Wo geliebte Menschen auf einen warteten

Eine Weile, bevor das Bergdorf in Sicht kam, blieb Arrow nachdenklichen Blickes stehen.

„Was ist?“, fragte Keylam, der sie besorgt musterte. „Noch wegen des Fenriswolfes?“

„Ich habe auf einmal so ein komisches Gefühl, aber ich kann es nicht beschreiben“, entgegnete sie nachdenklich. „Mir scheint, als hätte ich es früher schon einmal gehabt.“

Dann ertönte ein schriller Ruf in der Ferne, und als sie aufsah, wusste sie, was es bedeutete. „Whisper“, sagte sie lächelnd, und rannte einfach los.

Keylam wusste gar nicht, wie ihm geschah. Der Rappe galoppierte vollkommen ungehalten auf Arrow zu. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, seinen Schützling in diesem Leben noch einmal wiedersehen zu dürfen. Doch wie viel sie einander bedeuteten, zeigte sich erst, als sie aufeinander trafen. Arrow schlang ihre Arme um seinen Hals, und er wusste gar nicht, wie er seiner Freude Ausdruck verleihen konnte. Immerhin war er sehr viel größer und stärker als sie. Also musste er vorsichtig sein. Doch egal, wie er sich auch zurückhielt, der Perseide hatte das Gefühl, Berge ausreißen zu können. Und Arrow wollte ihn am liebsten gar nicht mehr loslassen. Sobald sie es dann doch endlich tat, stupste er seine weiche Nase ganz vorsichtig gegen ihren Bauch und begann zu wiehern.

„Ich glaube, er weiß es“, wandte sie sich an Keylam, dem ein bisschen mulmig zumute war, weil er gerade noch den kleinen Pex in seinen Armen hielt. Auch während Arrows Abwesenheit hatten sich die beiden nicht besonders gut verstanden. Und so zuckte Keylam zusammen, als Whisper – seine Augen auf den Polarfuchs gerichtet – auf sie zukam.

Gerade als er sich von dem Rappen abwenden wollte, rief Arrow: „Warte. Ich glaube nicht, dass er ihm etwas Böses will.“

Zögerlich ließ Keylam ihn gewähren, und genau, wie der Hengst vorher seinen Schützling angestupst hat, tat er es jetzt auch bei Pex.

„Das grenzt schon fast an ein Wunder“, bemerkte Keylam ungläubig. „Es ist keine zehn Tage her, da es so ausgesehen hat, dass sich die beiden irgendwann gegenseitig umbringen werden.“

„Aber da hat Whisper auch noch nicht gewusst, warum Pex ein Auge auf mich geworfen hat“, lachte sie. „Und jetzt, da ich es weiß, weiß er es auch.“

Verblüfft setzte Keylam den kleinen Perseiden ab und schlag seine Arme um Arrow. „Du bist gar nicht wiederzuerkennen“, sagte er wiederholt und fügte mit einem süffisanten Lächeln hinzu: „Manchmal frage ich mich, ob ich auch die richtige Frau mit nach Hause genommen habe.“

„Das hast du! Der einzige Unterschied zwischen mir unter alten Arrow ist, dass ich endlich meinen Frieden machen konnte.“

Endlich kam das Bergdorf in Sicht. Arrow war so aufgeregt, dass sie gar nicht wusste, ob sie laufen, gehen, weinen oder lachen sollte. Als sie dann endlich das Schloss erblickte, machte ihr Herz Freudensprünge.

„Anne!“, rief sie, als sie ihre Großmutter schon von weitem erblickte.

Erschrocken drehte sich die alte Frau nach ihr um. Tränen stiegen ihr in die Augen. „Ist das ein Traum?“, fragte sie mit zitternder Stimme und griff gerührt nach Sallys Hand.

„Wenn es so ist, dann wollen wir beide noch eine Weile schlafen“, antwortete die Köchin mit leuchtenden Augen und begann ebenfalls, vor Glück zu weinen.

Und bevor Anne sich versah, stürzte Arrow ihr auch schon in die Arme. Sally musste sich stark zurückhalten, um den beiden nicht dazwischen zu funken, denn auch sie wollte Arrow unbedingt begrüßen. Doch als es ihr dann irgendwann zu lange dauerte, schlang sie einfach ihre Arme um beide Frauen und stimmte in das freudige Wiedersehen mit ein.

„Lass dich anschauen“, bat ihre Großmutter und sah in Arrows strahlende Augen. „Du hast deinen Weg gemacht“, stellte sie überwältigt fest. „Und du hast dein Versprechen gehalten und bist zu mir zurückgekehrt. Oder nein ...“ Anne hielt inne und musterte sie genau. Dann lächelte sie plötzlich und wirkte dabei so glücklich, als hätte sie nie etwas Schöneres erlebt. „Nein, nicht die Arrow, die einst das Tor zur Unterwelt durchschritten hat, ist zu mir zurückgekehrt, sondern das unbeschwerte Mädchen aus Elm Tree.“

„Ich habe dich so sehr vermisst“, entgegnete Arrow und drückte ihre Großmutter, als würde es kein Morgen geben.

„Und was ist mit mir?“, fragte Sally überwältigt, woraufhin Arrow sich endlich von Anne lösen konnte und der Köchin eine ebenso beherzigte Umarmung schenkte.

„Arrow!“, hörte sie Neve auf einmal rufen und ihr Herz sprudelte förmlich über vor Glück. Jetzt konnte selbst sie die Tränen nicht länger zurückhalten und lief der Elfe aufgeregt entgegen. In dem Moment, da sie ihre Freundin in die Arme schloss, wurde ihr plötzlich bewusst, wie sehr sie das alles vermisst hatte.

„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr du mir gefehlt hast“, sagte Neve voller Erleichterung und löste sich aus der Umarmung. „Aber du siehst gar nicht aus wie jemand, der gerade erst aus der Unterwelt zurückgekehrt ist. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, ihr hättet irgendwo Urlaub gemacht“, witzelte sie. Dann erstarb ihr Lächeln, und sie schaute drein, als würde sie aus allen Wolken fallen. „Du erwartest ein Baby“, sagte die Elfe entgeistert.

Arrow musterte sie verwirrt. „Woher weißt du das?“

Ohne ihr auf diese Frage zu antworten, stürzte Neve ihr jubelnd in die Arme. „Das ist ja wundervoll! Dein Bruder wird völlig aus dem Häuschen sein, wenn er davon erfährt.“

„Wo finde ich ihn denn?“

Nur zögerlich löste sich Neve aus der Umarmung. „Arrow, ich weiß nicht, ob es gut ist, dir das zu sagen, doch Dewayne ist ziemlich sauer auf dich. Bevor du dich aufregst, solltest du deshalb lieber wissen, dass er dir womöglich mit Verärgerung begegnen könnte.“

Doch Arrow hörte kaum noch etwas von dem, was Neve ihr zu sagen hatte. Aus den Augenwinkeln hatte sie ihren Bruder bereits erblickt, und er machte tatsächlich einen ziemlich zurückhaltenden Eindruck. Aber das war Arrow egal. Sie freute sich, ihn wiederzusehen und stellte seine Empfindungen einfach hinten an.

Keinen einzigen Schritt ging er auf seine Schwester zu. Auch lächelte er nicht oder breitete seine Arme aus. Eigentlich wirkte er ziemlich finster. Wäre sie nicht mit ihm zusammen aufgewachsen und würde sie ihn daher nicht ebenso gut kennen, wie sie sich selbst kannte, wäre sie auch zurückgeschreckt. Da jedoch weder das Eine noch das Andere zutraf, konnte er ihr auch keine Angst einjagen. Nicht im Traum würde sie daran denken, sich von ihm einschüchtern zu lassen. Wenn es nach ihr ginge, konnte er gern auf sie wütend sein. Früher oder später würde er ihr sowieso vergeben, aber darauf wollte sie nicht warten.

„Dewayne!“, rief sie strahlend und schlang ihre Arme um ihn. Wenngleich er diese Umarmung in keiner Weise erwiderte, konnte es nicht ihre Freude trüben. „Ich habe dich so sehr vermisst, das kannst du dir gar nicht vorstellen.“

Und plötzlich verwandelte sich der standhafte Baum von einem Elfen in einen dünnen Zweig und brach in ihren Armen förmlich zusammen. „Tu mir so etwas bitte nie wieder an“, schluchzte er.

Nachdem das Wiedersehen mit ihrer Familie so wunderbar verlaufen war, stand ihr nun der schwierigste Teil ihrer Rückkehr bevor.

Zwischen den vielen bunten Hochbeeten hatte sie Adam kaum ausmachen können. Nach ihm rufen wollte sie nicht, denn auf eine gewisse Art und Weise empfand sie es als unpassend.

„Hallo“, begrüßte sie ihn zaghaft, während er gerade einige Kräuter erntete.

Als er Arrow erblickte, brach er plötzlich in Tränen aus, und es brach ihr fast das Herz, ihn so sehen zu müssen. Zweifellos war er erfreut, seine liebe Freundin endlich wiederzusehen, doch Harolds Verschwinden hatte seine Spuren bei ihm hinterlassen.

Für einen Moment fragte sie sich, was wohl schwerer zu ertragen war – eigenes Leid oder der Schmerz, einen geliebten Menschen derart unglücklich zu sehen? Vermutlich war beides nicht einfach. Es unterschied sich nur in der Art der Trauer.

Liebevoll nahm sie Adam in den Arm und setzte sich anschließend mit ihm auf eine der vielen Gartenbänke. Er weinte so bitterlich, dass sie gar nicht wusste, wie sie ihm helfen konnte. Immer wieder strich sie ihm sanft über den Kopf, während er sich an Arrow klammerte, wie an einen rettenden Ast, der ihn aus dem Moor helfen sollte, in dem er gerade zu versinken drohte.

Sobald sie das Gefühl hatte, dass er sich langsam beruhigte, erzählte sie ihm, was in der Unterwelt geschehen war. Sie berichtete, wie Harold sie auf ihrem Weg begleitet, und dass er ihr in jeder Hinsicht das Leben gerettet hatte. Was sie nicht erwähnte, war der Grund, warum er ihr gefolgt war. Auf der einen Seite hätte es die ganze Sache nur noch schwerer gemacht. Und auf der anderen Seite würde Adam vielleicht nur an Harolds Gefühlen ihm gegenüber zweifeln, und damit würde er ihm Unrecht tun. Natürlich hatte er sich letzten Endes für Darren entschieden. Diese Entscheidung war ihm jedoch zweifellos nicht leicht gefallen. Das hatte sie in seinen Augen gesehen. Adam hatte Harold glücklich und damit sein Leben wieder lebenswert gemacht. Jeder wusste das, denn es war nicht zu übersehen gewesen.

Was sie Adam aber nicht vorenthielt, war die Tatsache, dass Harold mit ihrem Kuss auch gleichzeitig zu ihrer Muse geworden war und er seinen rechtmäßigen Platz somit wieder hatte einnehmen können.

Auf Adams Frage, ob er Harold je wieder sehen würde, antwortete sie: „Ich glaube nicht, dass die Musen ihm erlauben werden, zu uns zurückzukehren. Hier hat damals alles angefangen. Zweifellos wird es auch ihm das Herz brechen, doch er wird seinen Weg machen. Da bin ich mir sicher. Aber ich denke, dass er dann und wann seine Fühler ausstrecken wird, um hier nach dem Rechten zu sehen. Vor allem wird er nach dir schauen, denn du hast ihm viel bedeutet und er wünscht sich nichts sehnlicher, als dass du glücklich wirst.“

„Denkst du, dass dies die Wahrheit ist?“, fragte Adam schluchzend. „Dass ich ihm wirklich etwas bedeutet habe?“

„Ich weiß, dass es so ist, denn er hat es mir selbst gesagt.“ Mitfühlend gab sie Adam einen Kuss auf die Stirn.

„Und warum war ihm diese Sache dann wichtiger als ich?“

„Vielleicht kann man es mit der Situation vergleichen, in der du damals gewesen bist, als du die Menschenwelt verlassen hast. Dort hattest du auch Familie und Menschen, die dich geliebt haben ... Wenngleich einige von ihnen eine seltsame Art hatten, das zum Ausdruck zu bringen ... Trotzdem konntest du nicht länger leugnen, was du bist und wie du empfindest. Deshalb musstest du dich eines Tages entscheiden. Und weil ich dich kenne, weiß ich genau, dass es dir damals nicht leicht gefallen ist, und dass du deine Lieben noch immer genauso vermisst, wie Harold uns vermissen wird.“

„Aber anders ist es schon“, entgegnete er melancholisch. „In der Menschenwelt hat mich niemand so sehr geliebt, wie ich Harold hier geliebt habe.“

„Doch, mein Herz“, widersprach Arrow tröstend. „Deine Schwester hat dich sehr geliebt. Sie hat dich nur nicht so akzeptiert, wie du bist. Das Eine schließt das Andere nicht unbedingt aus.“

Obwohl es überhaupt nicht Arrows Art war, schämte sie sich kein bisschen für die Lüge, die sie ihm hinsichtlich Harolds Rückkehr aufgetischt hatte. Zwar hätte Adam die Wahrheit verdient, doch nicht die Schmerzen, die damit verbunden waren. Und als ihr das klar wurde, stellte sie überrascht fest, dass es sich manchmal doch als ratsam erwies, jemandem gewisse Dinge vorzuenthalten, um ihn zu schützen, so wie Anne, Melchior und Dewayne es einst bei ihr getan hatten. In diesem Moment machte sie ihren Frieden mit den Dingen, die geschehen waren, und den Erfahrungen, die sie lieber nicht hätte machen wollen. Jetzt war es, wie es war, und alles erschien in einem ganz anderen Licht, wenn man begriff, dass der Beweggrund für diese Handlungen kein anderer als Liebe war. Und war es nicht genau das, was einen wirklich am Leben sein lassen ließ? Von Anderen geliebt zu werden und es gleichermaßen zurück zu geben?

„Dann bin ich jetzt also wieder allein“, flüsterte Adam betrübt.

„Nein“, widersprach Arrow bestimmt und zugleich liebevoll. „Du hast uns, und wir lieben dich genau so, wie du bist. Du bist ein Teil unserer Familie und eines Tages wird das Glück dich finden. Denn es hat eine Schwäche für so wundervolle Menschen, wie du es bist.“

Dankbar schlang er seine Arme um sie. „Auch wenn ich mich nicht an eine gemeinsame Kindheit mit dir erinnern kann, war deine Rückkehr das Beste, was mir je passieren konnte.“

Arrow lächelte. „Das sagst du nur, weil du nicht mehr weißt, wie glücklich du und die anderen Freunde aus Elm Tree mich damals gemacht haben. Mit euch hatte ich eine Kindheit, wie sie schöner nicht hätte sein können ... So gesehen hast du mich zuerst gerettet und allein dieser Tatsache ist es geschuldet, dass ich dich retten konnte.“

Als Arrow später zu den Zwergen ging, waren diese ebenso erfreut über ihre Rückkehr wie ihre Familie. Allerdings kam sie bei ihnen nicht so leicht davon. Bon hielt sich zwar überwiegend zurück, doch besonders von Smitt musste sie viel wegstecken. Er machte ihr Vorwürfe, selbstsüchtig gehandelt und keine Rücksicht auf diejenigen genommen zu haben, die sie zurückgelassen hatte. Zwar versuchte er, es so hinzustellen, dass die Zwerge überwiegend deshalb gekränkt waren, weil sie dieses Abenteuer nicht hatten miterleben dürfen. Doch Arrow nahm sich einmal mehr das Selbstvertrauen heraus, ihre Enttäuschung der großen Sorge um sie zuzuschreiben. Natürlich verlor sie über diese Ansicht kein einziges Wort, doch sie ließ die Vorwürfe geduldig über sich ergehen, denn sie hatte die Botschaft verstanden.

Besserung gelobend entschuldigte sie sich und erzählte ihnen anschließend, dass es keine andere Möglichkeit gegeben hatte, die Unterwelt zu betreten, da allein ihr als Bittstellerin der Zutritt gewährt worden sei.

Schuldbewusste Blicke schlichen von einem Zwerg zum anderen, denn unter diesem Aspekt tat es ihnen leid, so hart mit ihr ins Gericht gegangen zu sein. Aber die ganze Sache war auch schon wieder vergessen, als sie alle nach Einbruch der Dunkelheit in die Bibliothek gingen, um Arrows Rückkehr zu feiern. Und als sie von ihrer Schwangerschaft berichtete, wurde gleich darauf getrunken. Nachdem Arrow jedoch die gesammelten Schmotz-Werke hervorkramte und erzählte, dass sie die Bücher der Weltenbibliothek spenden würde, wurde die Schwangerschaft uninteressant und die Zwerge tranken den ganzen Abend über nur noch darauf. Niemand hatte diese Beleidigung an die Poesie je im Schloss haben wollen.

Anne hatte ein wenig zögerlich auf die Nachricht, dass Arrow und Keylam in freudiger Erwartung waren, reagiert. Beinahe hatte Arrow den Eindruck, dass es ihre Großmutter erschrocken hatte. Doch schnell fing sich die alte Frau wieder und schloss ihre Enkelin freudig in die Arme. Allerdings trat Arrows Verwirrung darüber schnell in Vergessenheit, als sie nach Harolds Verbleib gefragt wurde.

In einem ruhigen Moment erzählte sie allen von ihren Erlebnissen in der Unterwelt und was mit ihrer Muse geschehen war. Dass es Sally beinahe genauso mitnehmen würde wie Adam, hätte sie allerdings nicht erwartet. Natürlich hatte die Köchin seinerzeit die dunklen und grauenvollen Machenschaften der Musen hautnah mitbekommen. Nach den Ereignissen hatte sie sich um Harold gekümmert und fühlte sich mit der Zeit gleichermaßen mit ihm verbunden, wie es sonst nur Geschwister taten. Zwar gönnte sie ihm seinen Neustart von ganzem Herzen, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass sie ihn schrecklich vermissen würde. Aber wie es aussah, hatte Adam die Lücke, die Harold seit seinem Verschwinden bei Sally hinterlassen hatte, jeden Tag ein bisschen mehr gefüllt. Denn nachdem Adam nur noch ein Häufchen Elend war, hatte sie sich seiner angenommen. Arrow fiel ein Stein vom Herzen, denn so hatte Sally jemanden, um den sie sich sorgen konnte und Adam jemanden, der ganz für ihn da war. Im Moment war das genau das Richtige für beide.

Die Wahrheit über Harolds Beweggründe hatte sie letzten Endes jedoch niemandem erzählt. Sally gegenüber hatte ihr das schon ein schlechtes Gewissen bereitet, denn sie hätte sich für ihn und Darren gefreut. Doch dann wäre es ihr in einem unbedachten Moment vielleicht herausgerutscht, und das wollte Arrow Adam zuliebe nicht riskieren. Wenn sie schon log, dann wenigstens richtig.

Sogar Keylam gegenüber hatte sie immer Stillschweigen bewahrt. Erst viele Monate später, als sie ihn in einem gedankenlosen Augenblick gebeten hatte, ihr etwas von Darren zu erzählen, war auch ihm bewusst geworden, dass Harold endlich das Glück bekommen hatte, welches ihm all die Jahre versagt geblieben war. Zwar hatte Keylam nicht danach gefragt und Arrow hatte auch zu diesem Zeitpunkt kein Wort verloren, doch er hatte das Leuchten in ihren Augen trotzdem zu deuten gewusst.

Arrow vermisste ihre Muse ebenso wie der Rest ihrer Familie. Es verging kaum ein Tag, an dem sie nicht an ihn dachte. Auf der Reise mit ihm hatte sie nicht nur Keylam und ihren Vater, sondern auch sich selbst wiedergefunden. Seitdem wuchs sie jeden Tag ein bisschen mehr über sich hinaus. Gleich am Tag nach ihrer Rückkehr hatte sie wieder mit dem Malen begonnen. Aber dieses Mal war es anders, denn sie restaurierte keines der alten Bilder, sondern brachte ihre erste eigene Kreation auf eine der noch unbemalten Wände. Als Dewayne das Kunstwerk erblickte, stockte ihm der Atem. Denn obwohl er sich sicher war, die blonde Elfenfrau mit den Libellen im Haar noch nie zuvor gesehen zu haben, war er wie verzaubert von ihrem Anblick

„Wer ist das?“, hatte Neve gefragt, die ihren Mann gar nicht mehr davon losreißen konnte.

Ehrfürchtig trat Arrow einen Schritt zurück und stellte voller Begeisterung fest, wie gut sie die Elfe getroffen hatte. Dann antwortete sie: „Nelabat Silencia.“

Dewayne fiel aus allen Wolken, und Neve fragte ihn verwundert: „Hattest du nicht gesagt, dass keine Gemälde von ihr existieren und sich heute niemand mehr daran erinnern könnte, wie sie einst ausgesehen hat?“

„Wo hast du sie gesehen?“, fragte Dewanye seine Schwester entgeistert, ohne auf die Frage seiner Frau einzugehen.

„In den Erinnerungen unseres Vaters“, entgegnete sie lächelnd. „In dem kurzen Moment unserer letzten Begegnung war sie das liebevollste und stärkste, das seinem Herzen entsprungen war.“

Was sie allerdings nicht mehr ganz so lustig fand, war Smitts schockierter Gesichtsausdruck, als er Arrow mit dem Pinsel in der Hand erblickte. „Eine Reise ins Jenseits und sie schnappt gleich über! Der tattrige, alte Griesgram hat dir doch damals schon bescheinigt, dass du zum Malen kaum Talent hast. Das Einzige, was du noch schlechter kannst, ist kochen. Tu uns allen den Gefallen und lass die Finger von den Farben. Das Fräulein, das Keylam da auf die Wand gezaubert hat, sieht hübsch aus, wie sie ist!“

„Aber Keylam hat keinen einzigen Strich getan“, gab Neve belehrend zurück. „Das war von Anfang bis Ende Arrows Werk.“

Smitt schluckte, und Bon kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

„Himmel, Arsch und Zwirn“, stieß das Zwergenoberhaupt ungehalten aus. „Erst lobt sie Harold in den höchsten Tönen, dann grinst sie nur noch ununterbrochen, und jetzt ist aus ihr über Nacht eine wahre Künstlerin geworden. Bist du sicher, dass du die richtige Frau aus der Unterwelt zurückgebracht hast?“, wandte er sich am Keylam.

„Du ahnst gar nicht, wie froh ich bin, dass du mir diese Frage stellst“, gab Keylam gespielt erleichtert zurück. „Ich war auch schon am zweifeln...“

„Sie ist die Richtige“, entgegnete Dewayne gerührt. „Zwar ist sie nicht mehr diejenige, die damals das Tor zur Unterwelt durchschritten hat, doch sie ist die Schwester, mit der ich einst zusammen aufgewachsen bin.“

In einem ruhigen Moment setzte Arrow sich in das Turmzimmer und verfasste einen kurzen Brief an Shoes und seine Frau, der mit den Schmotzbüchern zusammen auf die Reise gehen sollte. Ihm fügte sie die Phönixfeder hinzu, die sie unter der Glasglocke bei den Sieben Todsünden gefunden hatte. Dieser Feder hatte sie es zu verdanken, dass Keylam sie am Ort des Vergessens gefunden hatte, denn sie hatte dieses ganz persönliche Andenken an ihn und Urban die ganze Zeit über bei sich getragen. Somit war es für Keylam ein Leichtes gewesen, sie ausfindig zu machen.

Shoes Sammlung wäre damit vollständig, doch vor allem war die Feder bei ihm sicher. Arrow vertraute dem Gnom und seiner Frau. Sollte Keylam jemals etwas Ähnliches zustoßen, so würde sie ihn anhand dieses Nachlasses schneller ausfindig machen können. Natürlich wäre es eine weite Reise bis zur Weltenbibliothek, doch dort würde sie niemand vermuten. Sehr viel fataler wäre es, sie dort aufzubewahren, wo ein jeder sie sofort mit ihrem Besitzer in Zusammenhang bringen würde. Im Dryadenwald wäre die Wahrscheinlichkeit weitaus geringer.

Als Arrow das Turmzimmer wieder verlassen wollte und ihr Blick dabei auf ihre Seite des Bettes fiel, stellte sie überrascht fest, dass dort ein Brief für sie lag. Dabei war sie ganz sicher, dass er gerade eben noch nicht da gewesen war.

Neugierig entfaltete sie das Papier. Weder ein Name noch sonstige persönliche Worte deuteten auf den Verfasser hin. Trotzdem stockte ihr der Atem, denn das Gedicht, das dort geschrieben stand, ließ keinen Zweifel an seinem Absender.

Die Nacht und der Morgen

Schleichend zieht er seine Bahnen

und folget immerdar der schönen Nacht.

Ein Mensch allein kann nur erahnen,

wie lang der Mond ihres Angesichts wacht.

Sanft streichelt er den Tau vom Grün

und kostet leidend seiner Liebsten Tränen,

zerbricht beinahe unter Sehnsuchtsglühen,

still lauscht die Welt nach seinem Sehnen.

Und bin auch ich wie die rastlose Nacht,

die ständig wandelt auf den Spuren des Abends.

Nehme hin, wie traurig es ihn macht

den Blick zurück nicht wagend.

So reisen wir auf ewig allein,

auf Wegen, die niemals zum Ziel uns bringen.

Haben nicht den Mut uns zu befrei'n,

werden stets mit uns selbst nur ringen.

Doch der Tag mag einst kommen,

da ich verlasse die einsamen Pfade.

Raste, bis ich neue Kraft gewonnen

und mich fortan in des Morgens Dämmerung bade.

Arrow hielt inne. William hatte über die Nacht und den Morgen gesprochen, kurz bevor er verschwunden war.

„Einen Moment lang hat die schöne Nacht ihren Pfad auf den Spuren des Abends verlassen und sich dem Morgen zugewandt. Hätte es in meiner Macht gelegen, so wäre ich dir auf ewig gefolgt.“

Arrow wusste, was dieses Gedicht zu bedeuten hatte. Es ging dabei um die Zukunft und die Vergangenheit. Während die Nacht ständig nur dem bereits vergangenen Abend hinterherlief, nahm sie keinerlei Notiz vom zukünftigen Morgen, der sich unsterblich in sie verliebt hatte und ihr deshalb schon so lange folgte. Und wie sie es in Williams Gedanken gesehen hatte, betrachtete er sich selbst als den Morgen, während sie die Nacht war.

Wehmütig und erleichtert zugleich drückte sie das Papier an ihr Herz. Er lebte also. Harold hatte sie nicht im Stich gelassen. Er hatte ihr ihren Wunsch erfüllt und dafür gesorgt, dass William nicht an den Folgen ihrer Entscheidung gestorben war. Vermutlich war er sogar jetzt gerade bei ihr und beobachtete sie. Der Gedanke daran entlockte ihr ein Lächeln. Zärtlich küsste sie den Brief und verbrannte ihn anschließend in einer Schale. Die Asche häufte sie zusammen und pustete sie dann schweren Herzens aus dem Fenster, wo sie von dem zarten Frühlingswind davon getragen wurde.

„Keylam mag meine Vergangenheit sein“, flüsterte sie melancholisch, „doch er ist auch meine Zukunft. Er ist sowohl Abend als auch Morgen für mich.“

Viele Jahre stellte sie sich noch die Frage, ob William sie entgegen seiner Natur vielleicht doch geliebt hatte. Irgendwann verschwanden die Gedanken daran, und zurück blieb einzig die Erinnerung an einen Freund, der sie auf dem schwersten Weg ihres Lebens begleitet hatte.

Frühlingserwachen
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