Der Außenseiter
Als Arrow erwachte, sah sie sich um. Alles war noch immer genauso, wie es vor dem Einschlafen gewesen war. William lehnte nach wie vor an demselben Baum und schlief – oder gab zumindest vor, es zu tun – und Harold starrte etwas weiter entfernt Löcher in die Luft. Nur der Fenriswolf war nicht an seinem Platz verblieben. Wie schon beim ersten Mal hatte er sich dicht neben Arrow gelegt und schien über sie zu wachen. Dankbar tätschelte sie ihm den riesigen Kopf und schlich sich anschließend zu Harold.
„Er sagt, dass du nicht real bist“, brachte sie ihr Anliegen umgehend auf den Punkt.
Harold lachte verächtlich und schüttelte dabei den Kopf. „Das ist nur typisch für ihn. Selbst nach all den Jahren hat sich nichts geändert.“
Arrow musterte ihn eingehend. Im Grunde stimmte alles an ihm. Wäre er nur ihrer Einbildung entsprungen, so hätte sie ihn mit Sicherheit etwas geschmackvoller gestaltet. Es gab so viele Dinge, die sie an ihm nicht mochte. Zum einen sah er so dürr und fahl aus, als wäre er der Tod in Person, und zum anderen schien er auch sonst nicht besonders auf sich zu achten. Alles in allem wirkte er einfach nur gruselig. Einzig sein Haar trug er noch einigermaßen vernünftig. Aber das alles wäre ihr vermutlich noch egal gewesen, wenn er nicht so unglaublich melancholisch und herablassend wäre. Adam hatte gelegentlich vermocht ein schwaches Glimmen in seinen Augen hervorzurufen. Das hatte ihn zu einer besseren, einer liebenswerteren Person gemacht. Doch ansonsten war er einfach nur ein Häufchen Elend.
Ohne Harold eine Sekunde lang aus den Augen zu lassen, nahm Arrow am gegenüberliegenden Baum Platz. Eine Weile beobachtete sie ihn nur und versuchte, seine Gedanken zu ergründen, doch irgendwann hatte sie keine Lust mehr, eine Reaktion abzuwarten, und richtete das Wort an ihn. „Erzähle mir deine Geschichte.“
Verwunderte schaute Harold sie an. „Warum sollte ich das tun?“
„Du sagst, dass du deiner großen Liebe wegen hier her gekommen bist, doch anstatt nach ihm zu suchen, folgst du mir nur, und ich möchte gerne wissen, warum.“
„Du traust mir also nicht?“
„Ich habe noch nicht entschieden, wem von euch beiden ich trauen soll. Solange ich nur mit mir selbst ringe, wird wohl keine vernünftige Entscheidung dabei herauskommen. Ich will die Hintergründe erfahren und das kann ich nicht, solange wir nicht miteinander reden.“
Harold schien von diesen Worten überrascht. Es wirkte fast, als würde er plötzlich etwas in Arrow erkennen, das ihm bisher nie aufgefallen war. Resignierend lehnte er seinen Kopf zurück und begann wehmütig von längst vergangenen Tagen zu erzählen.
„Ich weiß gar nicht mehr, wie viele Jahre es zurück liegt, dass ich Darren zum ersten Mal begegnet bin. Damals war ich eigentlich hinter Keylam her und hatte es auf ihn abgesehen. Das lief auch eine ganze Weile recht gut, wobei ... Naja gut im Sinne von „so wie es immer gelaufen war“. Keylam hatte sogar schon begonnen, mit mir zu reden. Er war damals ein Künstler mit Leib und Seele, weshalb ihn mein Auftauchen in keiner Weise verwunderte. Vielmehr hatte es so ausgesehen, als hätte er mich schon erwartet.“
„Er hatte keine Angst?“, fragte Arrow überrascht dazwischen.
Harold schmunzelte. „Nein, die hatte er nicht. Keylam schien vielmehr erleichtert zu sein. Er wusste, was eine Muse ist, und die Furcht, dass seine Kunst nicht ausreichend sein könnte, um einen von uns zu beeindrucken, war viel größer als alle anderen Bedenken.“
„Aber ... Wie kann das sein? Du hast doch gesagt, dass Musen gefährlich sind.“
„Dem ist auch so“, entgegnete Harold mit Nachdruck. „Trotzdem werden sie nicht automatisch von allen gefürchtet. Ich zum Bespiel kenne außer dir niemanden, der sich jemals mit einem Kelpie angefreundet hätte. Zudem hast du es des Nachts sogar allein aufgesucht. Jeder andere hätte dir deshalb einen handfesten Dachschaden bescheinigt. Aber deshalb denkst du doch nicht wie alle anderen, jedenfalls nicht in dieser Hinsicht. Du hast damals eben einen Weg gefunden, ihm zu vertrauen, und genauso hat er dir vertraut.“
„Also wenn ich dich richtig verstehe, willst du mir damit sagen, dass es doch Mittel und Wege gibt, einer Muse zu entkommen?“
„Hm ... Bis zu einem gewissen Punkt besteht diese Möglichkeit durchaus. Es kommt darauf an, ob du schon von ihr geküsst wurdest. Ein Kuss besiegelt alles. In dem Fall kannst du es höchstens hinauszögern, indem du deine Muse auf Abstand hältst. Irgendwann ist sie wie eine Droge. Du musst nur stark genug sein, sie abzuweisen.“
„Aber er hat mich doch geküsst. Vorhin, als wir uns wiedergefunden haben“, entgegnete sie erschrocken.
Harold winkte ab. „Küsse auf den Kopf zählen nicht, und alle anderen Körperstellen sind ebenfalls höchst uninteressant. Nur der Kuss auf den Mund ist gefährlich.“
Erleichtert ließ Arrow ihre Schultern sinken. Einen Augenblick zuvor hatte sie schon das Schlimmste befürchtet. Doch als sie ihre Gedanken für eine Sekunde abschweifen ließ, schüttelte sie sich und griff dann nach ihrer Wasserflasche. „Jetzt habe ich schon gedacht, dass du mir gleich erzählen wirst, du hättest Keylam geküsst.“
„Habe ich auch“, erwiderte Harold ganz selbstverständlich und konnte anschließend noch gerade ausweichen, als Arrow ihr Wasser auf diese Worte hin in hohem Bogen wieder ausspuckte.
„Aber du hast doch eben gesagt, dass nach einem Kuss alles zu spät ist“, presste sie zwischen einem kräftigen Hustenanfall hervor.
„Bei mir und Keylam war es aber anders. Wenn du mich nicht ständig mit all deinen blöden Fragen unterbrechen würdest, hätte ich dir schon davon erzählt.“
Angewidert verzog sie ihr Gesicht. „Manche Dinge sollten lieber unausgesprochen bleiben.“
„Nun hör schon auf zu jammern. Während du dir diese Art von Zärtlichkeit zwischen ihm und mir nur vorstellst, musste ich euch oft genug in der Realität dabei zuschauen. Das habe ich auch nicht besonders appetitlich gefunden. Aber jedem das seine...“
„Ich spreche auch nicht unbedingt davon, dass ich etwas gegen die Liebe zwischen Männern habe...“, entgegnete Arrow schnippisch, und während die Worte noch nicht ganz ihren Mund verlassen hatten, tat ihr diese Bemerkung auch schon wieder leid.
Harold fühlte sich offenbar nicht davon verletzt. „Früher habe ich auch noch anders ausgesehen. Ich weiß sehr wohl um meine Erscheinung, kann daran aber auch nichts ändern. So ist das eben, wenn eine Muse von ihresgleichen verstoßen wird.“
Und da war er plötzlich – der schwache Schatten in seinen Augen. Es gab Wesen, deren Augen leuchteten ununterbrochen. Dann gab es Geschöpfe, in deren Augen überhaupt nichts zu finden war. Aber der Schatten in Harolds Augen war bei weitem das Schlimmste. Es bedeutete noch weniger als bloße Gleichgültigkeit und war nicht einfach nur nichts, sondern weniger als nichts.
„Auf jeden Fall“, fuhr Harold fort, „habe ich eines Tages Darren kennen gelernt. Er hat schon lange vor meiner Zeit im Schloss gewohnt und war während meines Auftauchens auf Reisen gewesen. Plötzlich war da ein so seltsames und gleichzeitig auch unbeschreiblich starkes Gefühl. Es heißt immer, dass Musen ihre Künstler trotz aller Tragik auch lieben. Doch in jenem Moment, als ich ihm zum ersten Mal in die Augen gesehen und seine Stimme vernommen hatte, ist mir bewusst geworden, dass das nicht stimmte. Natürlich habe ich für meine Künstler auch immer eine gewisse Zuneigung empfunden, doch wirklich richtig geliebt habe ich keinen Einzigen von ihnen.
Ich frage mich selbst heute noch, ob ich Darren jemals kennen gelernt hätte, wenn mir eine andere Muse bei Keylam zuvorgekommen wäre. Und dann denke ich daran, welch unglaublich großes Glück ich hatte.“
Arrow schluckte. Nie hätte sie es für möglich gehalten, jemals eine derart persönliche Seite an Harold kennenlernen zu dürfen. Sie hatte ja noch nicht einmal gedacht, dass er überhaupt zu solchen Gefühlen fähig war. Und nun saß er vor ihr und erzählte mit so viel Hingabe von der großen Liebe seines Lebens, dass Arrow eine regelrechte Gänsehaut bekam.
„Dabei war er noch nicht einmal besonders kreativ“, schmunzelte Harold. „Keine Muse wäre jemals auf die Idee gekommen, ihm irgendeine Art von Aufmerksamkeit zu schenken. Aber gerade diese Tatsache war ja das große Wunder. Ich hatte mich ihm nicht in der Absicht genähert, von ihm zu zehren, sondern einfach nur, weil er mich verzaubert hatte. Ich war in ihn verliebt. Sein ganzes Wesen und seine Ausstrahlung gaben mir eine Art von Energie, die ich nie zuvor gekannt hatte und die ich seither auch nie wieder erfahren durfte. Ich habe ihn geliebt – auf jede erdenkliche Art und Weise, auf die man einen Menschen nur lieben kann.
Somit habe ich mich ihm eines Tages gezeigt. Und seine Augen haben mir verraten, dass er genauso fühlt hat wie ich.
Nachdem Darren und ich unsere Liebe nicht länger vor den Anderen verheimlichen konnten, habe ich mich Sally und den anderen Schlossbewohnern gezeigt. Einige Zeit war ins Land gegangen, bis wir uns alle aneinander gewöhnt hatten, doch als es endlich so weit war, bin ich zu einem Teil der Familie geworden. Dieser Abschnitt wurde zur schönsten Zeit meines Lebens.
Mit Keylam hatte ich ein Arrangement getroffen, welches unsere Abhängigkeit voneinander auf ein absolutes Minimum reduzierte. Ich zapfte ihm nie mehr Energie ab, als ich zum Leben benötigte, und er bekam genau das Maß an Inspiration, das ihn noch aus der Masse herausstechen ließ.
Es hat eine Weile gedauert, doch irgendwann haben auch die Musen von der Liebe zwischen Darren und mir erfahren. Und ab diesem Zeitpunkt nahm die Tragödie ihren Lauf.
Musen sind normalerweise Einzelgänger, doch sie verbünden sich, sobald sie den zarten Schleier ihrer Existenz in Gefahr sehen. Sie geben unheimlich viel auf ihren Ruf als mystische Gestalten, die stets ganz nah und doch nicht greifbar sind. Es gehört zu ihrer Überzeugung, dass ihnen diese Eigenschaft zusätzliche Macht verleiht. Welch ein Künstler ist nicht von dem Gedanken verzaubert, dass urplötzlich ein überirdisch schönes Wesen in sein Leben tritt, das nur er allein sehen kann, das ihn hört, versteht und unterstützt? Ein heimlicher Geliebter ganz für sich allein.“
„Das klingt in der Tat sehr verführerisch“, stimmte Arrow ihm melancholisch zu. „Aber all das befände sich doch nicht aufgrund der Andersartigkeit eines Einzelnen Individuums in Gefahr.“
Harold lachte schwach. „Wenn nur alle so denken würden … Ich hatte es selbst auch nie für möglich gehalten. Doch wie es aussieht, stehen wir diesbezüglich mit unserer Meinung so ziemlich allein da.
Die Musen haben mir damals untersagt, meine Verbindung mit Darren fortzuführen. Sie haben von mir verlangt, Keylam freizugeben und dem Schloss mitsamt seinen Bewohnern für immer Lebewohl zu sagen. Die Folgen wären verheerend gewesen. Eine andere Muse hätte sich an meiner Stelle an ihn gebunden. Das hätte sein Ende bedeutet.“
„Und warum hatten sie plötzlich ein derart großes Interesse an Keylam?“, fragte Arrow. „Es hat sich doch auch vorher keiner von ihnen um ihn geschert.“
„Das war purer Zufall“, winkte Harold ab. „Die Suche nach einem wahren Künstler ist ebenso schwer wie die nach einem unbearbeiteten Diamanten. Du erkennst ihn nicht sofort, und es bedarf viel Arbeit, Zeit und Fingerspitzengefühl, um ihn zum Strahlen zu bringen. Unter der Vielfalt an Individuen, die diese und jede andere Welt zu bieten hat, sind Künstler eine absolute Rarität.“
„Und nachdem du den Diamanten namens Keylam gefunden und aus dem Fels geschlagen hattest, wurde er zu einem begehrten Sammlerstück“, schlussfolgerte Arrow.
Harold nickte. „Unter Musen gibt es das ungeschriebene Gesetz, sich bei derartigen Sammlerstücken niemals in die Quere zu kommen. Der Entdecker des Künstlers ist der alleinige Anspruchsteller. Neid spielt immer eine große Rolle, doch nie zuvor in der Geschichte wurde von einer Muse verlangt, die Rechte an ihrem Diamanten abzutreten. Die Demütigung vermag ich nicht in Worte zu fassen.“
Kraftlos lehnte Harold seinen Kopf gegen den Baum und blickte gen Himmel. Die Erinnerungen an jene Zeit spielten sich wie ein Film in seinen Gedanken ab. Es kostete ihn unfassbar viel Energie, das alles noch einmal durchleben zu müssen.
„Und während der Krieg zwischen mir und den Musen in den Mauern des Schlosses entbrannt war, bahnte sich vor dessen Toren ein weiterer an. Es geschah zu jener Zeit, als die Nyriden ihrer erhaltenen Seelen beraubt wurden. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass die schönsten und die dunkelsten Tage meines Lebens so nahe beieinander liegen würden.
Gefahren lauerten überall. Doch ebenso weitläufig hatten auch wir unsere Spione, und auf eine erschreckende Nachricht folgte die nächste. Während die Musen mich meiner Energien beraubten und planten, mich ermorden zu lassen, erfuhren wir, dass die Nyriden einen Anschlag auf Keylam vorbereiteten. Sie machten ihn für das Elend dieser Welt verantwortlich und waren von der irrwitzigen Ansicht überzeugt, dass sein Tod die lang ersehnte Erlösung herbeiführen würde.“
„Warte mal“, unterbrach ihn Arrow. „Die Geschichte mit Keylam ist mir bekannt. Was ich allerdings nicht verstehe, ist, wie man einer Muse ihre Energien rauben kann und was das bewirken soll.“
„Es sind die Reserven, die ich in einen Künstler investieren muss, bevor ich mich von ihm ernähren kann. Sobald ich nicht mehr darüber verfüge, kann ich mich in einem ganzen Ballsaal voller Künstler befinden und würde doch verhungern. Die eine oder andere Muse hat schon auf diesem Weg ihr Leben verloren. In den meisten Fällen waren es junge, unerfahrene Individuen, die zu gierig waren und sich nicht rechtzeitig auf die Suche nach einer neuen Quelle begeben haben.“ Harold senkte seinen Blick. Nach einem Moment des Schweigens fuhr er betrübt fort: „Ich wäre heute tot, wenn die Grüne Lady mich nicht gerettet hätte.“
„Elaine?“, fragte Arrow hellhörig. „Was hat sie getan?“
„Sie hat mich unter ihren Schutz gestellt und meinem Sterben Einhalt geboten. Es hätte nicht mehr viel gefehlt. Ihr Einschreiten kam praktisch in letzter Sekunde.“
„Deshalb trägst du ihr Zeichen an deinem Körper“, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.
Harold nickte. „Es hat die Endgültigkeit verhindert, und gleichzeitig hat es mich zu dem gemacht, was ich heute bin – ein Mann, der niemals aufgehört hat zu hungern und für den Leid zu einem ständigen Begleiter geworden ist. Es haftet an mir wie ein Schatten. Gemeinsam zehren wir voneinander bis in alle Ewigkeit und werden selbst dann noch aneinander gebunden sein, wenn die Welt, in der wir einst gelebt haben, längst vergessen ist.“
„Das hat dich zu dem gemacht, was du heute bist“, flüsterte Arrow entrüstet. „Deine Erscheinung, dein Gemütszustand und dein Verhalten gegenüber Anderen … rührt alles daher.“
Harold atmete schwer. Es sah aus, als würde ihm etwas den Brustkorb zuschnüren. „Darren hat meine äußerliche Veränderung nie gestört. Er hatte nie aufgehört, in mir die Person zu sehen, in die er sich einst so unsterblich verliebt hatte. Dann haben wir geheiratet, und das wurde zum schönsten und zugleich letzten glücklichen Ereignis meines Lebens.
Die Nyriden haben uns in jener Nacht angegriffen und das Schloss in Brand gesteckt. Zu dem Zeitpunkt hatten wir schon lange mit diesem Angriff gerechnet. Alles war bestens vorbereitet, doch nur Keylam, Sally, Darren und ich waren in die Pläne eingeweiht. Keylam flüchtete in das Zwergenreich, während wir es so aussehen lassen sollten, als wäre er bei dem Feuer ums Leben gekommen. Wir hattn alles genauestens durchdacht – bis auf einen einzigen Punkt – die Musen. Sie überraschten Darren, während er sich noch im Schloss aufhielt, und gaben ihm Schlafpulver. Er hatte keine Chance.“
Harold schluchzte. Doch während er seinen Tränen Einhalt gebieten konnte, hatte Arrow den Kampf gegen die ihren längst aufgegeben. Immer wieder musste sie sich ihre Augen reiben, um wieder klar sehen zu können, nur damit Sekunden später wieder alles verschwamm.
„Die ganze Zeit hatte ich so etwas wie eine Vorahnung, ein ungutes Gefühl im Bauch. Bis zum Schluss hatte ich die Hoffnung, dass ich mich irren würde, nicht aufgegeben. Doch als ich seine tote Hülle schließlich in meinen Armen hielt, ist der Himmel über mir zusammengebrochen.
Sally sagte, er habe keine Schmerzen gespürt. Der Rauch habe seinen Geist friedlich auf die andere Seite getragen. Aber selbst das ist nur ein schwacher Trost, wenn man bedenkt, dass er nur meinetwegen sterben musste. Die Musen bezeichneten es später als Rache an meinem Verrat. Da sie mich nicht töten konnten, verlangten sie nach einem anderen Opfer. Seither wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass Elaine mich nicht unter ihren Schutz gestellt hätte.
Heute werde ich von den Musen ignoriert. Sie versuchen mich aus ihrer Geschichte zu streichen. Kein einziger von ihnen hat mir seither einen Funken Beachtung geschenkt. Sie haben mir das Kostbarste genommen und treten mich trotzdem noch immer mit Füßen.“
Arrow schluckte. Was Harold ihr da erzählte, war schlimmer als alles, was sie sich je hätte ausmalen können. Und plötzlich wurde er für sie zu einem Anderen. Und sie verabscheute sich selbst, ihn derart herablassend behandelt zu haben.
„Du hast es vielleicht gespürt“, murmelte Harold.
Arrow runzelte die Stirn und überlegte. „Da war etwas“, entgegnete sie. „Kurz bevor ich das Tor zur Unterwelt durchschritten habe, hat es einen Moment voller Abscheu in mir gegeben. Doch es hat sich derart befremdlich angefühlt, dass ich befürchtet habe, mein Körper würde nicht länger mir gehören. Es war, als hätte etwas Fremdes die Macht über meine Gefühle ergriffen.“
Betrübt senkte Harold seinen Blick. „Dann weißt du also, wovon ich spreche. Ich bin ein Verdammter in jeder Lebenslage. Sie übertragen ihren Hass auf andere, und insgesamt ist mein Leben so wenig lebenswert geworden, dass ich nicht einmal vor der Wilden Jagd verschont bleibe.“
Sie musterte ihn fragend. Vor der Wilden Jagd? Dann fielen ihr die entgeisterten Gesichter ihrer Familie wieder ein, als sie ihnen von dem Gespräch mit dem General erzählt hatte. „Es war deinetwegen“, entgegnete sie betroffen. „Die anderen haben von all dem gewusst und dich beschützt. Deshalb haben sie mich an jenem Morgen zurechtgewiesen, als ich erzählt habe, dass ich den Anführern der Wilden Jagd das Fenster geöffnet habe.“
Er nickte entkräftet. „Was ich getan habe, hat mich nicht zu einem Verbrecher gemacht. Doch das, was mir angetan wurde, hat einen Teil in mir sterben lassen und mich damit zu einem Verdammten werden lassen. Deshalb lauert die Wilde Jagd darauf, mich eines Tages in die Finger zu kriegen. Mit meiner Hilfe wollen sie die Taten rächen, die meinetwegen begangen wurden. Doch der Holunderwald ist nicht das, wovon ich mir meinen Frieden erhoffe. Es löst allerhöchstens eine Art Genugtuung in mir aus, aber dieses Gefühl ist so vergänglich ... Und letzten Endes wird es mir meinen Darren nicht zurückbringen. Außerdem besitze ich keine Seele. Es gibt kein Totenreich, in das ich umsiedeln kann, wenn ich eines Tages sterbe – sofern mir das nach Elaines Schutz überhaupt noch möglich ist. Der Holunderwald wäre für alle Ewigkeit meine Endstation. Dort bin ich nicht länger Herr über mich selbst. So kann ich nicht leben. Und genauso wenig kann ich auf diese Art sterben.“
„Und als ich das Tor geöffnet habe, hast du die Chance ergriffen, dem allen entfliehen zu können, und bist mir gefolgt“, schlussfolgerte sie.
„Es war mein Glück, dass sich der Mahr in der Nacht zuvor Zugang zum Schloss verschafft hat“, erklärte er. „Als ich ihn zu fassen bekam, habe ich ihn in der Bibliothek versteckt. Und nachdem du den Eingang durchschritten hast, bin ich auf seinem Rücken durch die Welt der Sterbenden geritten. Ohne ihn wäre auch mir der Zutritt versagt geblieben. Seit dem Vorfall mit den Musen ist es mir nicht mehr gestattet, zwischen den Welten zu wandeln. Aber auf seinem Rücken bin ich unerkannt geblieben, denn ihm ist der Zugang erlaubt.“
Skeptisch schaute Arrow zu William hinüber. „Hältst du es für möglich, dass er an dem Mord an Darren beteiligt war?“
„Das glaube ich nicht“, erwiderte Harold. „Jedenfalls kenne ich ihn nicht und er hat sich damals auch nicht bei mir zu der Tat bekannt.“
Empört musterte Arrow ihn. „Soll das heißen, dass die Musen damit geprahlt haben?“
„Sie sind unglaublich arrogante Geschöpfe und der Ansicht, dass ohne sie nichts und niemand existieren würden.“
Arrow schwieg. Sie wusste, dass es einige Zeit dauern würde, bis sie Harolds Erzählungen verdaut hatte. Gleichzeitig war sie von sich selbst enttäuscht. Jeder hatte eine Geschichte zu erzählen. Doch sie hatte sich dermaßen um ihre eigene gekümmert, dass ihr der Blick für andere weitestgehend verlorenen gegangen war.
Wortlos nahmen sie ihre Reise wieder auf. Während William damit beschäftigt war, die richtige Route zu finden und vorweg zu marschieren, folgten Arrow und Harold ihm nachdenklich. Zwischen ihnen wandelte der Fenriswolf. Arrow war froh, dass er sie begleitete. Tiere waren so viel angenehmere Weggefährten, sogar die Götter unter ihnen. Der Wolf sprach auch ohne Worte zu ihr und spendete ebenso Trost. Blicke genügten, um Gefühlslagen auszudrücken. Sie musste ihm nicht erklären, dass da etwas auf ihrem Herzen lastete, über das sie nachzudenken hatte, und dass ihre Niedergeschlagenheit nicht ihm galt.
William hatte Harold noch immer keines Blickes gewürdigt, und dieser nahm es ohne zu protestieren hin. Obwohl es noch immer ein Indiz dafür sein konnte, dass William Recht behielt und Harold lediglich ihrer Fantasie entsprungen war, ärgerte sie dieses Verhalten. Gleichzeitig machten ihr diese Gedanken auch Angst. Sie fürchtete, den Blick für das Wesentliche verloren zu haben und dadurch falsche Entscheidungen zu treffen.
Als William stehen blieb, wurde Arrow aus ihren Überlegungen gerissen. „Was ist?“
„Wir sind da“, antwortete er ehrfürchtig.
Vor ihnen lag die goldene Brücke Gjallarbrú, welche über den Todesfluss Gjöll führte. Genau wie es die Sage in die Welt der Lebenden überliefert hatte, wachte die Riesin Modgudr vor ihr und wartete darauf, dass verirrte Seelen vortraten, deren Namen und Herkunft sie protokollieren konnte.
Es war das erste Mal, dass Arrow auf eine weibliche Vertreterin dieser Gattung traf. Aber obwohl sie von der Riesin mit einem strengen Blick gemustert wurde und Modgudrs Erscheinung durchaus respekteinflößend wirkte, hatte Arrow vor ihr nicht die gleiche Angst wie vor den männlichen Riesen.
Im Schneidersitz balancierte sie mehrere Schriftrollen auf ihren Beinen und hielt bereits ihre Feder gezückt, um die Angaben der Neuankömmlinge zu notieren. Nachdem sie jeden eingehend gemustert hatte, sprach sie mit donnernder Stimme zu Arrow: „Ich benötige nur deine Daten.“
„Arrow Fall“, entgegnete sie eingeschüchtert.
Argwöhnisch legte die Riesin Papier und Feder beiseite und betrachtete sie erneut. „Wie lautet dein Anliegen?“
„Ich bin auf der Suche nach der Unterweltenherrscherin Hel.“
„Bist du sicher?“, fragte die Riesin skeptisch. „Du bist weder tot, noch verloren. Außerdem birgst du eine reine Seele in deinem Körper.“
Arrow knirschte mit den Zähnen. Schon wieder ein höheres Wesen mit einer vernebelten Weltansicht. Wenn das Schicksal ihrer und aller anderen Welten von derartigen Wunschdenkern abhing, konnte das ja noch heiter werden.
„Es ist von höchster Wichtigkeit“, entgegnete Arrow schon mutiger. „Wenn ich es nicht tue, werde ich mit Sicherheit sehr bald schon verloren sein.“
Modgudr beugte sich vor und schaute Arrow lange und mit festem Blick in die Augen. Für einen Moment fühlte es sich ganz seltsam an. Die Riesin tauchte in Arrows Seele ein und gab gleichzeitig einen Teil ihrer eigenen Seele preis. Arrow sah ganze Scharen von Reisenden, die die Brücke überquerten. Wie so oft waren es die Kinder, deren Anblick sie am stärksten zusammenzucken ließ. Ihre hoffnungslosen Augen stachen wie ein spitzer Dorn in ihr Herz. Doch da war noch mehr. Arrow fühlte, dass es Modgudr ebenso ergangen war – bei jedem einzelnen von ihnen.
Als sich die Riesin wieder zurücklehnte, sah Arrow sie plötzlich mit anderen Augen. Sie kam ihr so vertraut, zugleich aber auch noch immer so fremd vor. Jetzt waren beide Verwandte im Geiste.
Arrow wusste, dass Modgudr in ihre stärksten Erinnerungen, leidenschaftlichsten Empfindungen und tiefsten Ängste eingetaucht war. Doch anstatt es ihr übelzunehmen, empfand sie Dank. Denn die Riesin hatte ihr im Gegenzug die gleichen Einblicke gewährt.
Obwohl Modgudr Papier und Feder wieder aufnahm, notierte sie Arrows Angaben nicht und sprach stattdessen: „Die Reise sei dir gestattet, doch hüte dich vor dem Vergessen. Die reine Seele in deinem Inneren mag dich bisher vor dem Schlimmsten bewahrt haben, doch es steht nicht in ihrer Macht, dich auf ewig davor schützen zu können.“
Arrow runzelte die Stirn. Für sie waren diese Worte nichts als ein Rätsel. Aber zum ersten Mal war sie über die Anmerkung bezüglich ihrer angeblich reinen Seele nicht verärgert, sondern dankbar. Warum das so war, wollte sich ihr jedoch nicht erschließen.
Nachdenklich schritt Arrow an der Riesin vorbei und betrat die Brücke, auf der sie bereits von William, Harold und dem Fenriswolf erwartet wurde.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte William fürsorglich.
„Eine neue Freundschaft in weniger als zwei Minuten“, entgegnete Arrow überrascht. „So schnell habe ich das noch nie geschafft.“
Noch einmal ließ sie ihren Blick zurück schweifen und schenkte der Riesin ein Lächeln, bevor sie sich endgültig von ihr abwandte und ihren Weg fortsetzte.