairo schrieb, er sei zum Captain befördert worden – da«, sie stieß geräuschvoll den Atem aus, »da war ich so zuversichtlich, dass wir heiraten könnten, sobald er zurückkäme.« Sie ließ den Kopf hängen. »Ja, das hatte ich gehofft.« Ihre Hände zitterten so heftig, dass sie die Photographie auf den Tisch legte, bevor sie sie noch fallen ließ und das Glas zerbrach.
Die zwei steilen Falten zwischen den Brauen von Jeremys Mutter wurden tiefer. Schweigend trank sie ihren Tee und stellte die Tasse lautlos auf die Untertasse zurück. »Möchten Sie vielleicht sein Zimmer sehen?«
Grace zögerte, unsicher, ob sie das ertragen könnte, doch der Wunsch danach war stärker. »Das würde ich sehr gern. Wenn ich darf.«
»Natürlich. Kommen Sie.«
Es war gleich nebenan, ein schmaler Raum, kaum mehr als eine Kammer, spartanisch eingerichtet mit einem schmalen Bett links hinter der Tür, einem Kleiderschrank an der gegenüberliegenden Wand und einem Tisch mit einem Stuhl. Grace trat an den Tisch und betrachtete die Bücher auf dem einfachen Bord darüber, strich mit den Fingerspitzen über die Buchrücken. Waffenkunde. Militärstrategie. Armeegeschichte. Ein Handbuch über den Befestigungsbau und eine kurze Geschichte Großbritanniens. Eine Sammlung mit französischen Gedichten und eine mit englischen. Shakespeare. Sturmhöhe.
Ein Lächeln flackerte über Grace’ Züge. Ihre Augen wanderten weiter durch das Zimmer, erfassten die Aussicht durch das Fensterchen auf die Häuserzeile gegenüber, und sie lauschte dem Räderknirschen und dem Hufgeklapper, den Stimmen von der Straße her. Es tat weh, hier zu sein, weil dieser Raum so von Jeremys Wesen durchdrungen war, und gleichzeitig war es tröstlich, ihn hier zu spüren; eine zwiespältige, beinahe widersprüchliche Empfindung, die Grace ein halb wohliges, halb unangenehmes Kribbeln im Bauch verursachte. Sie wandte sich um und blieb vor dem Kleiderschrank stehen.
»Sie können ihn gern aufmachen, Grace – wenn Sie möchten.«
Langsam öffnete Grace die beiden Türen. Jeremys Geruch strömte ihr entgegen, der Geruch nach Sägespänen und nach Bienenwachs, und ihre Finger betasteten die Kleidungsstücke. Sein Frack – damals, auf Givons Grove. Der Anzug, den er an meinem einundzwanzigsten Geburtstag getragen hat. Das Jackett, das er mir im Gewitter auf Estreham um die Schultern legte, als er mich fragte, ob ich ...
Grace vergrub ihr Gesicht im Ärmel der Jacke. Sie konnte nicht genug bekommen von diesem Geruch, und ihre Knie gaben nach. Mrs Danvers nahm sie bei den Schultern und führte sie zum Bett, ließ sich neben Grace darauf nieder.
»Ich kann es einfach nicht verwinden«, stieß Grace hervor. »Jeder sagt mir, dass ich das muss. Genau wie meine Schwester es muss. Aber ich kann es nicht. Ich kann es einfach nicht. Und ich will es auch nicht!« Sie hob den Kopf. »Entschuldigung. Für Sie muss es noch viel schrecklicher sein.«
Ein winziges Lächeln schien auf dem Gesicht von Mrs Danvers auf. »Ich glaube nicht, dass man aufwiegen kann, für wen es schlimmer ist und für wen ein bisschen weniger.« Sie zögerte, dann legte sie ihre Hand auf Grace’ Wange. »Wissen Sie, was mir die ganze Zeit über ein Trost ist und mit jedem Brief von Ihnen mehr ein Trost wurde? Dass ich seit jenem Tag bei der Parade zumindest die Hoffnung hatte, dass es da tatsächlich eine Frau gibt, die mein Sohn liebt und die ihn wiederliebt. Und dass sein Vertrauen zu Ihnen so groß war, dass er Ihnen sogar einen Antrag gemacht hat ... Es stimmt mich froh, dass ihm das vergönnt war.« Jeremys Mutter verstummte für einen Augenblick, und sie zog ihre Hand wieder zurück. »Sie wissen vermutlich nicht allzu viel über meinen Sohn, nicht wahr?«
Über Grace’ Züge zuckte ein kleines Lächeln. »Nicht allzu viel, das ist richtig.« Aber genug. Es war genug.
»Ja, er war immer sehr verschlossen. Um ehrlich zu sein, ich hätte nicht geglaubt, dass er überhaupt je an Heirat denken würde. An Familie. Ich fürchte, daran sind wir schuld, seine Eltern. Oder vielmehr die Umstände, unter denen er aufgewachsen ist.«
Grace richtete sich auf und blickte Mrs Danvers direkt an. »Wie meinen Sie das?«
»Matthew«, die Stimme von Jeremys Mutter wurde weich, so wie ihre Augen, die über Grace’ Schulter in die Ferne wanderten, und für einen Moment glaubte Grace, einen Blick auf Mrs Danvers erhaschen zu können, als sie noch jung gewesen war, vielleicht in ihrem, Grace’, Alter. »Matthew war ein feiner Mann, als wir uns kennenlernten. Nicht unbedingt einer von der redseligen Sorte, aber durchaus lebenslustig. Humorvoll. Aufrichtig. Ich war ganz verrückt nach ihm und wusste sehr schnell, das ist der Mann, mit dem ich mein Leben verbringen will. Wir haben in aller Eile geheiratet, bevor er in den Krieg musste. Wissen Sie«, ihre Stirn zerfurchte sich, und sie strich energisch mit der linken Hand über den Rock; die linke Hand, die noch immer der Ehering zierte. »Ich habe es früher für eine Mär gehalten, wenn es hieß, Menschen seien verrückt geworden vor Schmerz. Aber es ist so: Menschen können den Verstand verlieren vor Schmerz. Mein Mann wurde im Krieg schwer verwundet und bekam dann Wundbrand. Um ihm das Leben zu retten, wurden ihm beide Beine und ein Arm abgenommen. Ohne Betäubungsmittel, weil es keine gab.« Grace entfuhr ein erstickter Laut. Ihre Finger schlossen sich um die Rechte von Jeremys Mutter, die den Händedruck erwiderte. »Matthew«, fuhr sie fort, und eine Träne lief über ihre Wange, »Matthew kam nicht nur als Invalide wieder nach Hause und war auf meine Hilfe angewiesen. Er war nicht mehr der Mann, den ich geheiratet hatte. Nicht einfach nur verändert – er war ... bitter. Bitter und böse. Anders kann ich es nicht sagen. Ich habe mich bemüht, ihn zu lieben, aber ich konnte es nicht. Ich konnte es einfach nicht, da war nichts Liebenswertes mehr an ihm, auch wenn ich ahnte, was er durchgemacht hatte, warum er so geworden war.« Ihre Hand zitterte, und sie wischte mit der Linken die Tränen von ihrer Wange.
Meine Mutter hat erfahren müssen, was der Krieg aus einem Menschen machen kann, erinnerte sich Grace an Jeremys Worte, damals, draußen am Polofeld, während in der Turnhalle von Sandhurst der Abschlussball in vollem Gange war. Der Mann, den sie vor dem Krieg geheiratet hatte, der ist auf der Krim geblieben. Zurück kam ein anderer. Erst jetzt, Jahre später, verstand sie wirklich, was er damit gemeint hatte, und ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie an Stephen dachte, der ebenfalls als Invalide, ebenfalls bitter und zynisch nach Hause zurückgekehrt war.
»Wahrscheinlich erwähnt man solche Dinge nicht gegenüber einer jungen Dame, doch ich finde, Sie haben ein Recht, das zu wissen. Trotz allem habe ich Matthews Drängen nachgegeben, als er wieder zurück war.« Grace brauchte einen kurzen Augenblick, um zu begreifen, worauf Mrs Danvers anspielte, und senkte verlegen den Blick. »So ist Jeremy entstanden. Das Beste, was mir in meinem Leben passiert ist.« Ein kleines Lächeln schien auf dem Gesicht von Mrs Danvers auf und verschwand sogleich wieder. »Wir haben damals auf dem Dorf gewohnt, auf dem Hof meiner Eltern und meines Bruders. Vielleicht können Sie sich das vorstellen: Ja, mein Mann galt als Held, aber trotzdem tut man als Invalide so etwas nicht. Man zeugt kein Kind, wenn man kriegsversehrt ist. Noch dazu so schwer.« Sie lachte trocken auf. »Nein, über diese Dinge, die hinter verschlossenen Türen geschehen, spricht man nicht. Aber natürlich weiß jeder sofort, was dem vorausgeht, wenn ein Kind unterwegs ist, und fällt darüber sein Urteil. Ich musste mir manches anhören, damals, und Jeremy später auch. Sie wissen ja, wie grausam Kinder sein können – und dass die Eltern oft nicht besser sind. Als wir hierher in die Stadt zogen, wurde es etwas leichter. Zumindest in dieser Hinsicht.«
Sie schluckte, ihre Brauen zogen sich zusammen, und ihre ganze Miene spannte sich an. »Aber wie erklärt man einem kleinen Jungen, dass es nicht an ihm liegt, wenn sein Vater ihn ablehnt und ihn von sich stößt? Wie erklärt man ihm, dass er sich nicht zu bemühen braucht, um die Liebe des Vaters zu bekommen – weil dieser Vater einfach keine Liebe mehr hat? Wenn der Junge klug ist, begreift sein Verstand es vielleicht irgendwann. Doch sein Herz – sein Herz wird es nie verstehen und immer darunter leiden.«
Für mich war es wahrscheinlich leichter, ich hab ihn ja nicht anders gekannt, hörte Grace Jeremys Stimme, aufgerauter als gewöhnlich, und neue Tränen liefen ihr über das Gesicht.
»Ich habe es dennoch nicht fertiggebracht, mich von Matthew zu trennen, Grace.« Bittend, fast entschuldigend sah Jeremys Mutter sie an. »Wo hätte er auch hinsollen? In ein Heim? Zu seinem Bruder und dessen Frau, die mit dem Laden und den drei Kindern mehr als genug zu tun hatten? Jeremy war sechzehn, als sein Vater starb – das Herz, wissen Sie. Nach langer Krankheit, die ihn nicht gerade milder stimmte. Und so grausam das auch klingt, sosehr ich mich auch schäme, das zu sagen: Für uns alle drei war es sicher eine Erleichterung. Für Jeremy und mich auf jeden Fall.«
»Das tut mir alles so leid«, flüsterte Grace und schloss Jeremys Mutter in die Arme. Es tat ihr im Herzen weh, die unterdrückten Schluchzer zu spüren, die Mrs Danvers’ Körper erschütterten; vor allem tat es ihr weh, da sie annahm, dass Mrs Danvers sich in all den Jahren kaum jemandem anvertraut hatte. Ebenso wenig wie Jeremy, vermutlich.
»Ich habe so oft gedacht, dass ich mich schwer versündigt habe an meinem Sohn«, hörte Grace sie neben ihrem Ohr murmeln. »Unter anderen Umständen wäre bestimmt ein anderer Mensch aus ihm geworden. Und vielleicht hätte er dann auch nicht unbedingt in die Armee gewollt.«
»Vielleicht«, erwiderte Grace ebenso leise. »Vielleicht aber auch nicht. Und ich selbst hätte ihn nicht anders haben wollen.«
Mrs Danvers gab einen Laut von sich, der halb wie ein Schluchzen klang, halb wie ein Auflachen. Sie löste sich aus Grace’ Umarmung, zog ein Taschentuch hervor und putzte sich die Nase. »Ich fürchte, ich muss Ihnen gegenüber Abbitte leisten, Grace. Ich bin damals nach der Abschlussfeier mit einem Bild von Ihnen nach Hause gefahren, das Ihnen ganz offensichtlich nicht gerecht wird, und ich habe mir eine Zeit lang durchaus so meine Gedanken gemacht, ob Sie tatsächlich zu Jeremy passen würden.«
Grace’ Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Das kann ich Ihnen nicht einmal verdenken. Jeremy ...« Sie schluckte hart. »Bei Jeremy hatte ich irgendwann das Gefühl, er sieht wesentlich mehr in mir als die meisten Menschen. Mehr als nur ein hübsches Gesicht. Als ob – als ob er mich besser kennen würde als ich mich selbst.«
Mrs Danvers streichelte Grace’ Wange. »Spätestens mit dem heutigen Tag hätte ich ihm meinen Segen gegeben. Von ganzem Herzen.« Ihre Brauen fuhren kurz hoch, und ihr Mund kräuselte sich. »Nicht dass er sich jemals durch ein Ja oder ein Nein meinerseits von irgendetwas hätte abhalten lassen.«
Grace lachte leise.
»Ich lasse Sie jetzt noch ein bisschen allein. Allein mit Jeremy.« Sie rieb liebevoll über Grace’ Hand und stand auf. Im Türrahmen drehte sie sich noch einmal um. »Möchten Sie vielleicht zum Abendessen bleiben?«
»Sehr gern, Mrs Danvers.«
»Sagen Sie ruhig Sarah zu mir.« Sie zögerte und fügte dann leise hinzu: »Und möchten Sie vielleicht heute Nacht hier schlafen anstatt in einer Pension? Hier«, sie deutete auf das Bett, »in diesem Zimmer?«
Grace blickte sie erschrocken an.
»Nur wenn Sie wollen, natürlich. Und keine Sorge, Sie nehmen mir dadurch nicht das Andenken an meinen Sohn.«
Grace sah sich um, sah auf das Bett, auf dem sie saß, legte ihre Hand auf die Zudecke und nickte schließlich. »Ja. Ich glaube, das würde ich sehr gern.«
»Ich lege Ihnen eine Decke und ein Kissen auf das Kanapee drüben. Falls Sie es heute Nacht hier doch nicht aushalten.«
»Danke, Sarah. Vielen Dank.«
Sarah Danvers wandte sich noch einmal um, als Grace leise ihren Namen rief.
»Sarah ... Glauben – glauben Sie, dass man es spürt, wenn einem geliebten Menschen etwas zustößt?«
Jeremys Mutter dachte kurz nach. »Das erzählt man sich immer, nicht wahr? Das ist auch eine sehr berührende Vorstellung.« Sie atmete tief durch und strich über die Taille ihres Kleides. »Vielleicht bin ich dafür zu wenig empfindsam oder habe nie genug geliebt – aber ich habe es nie gespürt. Weder als mein Mann im Krieg war noch jetzt bei Jeremy.«
Grace verschränkte die Finger im Schoß. »Ich glaube, das ist es, was meine Schwester langsam in den Wahnsinn treibt. Sie ist überzeugt, sie hätte es spüren müssen, als Simon ... als Simon starb, und jetzt fühlt sie sich schuldig, dass dem nicht so war. Denn obwohl dieser 17. Januar so großes Leid über uns alle gebracht hat, war es für uns ein ganz gewöhnlicher Tag. Bis wir eben die Nachricht erhielten.« Offen sah sie Sarah Danvers an. »Glauben Sie, dass Jeremy noch am Leben ist?«
Der Mund von Jeremys Mutter spannte sich an. »Das Ministerium hat mir mitgeteilt, dass seit Abu Klea vier Männer vermisst werden. Drei Soldaten und Jeremy. Mein Verstand sagt mir, dass sie tot sein müssen, denn wo sollten sie denn auch sonst geblieben sein? Aber tief in meinem Herzen – in meinem Herzen hoffe und bange ich weiter, auch wenn ich mir jeden Tag sage, dass es klüger wäre, damit aufzuhören.«
In dieser Nacht, auf dem knarzenden Bett mit den quietschenden Sprungfedern, das einmal Jeremys gewesen war, fand Grace keinen Schlaf. Sie hielt das Kissen umklammert, als wäre es Jeremy, und obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, es nicht mit ihren Tränen zu tränken, scheiterte sie daran, so nah fühlte sie sich ihm, und die Sehnsucht, der Schmerz waren fast unerträglich.
Als sich die Nacht zurückzog und sich das erste helle Morgenlicht über den spitzgiebeligen Leib der Kathedrale von Lincoln legte, hatte Grace einen Entschluss gefasst.
Gleichgültig ließ Grace auf der Rückfahrt die Landschaft an sich vorüberziehen. Mechanisch stieg sie in London aus, bewegte sich wie eine aufgezogene Gliederpuppe durch die Stadt und nach Waterloo, wo sie in den Zug der London & Southwestern Railway stieg, der sie wieder nach Süden brachte. Die sanften Landstriche von Surrey drangen kaum zu ihr durch, und sie nahm auch kaum wahr, als der Zug bei Weybridge hielt, danach über die Brücke ratterte, die sich über den Wey spannte.
»Guild-fooord! Nächster Halt Guild-fooord!«
Erst der Ruf des Schaffners ließ sie hochschrecken, und hastig griff sie nach ihrer Tasche und eilte auf den Gang hinaus.
»Danke sehr.« An der Hand des Schaffners stieg Grace die Eisenstufen hinab, auf den dampfverhüllten Bahnsteig vor dem Backsteinbau des Bahnhofs, blickte sich suchend zwischen den Menschen um.
»Grace!« Leonard kam winkend auf sie zugelaufen, umarmte sie zur Begrüßung.
»Hallo, Len. Danke, dass du mich abholst.«
»Keine Ursache.« Prüfend sah er sie an, und Grace lächelte schwach. Sie wusste, wie mitgenommen sie aussah, blass und mit bläulichen Schatten unter den verquollenen Augen. Der Spiegel im Badezimmer von Sarah Danvers hatte ihr am Morgen das ungeschönte Bild ihres Gesichts gezeigt.
»Wie war’s?«, erkundigte er sich betont beiläufig, als er ihr die Tasche abnahm und ihr den Arm bot, um sie zu der wartenden Kutsche zu begleiten.
»Ganz gut«, entgegnete Grace knapp, und sie stiegen ein.
Grace schwieg beharrlich, während sie über das Pflaster von Guildford holperten und durch die Sommerwiesen und die reifenden Felder ihrer Heimat fuhren, ganz versunken in ihre Gedanken, in ihren Plan. Was sie vorhatte, war nicht nur kühn, sondern geradezu waghalsig, wenn nicht gar wahnsinnig. Sie würde die Menschen, die ihr am liebsten waren, täuschen müssen und brutal vor den Kopf stoßen, und wahrscheinlich würden sie ihr das niemals verzeihen. Falls Grace überhaupt jemals zurückkehrte. Aber tun – tun musste sie es; sie sah keine andere Möglichkeit, wenn sie irgendwann einmal wieder ihren inneren Frieden finden, vielleicht ein neues Leben anfangen wollte. Und Leonard war der einzige Mensch, der ihr einfiel, den sie um Hilfe bitten konnte.
»Len«, ergriff sie schließlich hinter dem Dörfchen von Wonersh, eingebettet in sanfte grüne Hügel, die an saftige Polster aus Moos erinnerten, das Wort. Aufmerksam sah Leonard sie von seinem Platz gegenüber an. »Du hast mir einmal gesagt, du wolltest nur, dass ich glücklich bin. Dass du immer für mich da sein würdest, wenn ich dich brauche. Erinnerst du dich?«
Er lächelte. »Sicher doch! Am Abend der Verlobung von Royston und Sis auf Estreham. Nachdem du mich vor den Avancen von Myrtle und Myra gerettet hast.«
Grace ging auf seinen heiteren Tonfall nicht ein. »Kann ich dich um etwas bitten, Len?«
Er beugte sich vor und nahm ihre behandschuhten Hände in die seinen. »Alles, Grace, das weißt du doch.«
»Auch wenn«, ihre Brauen zogen sich zusammen, und sie schluckte, »auch wenn ich genau weiß, dass es zu viel verlangt ist und dass es dich und auch mich in große Gefahr bringen könnte?«
Seine Daumen rieben über ihre Handrücken. »Auch dann, Grace. Schieß los.«
Grace sah noch einige Herzschläge lang auf das grüne Surrey hinaus, dann wandte sie sich wieder zu Leonard hin. »Bring mich in den Sudan, Len. Nach Omdurman.«