Zum Morgenroten Meer

Während Shoes ein Lunchpaket für sie zubereitete, packte Arrow ihre Habseligkeiten zusammen. Das Buch von Charles Dickens stellte sie etwas wehmütig an seinen Platz zurück. Als sie sich am Empfangsbuch wieder austragen wollte, war die Überraschung groß, denn das war bereits erledigt, und hinter ihrem Namen stand der Vermerk: „Mit Charles Dickens‘ Weihnachtsgeschichten als Geschenk“. Freudig drehte sie sich zu Shoes um, der ihr bereits das Buch entgegenstreckte.

„Es hat dich so weit gebracht und soll dich an all das erinnern, was du hier gelernt hast, und irgendwann vielleicht im Begriff sein wirst zu vergessen.“

Von dieser netten Geste überwältigt, schloss Arrow den kleinen Gnom dankbar in ihre Arme. Noch nie war ihr ein Abschied so schwer gefallen. In der Weltenbibliothek hatte sie sich so wohl und behütet gefühlt. Dort hatte sie die ganze Welt aussperren und ihre eigene, innere Welt für sich selbst öffnen können. Denn sobald sie an den Nachtwind dachte, verselbstständigte sich ihre Fantasie dermaßen, dass sie von dem Gefühl übermannt wurde, alles erreichen zu können. Die Fähigkeit zum Tagträumen hatte sie schon in ihren frühesten Kindertagen besessen und nach langer Abwesenheit war diese Eigenschaft nun endlich wieder zu ihr zurückgekehrt.

„Was soll ich nur ohne euch machen?“, schluchzte sie berührt und konnte ihre Tränen nicht länger unterdrücken.

„Komm uns bald wieder besuchen“, bat Shoes und seine Frau nickte. „Und vergiss uns nicht.“

„Das werde ich nicht – niemals“, entgegnete sie und erwiderte das strahlende Lächeln der Dryade, die ihr ein kleines Päckchen reichte.

„Ach ja“, rief der Gnom und machte dabei ein Gesicht, als fiele er aus allen Wolken. „Das hätte ich beinahe vergessen.“ Behutsam wickelte er das Päckchen aus. „Die hier wirst du brauchen. Das sind die Häuser einer Zwillingsschnecke. Sobald du in das Morgenrote Meer eintauchst, musst du die Öffnung einer der beiden Schneckenhäuser über Mund und Nase stülpen, während du das andere an Land zurücklässt. Achte unbedingt darauf, dass es dort an einem sicheren Ort verstaut ist. Seine Öffnung muss dabei nach oben zeigen, dadurch wirst du die Luft bekommen, die du unter Wasser zum Atmen benötigst. Die Häuser funktionieren wie ein verlängerter Schnorchel, und sobald in dem Haus an der Oberfläche nicht mehr ausreichend Sauerstoff einströmt, wirst du unter Wasser nach Atem ringen.“

„Meine Güte“, erwiderte Arrow begeistert, „ihr beide denkt wohl an alles.“ Die Schneckenhäuser verstaute sie sicher in ihrer Tasche und verabschiedete sich noch einmal von ihren neuen Freunden. Beinahe wäre sie aus den Latschen gekippt, als die Dryade ihr plötzlich „Pass gut auf dich auf“ ins Ohr flüsterte. Arrow hatte die Worte genau verstanden, obwohl das Flüstern viel mehr wie das Rauschen des Windes zwischen den Blättern einer Baumkrone geklungen hatte.

Shoes konnte sich ob Arrows entgeisterten Gesichtsausdrucks um ein Haar nicht mehr einkriegen und krümmte sich vor Lachen.

„Hattest du nicht gesagt, dass sie nicht sprechen können?“, fragte Arrow verblüfft.

Der Gnom nickte. „Verrate es keinem.“

Der Auszug aus der Weltenbibliothek war weitaus angenehmer als der Einzug. Denn es schnellte kein hölzerner Arm aus der Wand und katapultierte sie mit einem Ruck auf die andere Seite. Stattdessen reichte die Dryade ihr die Hand, und bevor Arrow sich versah, stand sie auch schon draußen.

Ihre erste Amtshandlung bestand darin, Whisper aus dem Medaillon zu befreien. Er machte gar nicht den Eindruck eines Pferdes, das schon viele Tage keinen Auslauf mehr bekommen hatte. Der Rappe wirkte ruhig und ausgeglichen. Sein Fell glänzte gesund und seine Augen leuchteten.

Zu ihrer Überraschung bekam sie auch schnell wieder Gesellschaft von dem Dryadenmann, der sie bei ihrer Ankunft zur Weltenbibliothek gebracht hatte. Wortlos, aber lächelnd begrüßte sie ihn und ließ sich eine Weile von ihm durch den Wald begleiten. Dieses Mal waren ihr die vielen Beobachter hinter, aus und auf den Bäumen nicht verborgen geblieben. Es war ein großer Abschied, vor allem weil sie nicht wusste, ob sie lachen oder weinen sollte. Auf der einen Seite war sie erleichtert, ihrem Ziel endlich ein Stück näher gekommen zu sein. Auf der anderen Seite vermisste sie ihre neu gewonnenen Freunde schon jetzt. Auch wenn sie nicht jede Dryade persönlich kannte, hatte sie dieses Volk in ihr Herz geschlossen.

Wehmut breitete sich in ihrem Gemüt aus. Nicht wissend, ob es die Sache einfacher machen würde, wenn sie einfach losliefe, schluckte sie die Traurigkeit hinunter und sperrte ihre Gedanken fort. Allein dieser Augenblick war hier und jetzt noch wichtig – die Sonne, deren Strahlen sanft ihre Wangen küssten, der Schnee, welcher funkelnd das Gras unter seiner Decke schlafen ließ. Vögel zwitscherten in den Bäumen und alles wirkte so friedlich und verträumt. Denn niemand wusste zu diesem Zeitpunkt, dass dieser Welt ein erneuter, nicht enden wollender Winter bevorstand. Sie alle waren zuversichtlich und sollten es auch bleiben.

Obwohl sie es so aussehen gelassen hatte, war Arrow nicht entgangen, dass der Dryade schon lange nicht mehr neben ihr wanderte. Er konnte sich nicht allzu weit von seinem Baum entfernen, und so war er einfach irgendwann stehen geblieben, während sie mit Whisper weitergegangen war. Nie hätte sie erwartet, dass ihr ein Abschied so schwer fallen würde. Bei den Dryaden hatte sie etwas gefunden, das schon lange auf der Suche nach ihr war, und gleichzeitig etwas zurückgelassen, dessen Verlust sie so unendlich traurig machte. Aber vermutlich ging das eine ohne das andere nicht. Trotzdem spürte sie seine betrübten Blicke noch lange auf ihrem Rücken. In der Hoffnung, sich ablenken zu können, saß sie irgendwann auf ihrem großen Rappen auf und ließ sich in Windes Eile von ihm fortbringen. Die frische Luft tat ihr gut, und wenngleich der klirrend kalte Wind in ihre Wangen biss, genoss sie den Ritt. Obwohl der Perseide all die Zeit ganz nah bei ihr gewesen war, hatte sie ihn dennoch vermisst. Es war ein langer Weg gewesen, bis sie Whisper endlich als einen Teil ihrer Selbst hatte anerkennen können. Anfangs hatte sie in ihm nur einen Wärter sehen können, der dafür zuständig gewesen war, sie zu bestrafen, sobald sie die ihr auferlegten Grenzen überschritt. Seine Gegenwart war ihr unangenehm gewesen, ihn zu streicheln hatte sie große Überwindung gekostet – bedeutete diese Geste doch etwas Liebevolles. Zwar hatte sie stets das Gefühl gehabt, ihm mit ihrer abweisenden Art Unrecht getan zu haben, diese Empfindungen zu verwerfen, war jedoch ebenso schwer zu bewältigen gewesen. Inzwischen gehörte das alles der Vergangenheit an. Sie sah in ihm nicht länger den Feind, der sie in ihrer Freiheit einschränkte, sondern einen engen Freund, mit dessen Hilfe sie imstande war, Unmögliches möglich zu machen. Der Perseide gab Arrow Sicherheit, indem er ihr Flügel verlieh.

Völlig in Gedanken versunken, hatte sie gar nicht bemerkt, dass sich um sie herum gar kein Schnee mehr befand. Der Himmel war klar an jenem Tag.

Überall war es grün, die Vögel zwitscherten in den Bäumen und hinter den Grasbüscheln lugten lange Hasenohren hervor. Als sie sich ihrem Ziel näherten, wurde Whisper langsamer. Verwundert sprang Arrow von seinem Rücken und studierte abermals die Karte. Stirnrunzelnd sah sie sich um. Kleine Wäldchen befanden sich zu den Seiten – das eine näher, das andere in weiter Ferne. Dazwischen wucherte eine saftige Wiese wild und grün und satt genug, um die Rinder der angrenzenden Heimatdörfer in den Bergen über einen Winter kriegen zu können.

Entnervt setzte Arrow sich ins Gras und prüfte immer und immer wieder, an welchem Punkt sie wohl die falsche Richtung eingeschlagen haben könnte. Die Karte sollte eindeutig zum Morgenroten Meer führen. Und ein Meer war ja kein See – den man im Übrigen auch nicht so leicht hätte übersehen können. Mit etwas Glück hätte sie in dieser Gegend bestenfalls einen Teich oder nur einen Tümpel finden können.

Je länger Arrow auf ihrem Sitzplatz verharrte, desto stärker wurde sie von der Sonne gewärmt. Bald schon musste sie ihren Mantel ablegen. Und endlich erkannte sie die frühlingshafte Landschaft um sich herum. Aber wie konnte das sein? Es war doch Winter und Dewayne hatte selbst gesagt, dass er den Frühling nicht ohne Keylams Rückkehr einleiten konnte.

Während sie überlegte, ob sich ihre Probleme in der Zwischenzeit wohl von selbst erledigt hatten, erblickte sie eine kleine Pfütze zwischen den Grasbüscheln. Viel mehr war es nicht, und würde man es als Teich bezeichnen, so würde man eine Maus mit einer Kuh vergleichen. Doch das bisschen Wasser kam ihr gerade recht, um sich eine kleine Abkühlung zu verschaffen.

Schon allein die Hände in das klare Nass zu tauchen, verschaffte ihr eine angenehme Frische. Wirklich kühl war es allerdings nicht, sondern eher angenehm warm. Auf der Haut kitzelten die Wassertropfen so erholsam, dass es Arrow regelrecht nach dem frischen Wasser dürstete. Doch als sie danach schöpfte und die Flüssigkeit ihren Mund berührte, spie sie es in hohem Bogen wieder aus. Es schmeckte wie flüssiges Salz, und dieser Geschmack war so unerwartet, dass sie sich schüttelte. Eilig griff Arrow nach der Satteltasche und trank von dem Wasser, das sie noch in der Weltenbibliothek abgefüllt hatte. Es stillte ihren Durst, doch der salzige Geschmack war damit nicht wegzuwaschen. Die Sache hatte aber auch ihr Gutes – Arrows Neugierde war geweckt. Eilig zog sie ihre Stiefel aus, band sie Whisper an den Sattel und setzte sich erneut ins Gras. Gespannt rückte sie näher an die Pfütze heran und hielt ihre Füße hinein, die in dem Wasser nach Grund tasteten. Aber sie musste immer dichter an den Rand rücken, und bald verschwanden ihre Beine völlig in dem salzigen Nass.

Ohne darüber nachzudenken, was da unten auf sie lauern könnte, ließ sie ihren Körper vor den Augen des völlig verdutzten Perseiden in die Pfütze gleiten.

Sobald Arrow ihre Augen öffnete, war ihr klar, dass sie das Morgenrote Meer gefunden hatte. Obwohl es sich unter der Erde befand, war es taghell unter der Oberfläche. Fische, Pflanzen und Korallen leuchteten wie Hunderte kleiner Flammen. Es wirkte beinah so, als schien die Sonne von allen Seiten, doch durch die kleine Öffnung auf der Wiese gelangte höchstens ein minimaler Schein in das Meer. Es reichte gerade aus, um Arrow den Weg zur Oberfläche zu leuchten – viel mehr vermochte dieses schwache Licht nicht auszurichten.

Begeistert stieg sie wieder aus dem Wasser. „Wir haben es gefunden!“, rief sie Whisper freudestrahlend zu. Geschwind band Arrow ein Haus der Zwillingsschnecke an seinem Sattel fest. Dem Perseiden konnte sie vertrauen. Außerdem würde er bei Gefahr umgehend die Flucht ergreifen, und somit war das Haus bei ihm am sichersten.

Das andere Haus stülpte sie – wie angewiesen – über Mund und Nase und erschrak, als es sich an ihrem Gesicht festsaugte. Nichtsdestotrotz funktionierte es ausgezeichnet und nebenbei hatte Arrow auch noch Whispers Geruch und den des Sattelleders in der Nase. Irgendwie wirkte es beruhigend und das tat gut, denn obwohl sie sich über den neuerlichen Erfolg freute, regte sich plötzlich doch ein mulmiges Gefühl in ihrem Magen. Was genau würde sie erwarten? Welchen Weg sollte sie einschlagen? Und was, wenn Perseis ihr nicht wohl gesonnen war? Fragen über Fragen. Doch es nützte nichts. Antworten bekam sie nur, wenn sie ihren Weg fortsetzte und nicht, wenn sie darüber nachdachte.

Schnell schnallte Arrow noch die Lederrolle mit dem Papier auf ihren Rücken, tätschelte den Rappen liebevoll und sprang ins Wasser. Sobald sie darin eingetaucht war und sich ihre Augen an die nasse Umgebung gewöhnt hatten, bekam sie jedoch einen derart großen Schrecken, dass ihr Herz für einen Moment aussetzte, nur um dann mit Windeseile weiter zu rasen. Zwei große blaue Augen musterten sie neugierig. Starr vor Angst verharrte Arrow vor dem großen bunten Fisch und wartete eine Reaktion ab, doch außer einem gelegentlichen Blinzeln rührte er sich nicht.

Argwöhnisch wurde sie von dem großen Meeresbewohner gemustert. Anders als andere Fische schwamm dieser nicht auf dem Bauch, sondern aufrecht. Seine Schuppen schillerten prächtig in vielen Blautönen. Seine Flossen schimmerten in sattem Violett und sein Bauch wurde von einem großen Fleck geschmückt, der sich je nach Lichteinfall mit den Farben Gelb und Grün abwechselte. Er hatte den Kopf eines Pferdes, jedoch liefen seine Lippen zu einem spitzen Kussmund zusammen. Genau wie der Unterkörper endeten auch die Vorderbeine mit transparent schimmernden Flossen, und seine Mähne tanzte in die Höhe wie Anemonen, die sich in der Strömung wogen. Dies ließ das Wesen derart lustig aussehen, dass Arrow plötzlich kichern musste. Und damit war dann auch das Eis gebrochen, denn der Fisch tanzte wie ein freudiges Hündchen um sie herum.

„Du bist ja ein nettes Kerlchen“, sagte Arrow und streichelte ihm den Hals. Das Wesen genoss die Streicheleinheiten in vollen Zügen, was es dann überraschenderweise gar nicht mehr wie einen Fisch anmuten ließ. Denn während Fische wegen ihrer mangelnden Mimik doch immer sehr leblos auf Arrow gewirkt hatten, verstand sie die Körpersprache dieses entzückenden Tierchens sehr genau. Und als sie das Pferdchen hinter den Ohren kraulte, entdeckte sie ein Mal, welches ihr wieder in Erinnerung rief, weshalb sie gekommen war. „Das ist das Zeichen der Göttin Perseis. Kennst du sie? Kannst du mich vielleicht zu ihr bringen?“

Ohne einen Augenblick verstreichen zu lassen, schwamm das Wesen los. Geschwind schlang Arrow ihre Arme um seinen kräftigen Hals und ließ sich mitziehen.

Das Meer war wirklich wunderschön. Durch die zahlreichen leuchtenden Kristalle konnte man unendlich weit schauen. Sonderbare Wesen tummelten sich im Wasser. Die meisten flüchteten bei Arrows Anblick zwischen Pflanzen und hinter Felsen, bevor sie sie näher betrachten konnte. Andere wiederum – zum Beispiel Nixen, wie Arrow sie schon in Nebulae Hall gesehen hatte – ließ die Anwesenheit eines Wesens von der Oberfläche völlig kalt.

Es gab runde Fische, die sich wie eine rollende Kugel fortbewegten und deren Mund sich auf der den Augen gegenüberliegenden Seite ihres Körpers befand. Das machte die Jagd bestimmt auch nicht einfacher. Ein Riesenkrake saß auf einem Haufen von glitzernden Kristallen. Unweit davon wuchsen Pilze so groß wie Bäume in kleinen Wäldchen, zwischen deren Stängeln sich eine riesige Schlange versteckt hatte. Den Verformungen ihres Körpers nach zu urteilen hatte sie bereits gegessen und stellte für den Augenblick keine Gefahr für Arrow dar. Zahnlose Haie streiften umher und erlegten andere Meerestiere allein durch ihren Furcht einflößenden Blick, um sie dann mit einem einzigen Bissen zu verschlingen. Fische ohne Flossen liefen am Boden auf sechs Füßen mit unglaublicher Geschwindigkeit entlang und transparente Quallen versuchten Angreifer abzulenken, indem sie chamäleonartig das Abbild ihres Gegenübers spiegelten, damit der Feind dem Irrtum verfallen sollte, einen Artgenossen vor sich zu haben. Und immer mal wieder zogen kleine Wolken an Arrow vorbei, die Sauerstoff ins Meer regneten. Winzige Goldfischchen schluckten ihn und pupsten ihn ihren Angreifern ins Gesicht, die daraufhin für wenige Sekunden in einen Narkoseschlaf fielen.

Irgendwann kamen sie an einer riesigen Felshöhle, in die sie über ein tunnelartiges Gewölbe eintauchten. Je weiter ihr Weg sie führte, desto mehr ähnelten die Kammern und Tunnel den Räumen und Gängen eines alten Schlosses, und als sie schließlich in eine riesige Kammer schwammen, auf deren gegenüberliegender Seite es nur eine bis an die Wasseroberfläche mündende, breite Treppe und keine weiteren Ausgänge gab, wusste Arrow, dass sie ihr Ziel erreicht hatte.

Die Aufregung schoss ihr durch den ganzen Körper, als sie am Kopfe der Treppe auftauchte. Trotzdem befand sie sich nicht an der Erdoberfläche, sondern lediglich in einer Wasserhöhle. Auf der Wasseroberfläche tanzten zahlreiche Seerosen zwischen den leichten Wellen, die Arrow verursachte.

Viele Kübel standen am steinernen Ufer, deren farbenfrohe Blumen diesem einsamen Ort einen paradiesischen Anblick verliehen. Salzkristalle hingen wie Tautropfen an den Blüten. Regenbogenfische – ob klein wie eine Faust oder groß wie ein Rind – schwammen durch die Luft und glitten dann nahtlos ins Wasser, um ihren Weg dort fortzusetzen.

Seit ihrer Ankunft in dieser Welt hatte Arrow schon so viele wundersame Dinge erlebt, dass sie der Annahme verfallen war, nichts könne sie mehr zum Staunen bringen. Nun aber erkannte sie diesen Irrtum und betrachtete voller Ehrfurcht diesen zauberhaften Ort. Die Luft war angenehm, als sie aus dem Wasser stieg, und der steinerne Boden fühlte sich ganz warm an. Die leuchtenden Kristalle hingen in zahlreichen Stalaktiten von der Decke und schmückten die Wände wie ein riesiges Mosaik. Indem sie die tanzenden Wellen reflektierten, ließen sie die Höhle regelrecht funkeln.

An weißen Marmorsäulen rankten Klettergewächse empor und steinerne Wesen verharrten bewegungslos wie in einem Garten. Vor gar nicht allzu langer Zeit hätte Arrow in ihnen lediglich Statuen gesehen. Mittlerweile wusste sie allerdings, dass es sich bei ihnen um Gargoyles handelte, die im leuchtenden Schein der Kristalle neue Energie tankten. Wie bei allen Geschöpfen, die es verstanden, ihre Identität vor den Augen Unwissender so geschickt zu tarnen. wie es die Gargoyles taten, verrieten sich auch diese Wesen durch ein ganz bestimmtes klitzekleines Indiz – ein stahlblaues Aufblitzen in ihren Augen. Aber das war natürlich nur für jene sichtbar, die darum wussten. Alle anderen erkannten darin lediglich die Verarbeitung eines besonders mineralhaltigen Gebirgssteins.

Staunend wandelte Arrow durch den unterirdischen Garten. Überall schlängelten sich kleine Bachläufe durch die Höhle, aus denen gelegentlich kleine Fische auftauchten und frühlingshafte Liedchen zwitscherten. Fackeln loderten an den Wänden und nur wenige Schritte entfernt erblickte Arrow einen Springbrunnen, vor dem drei Löwinnen ruhten. Eine schöne Frau badete im Wasser des Brunnens und rieb ihren Körper mit einer nach Rosen duftenden Flüssigkeit ein. Ihr langes, rotes Haar hing in wallenden Locken über den Brunnenrand. Kleine Flammen züngelten darin, doch es schien ein Teil von ihr zu sein, denn das Feuer blieb vollkommen unbeachtet, während sie ein lieblich klingendes Liedchen summte. Die Frau war so anmutig, dass Arrow bei ihrem Anblick sofort an die Grüne Lady denken musste. Äußerlich hatten die beiden Frauen rein gar nichts miteinander gemein. Doch bei der ersten Begegnung mit Elaine war es das gleiche Ehrfurcht einflößende Gefühl gewesen wie jetzt.

Als Perseis Arrow erblickte, verstummte das Summen. „Du hast mich also gefunden“, sagte die Göttin mit einer derart wärmenden Stimme, dass Arrow auf Anhieb gefesselt war.

Perseis lächelte und auch dies war eben das gleiche Lächeln, mit dem Elaine sie einst so sehr verzaubert hatte.

„Was ist?“, fragte Perseis umwerfend charmant. „Hat es dir die Sprache verschlagen?“

Völlig verlegen bemerkte Arrow, dass sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. In dem Versuch, sich zu entspannen, erwiderte sie Perseis‘ Lächeln und rang einen Moment nach Atem, nur um anschließend zu bemerken, dass sie sich erneut verkrampfte. Eigentlich war es nicht so, dass sie sich unwohl fühlte, trotzdem empfand sie die besondere Ehre, von einer Göttin empfangen und noch dazu auf eine derart freundliche Weise begrüßt zu werden, als ein leichtes Unbehagen.

Feuer tanzte über Perseis‘ karamellfarbene Augen – wie bei einem Opal. Sie wirkte überaus ausgeglichen und blühend. Sie war keine der Göttinnen, die nur aus Haut und Knochen bestanden. Allerdings war sie auch nicht beleibt. Sie sah einfach nur schön und gesund aus.

„Komm und geselle dich zu mir“, sagte die Göttin.

Arrow war verlegen. Sie wusste gar nicht, wie sie reagieren sollte. Andererseits war es bestimmt kein guter Start, gleich die erste Aufforderung zu missachten. Und so streifte sie sich die ohnehin durchnässten Kleider ab und stieg zu Perseis in den Brunnen.

Das Wasser war angenehm warm und löste Arrows Verspannungen. Gemütlich lehnte sie sich zurück und beobachtete die Regenbogenfische. Nymphen kämmten Arrows Haar und reichten ihr Saft sowie einen goldenen Teller mit Früchten, die davonliefen als Arrow ihre Hand nach ihnen ausstreckte.

„Du kannst auch Trauben oder Beeren bekommen, wenn du möchtest“, kicherte Perseis. „Unter dem Begriff Früchte versteht man unter dem Meer etwas anderes als an der Oberfläche.“

Erleichtert schob Arrow den goldenen Teller von sich weg. „Wenn das ginge, wäre ich ausgesprochen dankbar.“

Eine Weile später hatte sich die ganze Atmosphäre deutlich entspannt. Arrows Unbehagen war wie eine Last von ihren Schultern gefallen. Ihre Befürchtungen, dass die Göttin ihr möglicherweise nicht wohl gesonnen sein könnte, entpuppten sich als unbegründet.

„Mir ist nicht entgangen, was mit den Urkräften geschehen ist“, sagte Perseis betrübt. „Und ich sehe es auch so, dass niemand davon erfahren darf – jedenfalls solange nicht, wie es sich verbergen lässt.“

Arrow nickte zustimmend. „Nicht auszudenken, wie die Bewohner dieser Welt reagieren, wenn sie erneut feststellen müssen, die wieder gewonnene Freiheit abermals verloren zu haben.“

„Es würde sie zerstören. So viele Jahre haben sie im ewigen Winter gelebt. Nachdem der Sommer endlich zu ihnen zurück gekehrt ist, würden sie kein zweites Mal so geduldig verharren. Dieses Mal ist es ja nicht so, dass der ewige Winter eine ungewisse Gefahr darstellt. Die Wesen hier wissen, was sie entbehren müssen, und dass es allein den Nyriden obliegt, einen Ausweg zu finden.“

„Sie würden mich jagen“, sagte Arrow niedergeschlagen.

„Das tun sie jetzt schon“, entgegnete die Göttin. Und natürlich lag sie damit richtig. Trotzdem bereitete es Arrow großes Unbehagen, in die Zukunft zu blicken, denn sie fühlte sich verantwortlich. Und obwohl dies eine große Bürde war, machte es diese Tatsache auch gleichzeitig erträglicher. Was hatte es ihr genützt, sich gegen all das zu sträuben, was ihr ohnehin von Geburt an vorbestimmt war? Es hat die Sache nur schwieriger und trostloser werden lassen. Vor allem aber hatte es alles hinausgezögert – zwar unwesentlich, aber dennoch unnötig. Deshalb war es an einem bestimmten Punkt auch nicht mehr wichtig gewesen, ob das traurige Schicksal dieser Welt nun ihr Verschulden war oder nicht. Für Arrow stand nur noch fest, dass ein Leben in Angst und Bange nicht mehr in Frage kam. Es musste gehandelt werden, und sie würde einen Teufel tun und Hunderte von Jahren darauf warten, dass jemand anderes entscheiden würde, diesen Weg zu gehen. Außerdem hatte sie zusammen mit ihrer Familie und ihren Freunden schon so viel erreicht. Immerhin hatte es wieder einen Sommer gegeben. Die Leute hatten Aufgaben, die sie aufblühen ließen. Bauern bestellten die Felder und Hirten trieben ihre Schafe und deren kleine Nachkommen auf die Weide hinaus. Vor allem aber gab es seit dem Sommer endlich wieder Nachkommen und diese galt es jetzt zu versorgen.

Verständnislos schüttelte Arrow den Kopf. „Ich weiß einfach nicht, wie so etwas passieren konnte. Es fühlt sich an wie ein Fluch. Zum ersten Mal seit hunderten von Jahren schien es, als hätten wir den Bann gebrochen, und plötzlich – in einem kleinen unaufmerksamen Moment – geschieht etwas, das uns um Meilen zurückwirft. Wie kann das sein?“

Mitfühlend ergriff Perseis Arrows Hand. „Ihr hättet nichts tun können, um das Geschehene zu verhindern. Dieses Mal sind ganz andere Mächte im Spiel – Mächte, von denen selbst ich niemals gedacht hätte, dass sie sich mit einer solchen Angelegenheit befassen. Du musst sehr vorsichtig sein, denn der Feind, dem du gegenüber treten wirst, ist kein greifbarer Gegner. Du kannst ihn nicht töten, denn ohne ihn kann diese Welt nicht sein. Ohne ihn können überhaupt keine Welten existieren. Dessen musst du dir bewusst sein. Finde dich damit ab, dass es dein höchster Triumph sein wird, ihn im besten Fall zu bezwingen. Das ist von größter Wichtigkeit.“

Arrows Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Wie meinst du das?“

„Du musst das anwenden, was du in der Weltenbibliothek gelernt hast. Du darfst es nie vergessen!“

Und bevor sich die Göttin von ihr abwenden konnte, hielt Arrow sie zurück. „Was für einen Gegner habe ich in der Unterwelt zu erwarten?“, fragte Arrow mit Nachdruck. „Bitte Perseis, wenn du seinen Namen kennst, dann nenn ihn mir.“

„Das kann ich nicht“, antwortete sie. „Die Zeit dafür ist noch nicht gekommen und es gehört zur Lösung deiner Aufgabe, ihn zu erkennen, wenn er vor dir steht. Außerdem wirst du niemals einen Hinweis darauf finden, wie du ihn in die Knie zwingen kannst – egal, wo auch immer du danach suchen wirst.“

Perseis‘ Worte flößten Arrow Angst ein. Sie atmete heftig und begann zu zittern – nicht weil ihr kalt war, sondern wegen des unguten Gefühls in ihrem Bauch. „Ist er mächtig?“, fragte sie scheu.

„Nicht einmal diese Frage kann ich dir korrekt beantworten“, entgegnete Perseis. „Er ist ein Bruder der Zeit und so alt wie die Welt selbst. Du allein bestimmst seine Macht. Er ist nicht stärker, als du es ihm zugestehst.“

Perseis wandte sich ab und ihr Blick verriet, dass sie nicht weiter auf dieses Thema eingehen wollte – vermutlich weil sie es nicht konnte.

Anmutig erhob sich die Göttin, und bevor das Wasser etwas von ihrem nackten Körper preisgeben konnte, schmiegte sich ein langes Flammenkleid darum. Es bestand allein aus Feuer, dessen viele Flämmchen mit jeder Bewegung – mal mehr, mal weniger – unruhig züngelten. Die lange Schleppe rauschte mit jedem Schritt, den sie sich vom Brunnen entfernte, und irgendwann erstickte das Geräusch.

Wenig später stieg auch Arrow aus dem Brunnen und ließ sich von einer der Nymphen ein bequemes Gewand reichen. Von der paradiesischen Gartenlandschaft, die den Brunnen umgab, zweigten riesige Tore in weitere Hallen ab. Jede schien ihre eigene kleine Welt zu bergen. Hinter einigen Eingängen schien man sogar vergessen zu können, dass sich die malerischen Landschaften mit ihren satten Wiesen, kleinen Wäldchen und Beerensträuchern weit unter dem Meeresspiegel befanden. Einzig die Regenbogenfische ließen die Erinnerungen zeitweilig zurückkehren.

„Ein Ort wie für Dichter geschaffen“, flüsterte es in Arrows Kopf, und als sie die sanfte und beruhigende Stimme vernahm, musste sie lächeln.

„Oh“, erklang Perseis‘ Stimme, während sie sich leichtfüßig näherte. „Ich habe gar nicht gewusst, dass du in Begleitung gekommen bist.“

Arrow runzelte die Stirn. „In Begleitung?“, fragte sie verwundert.

Mit einem betörenden Lächeln zupfte Perseis ein langes schwarzes Haar aus Arrows blonder Haarpracht. „Ach, du meinst Whisper“, fiel es Arrow wie Schuppen von den Augen. „Er ist mein Perseide.“

„Ah“, erwiderte die Göttin. „Der zurückhaltende Wächter, der Tag und Nacht an der Seite seines Schützlings wandelt.“

Arrow lächelte. „Das tut er. Und mittlerweile ist er weit mehr als nur ein Wächter.“

Schmachtend ließ Perseis ihren Blick an Arrow vorbei schweifen. „Das kann ich nachempfinden. Dieser Ausstrahlung würde ich auf Dauer auch nicht widerstehen können.“

Verwundert runzelte Arrow die Stirn, denn sie hatte nicht gewusst, dass die Göttin eine Pferdeliebhaberin war. „Verkaufen werde ich ihn dir aber nicht“, witzelte sie. Und während beide Frauen über diese Bemerkung lachen mussten, traf es Arrow plötzlich wie ein Blitz. Völlig gebannt richtete sie ihren Blick auf eines der Tore, hinter dessen Durchgang ein Kelpie weidete. Natürlich fraß es das Gras nicht wirklich, sondern täuschte es nur vor. So ließ es seine Opfer in dem Glauben, ein echtes Pferd zu sein. Es sah ganz anders aus als Stone. Alt war es noch nicht und die Wassertropfen schimmerten wie kleine Perlen in seinem strahlend gesunden Fell. Es war ein wirklich stolzes Tier.

Neugierig schlich Arrow näher heran und beobachtete es. Ihre Erfahrungen mit Stone machten ihr deutlich, dass dieses Kelpie bereits ihre Witterung aufgenommen und sie als Beutetier auserkoren hatte. Trotzdem spielte es Arrow weiterhin vor, ein ganz gewöhnliches Pferd zu sein. Ungeduldig hob es seinen Kopf und trabte gemächlich zu ihr herüber. Seine Augen verrieten, wie hungrig es war, und Arrow bekam es mit der Angst zu tun. Wie sollte sie hier unten einem Kelpie entfliehen? Doch sie war so starr vor Schreck, dass sie sich nicht einmal von der Stelle rühren konnte. Hilflos schaute sie zu, wie das erschreckend schöne Raubtier immer näher kam. Gerade sah sie noch die spitzen Zähne aufblitzen, bevor es sich von ihr abwandte und in Windeseile mit einem lauten Kreischen davon lief.

Mit noch immer geweiteten Augen schaute Arrow der Gefahr hinterher und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn.

Der Klang von Perseis‘ Stimme ließ sie zusammenzucken. „Wie es aussieht, scheint dein Begleiter eine starke Wirkung auf deine Feinde zu haben. Allerdings frage ich mich, wen du mehr zu fürchten hast – ein Kelpie oder vielleicht sogar ihn selbst?“

Die sanfte Stimme in Arrows Kopf half ihr, sich zu beruhigen. Die Nymphen reichten ihr ein Getränk aus Melissenextrakt, das ihrer Aussage nach eine entspannende Wirkung haben sollte. Perseis hatte sich in den Finger gestochen und ließ derweilen ihr Blut über das Papier laufen. Eine Karte zeichnete sich wenig später darauf ab, und schon allein auf der Abbildung wirkte der Ort, an den sie führen sollte, trostlos und unheilvoll. Die Göttin reichte sie Arrow, und während diese das Papier näher betrachtete, schlich ein ungläubiger Ausdruck über ihr Gesicht. „Das ist unser Schloss“, murmelte sie. „Bist du sicher, dass dies der richtige Weg ist? Ich kann mir nicht vorstellen, dass man von dort aus in die Unterwelt gelangt.“

„Auf normalem Wege nicht“, entgegnete Perseis. „Mit dem richtigen Schlüssel kannst du von überall aus dorthin gelangen.“

„Und was für ein Schlüssel ist das?“

„Einer, den du dir selbst schmieden musst.“

Perseis gab Arrow zwei Karten mit auf den Weg. Eine davon wies den Weg in die Unterwelt und die andere führte wieder hinaus.

„Das zweite Papier wird dich an den Ort in dieser Welt zurückgeleiten, an dem du sie mithilfe des ersten verlassen hast.“

Etwas wehleidig zog Arrow sich wieder ihre zwischenzeitlich getrockneten Kleider über, denn sie wusste genau, dass sie ohnehin gleich wieder nass werden würden.

Mit traurigem Blick wurde sie bereits von der Göttin am Wasser erwartet. „Es war schön, dich kennen gelernt zu haben, Arrow Fall. Vielleicht findest du eines Tages noch einmal den Weg in meine Hallen. Es wäre mir eine Freude.“

„Die Freude ist ganz auf meiner Seite“, entgegnete Arrow verlegen und schaute beklommen zum Wasser.

„Was ist?“, fragte Perseis lächelnd. „Dich wird doch am Ende nicht der Mut verlassen?“

Betrübt senkte Arrow den Blick. „Nun hast du mir so viele Rätsel mit auf den Weg gegeben, dass ich das Gefühl habe, noch weniger zu wissen als vor meinem Besuch.“

Ohne jede Vorwarnung legte Perseis ihre Hände um Arrows Nacken und küsste sie. Ihre Lippen waren so weich wie die Schirmchen einer Pusteblume. Kleine Flämmchen kitzelten Arrows Mund so zart, dass es ihr durch den ganzen Körper fuhr. Perseis schmeckte nach Sonnenschein und duftete nach Rosen und ihre Haut war geschmeidig wie die zerbrechlichen Blüten einer Mohnblume.

Es war ein überaus leidenschaftlicher Kuss, aus dem Arrow sich nicht mit eigenen Kräften hätte befreien können – weil sie es nicht wollte. Und als sich die Göttin von Arrows Mund löste, fuhr sie sich mit der Zungenspitze genüsslich über ihre Lippen, als hätte sie vom Nektar eines reifen Pfirsichs gekostet.

„Dein Schicksal schmeckt süß und salzig zugleich“, flüsterte Perseis mit geschlossenen Augen. „Aber da ist auch noch etwas Anderes. Etwas, das ich noch nie zuvor gekostet habe. Es ist rein und unverdorben. Die Macht gänzlich jungfräulicher Unschuld in einem einzigen Kuss.“

„Du irrst dich“, erwiderte Arrow beinahe gereizt. „Nichts an mir ist unschuldig, und ich bin auch nicht danach bestrebt, das zu ändern.“

Perseis‘ Lippen formten sich zu einem kühnen Lächeln. „Du sprichst diese Worte mit Bitterkeit in deinem Herzen, und trotzdem bist du überzeugt von dem, was du sagst. Doch achte auf deine Arroganz. Der Betrachter sieht immer mehr als der Betrachtete.“

Aus dem Wasser tauchte der Kopf des eigenartigen Pferdchens auf, welches zweifellos erschienen war, um Arrow wieder zur Oberfläche zurück zu bringen.

„Mein Hippokamp wird dich sicher an Land geleiten. Von dort aus bist du wieder dir selbst überlassen.“ Melancholisch strich sie Arrow über die Wange. „Pass gut auf dich auf. Ich zähle darauf, dich eines Tages wieder sehen zu dürfen.“ Und bevor Perseis ihr einen weiteren Kuss geben konnte, wandte Arrow sich ab, denn sie wusste, dass sie den sinnlichen Reizen der Göttin kein zweites Mal würde entrinnen können. Geschwind setzte sie das Haus der Zwillingsschnecke wieder auf ihren Mund und ließ sich von dem Pferdchen davon tragen.

Mit einem seltsamen Gefühl im Bauch ließ Arrow das Reich von Perseis hinter sich. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie von einer Frau geküsst worden. Auch wenn es sehr überraschend kam, hatte es sich dennoch ausgesprochen angenehm und sogar verlockend angefühlt. Und obwohl sie nie zuvor darüber nachgedacht hatte, wie sich die Lippen einer anderen Frau wohl anfühlen mochten, entfachte diese Erfahrung trotz allem ein Feuer in ihr, dessen Flammen begierig loderten.

Nichtsdestotrotz ließ es sich nicht mit Keylams Küssen vergleichen, die einerseits so fordernd und auf der anderen Seite so zärtlich waren. Das Gefühl, wenn er Arrow in seine Arme nahm und sie an seinen starken, glühenden Körper presste ... Und auch sein Geruch war betörend. Sein Duft ließ sie sich dem Himmel nahe fühlen und der Klang seiner Stimme ließ sie die ganze Welt um sich herum vergessen. An seiner Seite hatte Arrow sich stets sicher gefühlt. Er hatte ihre Wünsche immer ohne Worte verstanden. Und wenn sie sich neben ihn gelegt hatte, so hatte sie außer dem Gefühl des Begehrens noch ein anderes, weitaus mächtigeres und innigeres verspürt – Verbundenheit.

Das alles konnte ihr eine Frau – so reizvoll und verführerisch sie auch sein mochte – niemals bieten. Niemand konnte das. Und deshalb war es an der Zeit, Keylam endlich nach Hause zu holen.

Frühlingserwachen
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