Tränen auf der Haut
Das Gefühl der Desillusionierung begleitete Arrow in den nächsten Tag hinein. Lustlos und fast widerwillig verließ sie das Bett und auch beim Frühstück konnte sie nichts auf andere Gedanken bringen.
Die kleine Juna schlief ganz friedlich und Neve sah erholt aus.
„Es war einfach seltsam“, sagte die Elfe. „Manchmal bin ich schon vor der Kleinen wach, weil ich merke, dass es Zeit wird, sie zu stillen. Und wenn ich nicht von allein aufwache, erledigt Juna das zuverlässig. Aber in der letzten Nacht hat sie keinen Laut von sich gegeben. Und selbst ich habe geschlafen wie ein Baby.“
„Soll das heißen, dass sie gestern Abend das letzte Mal gestillt wurde?“, fragte Sally erschrocken. „Ein so junges Baby braucht regelmäßig in kurzen Abständen Nahrung, sonst ist etwas nicht in Ordnung!“
Dewayne winkte ab. „Sally, es ist alles bestens. Heute Morgen hat Neve sie gestillt und seitdem schläft sie wieder.“
Argwöhnisch runzelte Sally die Stirn. „Da hat die Kleine aber sicher eine ganze Menge getrunken.“
Neve zuckte mit den Schultern. „Es war eine normale Mahlzeit.“
Arrow bekam kaum etwas von der Unterhaltung mit. Nachdenklich schob sie ihr Essen von der einen Tellerseite zur anderen und dachte ständig nur über die Lady nach. Wie schon Tage zuvor bestimmte dieses Thema erneut ihre Gedanken und wollte sie einfach nicht mehr los lassen.
Als alle mit dem Frühstück fertig waren und sich erhoben, erwachte sie aus ihren Grübeleien und entfernte sich umgehend vom Tisch.
In der großen Halle lief Pex ihr über den Weg. Fast immer suchte er die Nähe von Juna. Da Arrow sie jedoch dieses Mal nicht in ihren Armen trug, schlich er nur um sie herum.
In ihrer Unachtsamkeit stolperte Arrow über eine unebene Platte im Steinboden und plötzlich traf es sie wie der Schlag, denn das war letzte Nacht doch schon in ihrem Traum geschehen, an exakt der gleichen Stelle.
Ungläubig strich sie mit ihrer Hand über den Boden. Anschließend betrachtete sie verwundert ihre Fingernägel, denn es klebten eindeutig Wachsreste an ihnen.
Geschwind lief sie die Treppen hinunter zum Kellergewölbe und sperrte die Tür auf. Jeden Quadratmeter suchte sie sorgsam ab und doch gab es von der Begegnung der letzten Nacht nicht die geringste Spur.
Als sie spürte, wie jemand mit seinen Fingern durch ihr Haar fuhr, schrie sie erschrocken auf. Mit einem kleinen Efeublatt und einigen ausgerissenen blonden Haaren in der Hand musterten Dewayne und Keylam sie eindringlich. „Ich glaube, du hast uns etwas mitzuteilen“, sagte der Elf.
Mehrmals fuhr Arrow sich mit den Fingern durch die Haare. „Ich kann es nicht mehr unterscheiden“, sagte sie. „Einerseits war es wie ein Traum, doch andererseits gibt es Hinweise, dass die Begegnung real gewesen sein könnte.“
Keylam nickte. „Das Kerzenwachs hätte auch von jemand anderem verschüttet worden sein können.“
„Aber was ist mit dem Blatt in ihren Haaren?“, fragte Neve, die ihr Baby in den Armen wog.
„Bei uns im Dorf gibt es kein Efeu“, entgegnete Anne widerwillig. „Es gedeiht hier nicht, allein der Teufel weiß, warum.“
Ein dunkler Schatten löste sich über den Deckenbalken. Flink wie eine Katze kletterte Sam die steinerne Wand hinab und warf Anne einen eindringlichen Blick zu. „Wenn ihr schon nicht dem Efeu in ihren Haaren traut, so solltet ihr wenigstens den Abbildungen auf ihrem Nacken Glauben schenken.“
Erschrocken tastete Arrow ihren Hals und die Schultern ab, doch obwohl sie nicht die geringste Unebenheit oder Veränderung spürte, konnte sie den Wahrheitsgehalt von Sams Worten in Annes Augen ablesen.
Die alte Frau wurde kreidebleich und ließ sich fassungslos auf den nächstgelegenen Stuhl sinken. „Das ist doch wohl hoffentlich nicht euer Ernst“, presste sie gequält zwischen ihren Lippen hervor.
„Anne bitte“, versuchte Dewayne auf sie einzureden. „Wir alle wissen, dass dir diese Sache nicht behagt. Kaum einer von uns hat ein gutes Gefühl bei dem Gedanken an ein Treffen mit Frau Perchta. Trotzdem bringt uns das nicht weiter.“
„Und was bringt uns weiter?“, fragte Anne voller Sorge.
„Die Anweisungen sind deutlich“, bemerkte Bon, der die Unterhaltung bisher ruhig und mit verschränkten Armen verfolgt hatte. „Arrow wird zum Holunderwald aufbrechen – noch heute.“
Anne entglitten die Gesichtszüge, doch bevor sie etwas sagen konnte, kam Bon ihr zuvor. „Wir werden es nicht herausfinden, wenn wir es nicht versuchen.“
Argwöhnisch betrachtete Arrow die Abbildung – wie Sam es genannt hatte – im Spiegel. Mit Hilfe eines zweiten Spiegels, den sie hinter ihren Schultern immer wieder von einer Seite zur anderen gleiten ließ, schaute sie jede Linie so oft an, bis sich das Bild in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte. Die Darstellung verlief genau dort, wo sie in der Nacht zuvor die Tränen der Grünen Lady gespürt hatte. Aber viel seltsamer war die Erkenntnis, dass es das gleiche Motiv war, das sie schon bei Harold gesehen hatte – eine Efeuranke.
Arrow schüttelte sich. Bei dem Gedanken an Harolds unbekleideten Körper wurde ihr ganz mulmig. Es hatte wirklich nicht schön ausgesehen und diese Überzeugung hätte sie auch dann nicht abgelegt, wenn sie ihn leiden könnte. Harold hatte einfach nur krank ausgesehen und sie konnte sich nicht des Eindrucks entledigen, dass sein Körper seinen inneren Gemütszustand widerspiegelte. Aber gegenwärtig konnte sie sich nicht mit diesen Dingen befassen und es fehlte auch die Zeit, um Harold über der Efeuranke zu befragen. Das alles musste bis zu ihrer Rückkehr warten. Angespannt erhob sie sich von ihrem Sessel und sah sich um. Irgendetwas hatte sie noch nicht eingepackt. Sie wusste nicht, was es war, doch sie wurde das Gefühl nicht los, etwas Wichtiges übersehen zu haben.
Während Arrow ihren Blick durch das Turmzimmer gleiten ließ, tastete sie gleichzeitig ihre Taschen ab und bemerkte dabei etwas, das sie nicht sofort zuordnen konnte. Verdutzt zog sie eine kleine Phiole hervor, welche sie in diesem Moment zum ersten Mal erblickte. Im Inneren des Gefäßes befanden sich die Efeublätter mit den Tränen von Elaine. Eilig schlang sie ein Lederband um den Flaschenhals, streifte es über ihren Kopf und ließ die Phiole unter ihren Kleidern verschwinden. Dann nahm sie ihre Sachen und ging nach unten.
Arrow hatte darauf bestanden, dass Dewayne bei Neve bleiben sollte. Sie und das gemeinsame Baby hatten seine Hilfe weitaus nötiger. Außerdem war Arrow der Ansicht, dass man einen Vater nicht so schnell von seinem Kind trennen sollte.
„Es wäre doch nicht für lange. In ein paar Tagen sind wir wieder zurück, dann bleibt mir immer noch genug Zeit für das Baby.“
„Ein Kind braucht seinen Vater“, entgegnete Arrow schroff. „Niemand weiß das so gut wie ich.“ Ohne dass die anderen es merkten, warf Neve ihr einen dankbaren Blick zu. Für Arrow war diese Diskussion damit beendet. Somit konnte sie sich dem nächsten Problem zuwenden.
„Es ist nur ein Gefühl“, sagte Keylam. „Was das angeht, habe ich mich schon oft geirrt.“
„Ach ja?“, erwiderte Arrow ungläubig. „Seltsam, dass du mir noch nie davon erzählt hast ... Meine Entscheidung steht fest – wenn du bereits deiner nächsten Auferstehung entgegen siehst, bleibst du auch hier. Wir kennen die Risiken nicht. Weder habe ich eine Ahnung, wie ich dich währenddessen im Notfall beschützen kann, noch ob die Zeit, die wir dafür unter Umständen benötigen, unsere Mission gefährdet.“
„Dann begleite ich dich“, beschloss Anne zielstrebig.
Sanft fasste Bon ihr auf die Schulter. „Nur Nyriden sind bei diesem Treffen erwünscht.“ Damit hatten sich dann auch alle anderen Diskussionspunkte erledigt.
Fest schlang Keylam seine Arme um Arrow. „Pass gut auf dich auf“, hauchte er ihr zu. „Und vergiss nicht, dass du hier gebraucht wirst.“
Sanft löste Arrow sich aus der Umarmung. „Ich wäre eine Lügnerin, wenn ich behaupten würde, dass ich keine Angst hätte.“ In dem Moment, da diese Worte ausgesprochen waren, bereute sie sie schon wieder. Weder ihr noch sonst jemandem würde diese Erkenntnis in irgendeiner Art und Weise weiterhelfen – und schon gar nicht irgendwen beruhigen.
„Wenn deine Zweifel dich zu überwältigen drohen und du keinen klaren Gedanken mehr fassen kannst, dann denke an den Tag am Meer“, flüsterte Keylam zuversichtlich.
Es war eine Traumreise, die Arrow und Keylam von Zeit zu Zeit unternahmen, um ihre Schlafstörungen zu lindern und ihr Entspannung zu verschaffen.
Keylam hatte ihr einst von den Verzauberten Wiesen erzählt. Sie lagen im Süden dieser Welt und waren keine Wiesen im typischen Sinne. Unter der türkis schimmernden Wasseroberfläche konnte man sie genau erkennen. Hier und da wuchsen einige Obstbäume und überall grasten Forellen. Sogar ein kleiner Palast, dessen Bewohner die Besucher gern als deren Gäste begrüßten, sollte sich unweit des Ufers befinden. Zu gern hätte Arrow diesen Ort einmal mit eigenen Augen gesehen. Der Strand sollte aus dem schönsten weißen Sand bestehen, den man je irgendwo gesehen hatte, und die Temperaturen waren immer angenehm warm – wenn denn nicht gerade der Träger des Urwinters mit einer belastenden Schwermut zu kämpfen hatte. Einst sollte dort ein Tor zur anderen Welt gewesen sein, doch als die Menschen irgendwann in Scharen aus den Fluten empor gestiegen gekommen waren, war es versperrt worden.
Arrow liebte es, wenn Keylam ihr immer so enthusiastisch von den Verzauberten Wiesen vorschwärmte. Der Klang seiner Stimme faszinierte sie. Er hatte ein solches Talent zum Erzählen, dass sie während dieser Reisen stets das Rauschen des Meeres in ihrem Inneren gehört und die wohltuende Brise auf ihrer Haut gespürt hatte. Seine Worte machten Figuren ebenso lebendig wie seine Bilder. Bei dem Gedanken daran musste Arrow unweigerlich lächeln. Keylam wusste einfach, was ihr gut tat. Aber vor allem tat er ihr gut und so freute sie sich bereits jetzt auf ein Wiedersehen mit ihm.