Die Welt der Sterbenden
Es war weder kalt noch heiß in der Welt der Sterbenden. Licht und Schatten regierten hier gleichermaßen. Dunkle, Furcht erregende Gestalten sprangen zwischen den Welten hin und her.
Die Welt der Sterbenden bestand aus unzähligen Fenstern, die alle dicht aneinander gereiht waren. Mittendrin ebnete ein Pfad den Weg auf die andere Seite. Arrow kannte diesen Übergang. Mit Stone hatte sie ihn schon einmal beschritten. Hier hatten sich ihre Wege getrennt, denn Keylam hatte sie rechtzeitig in die Welt der Lebenden zurückgeholt. Damals wie auch jetzt war der Pfad mit Reisenden, die auf die andere Seite wandelten, überfüllt.
Sleipnir schwebte hoch über ihren Köpfen, wo sich Dämonen in den Schatten versteckten und Sterbende unmerklich auf die andere Seite glitten oder gewaltsam ihrer Welt entrissen wurden. So viele waren es in jedem einzelnen Moment. Und der Tod machte weder vor Reichtum noch Armut oder gar dem Alter Halt. In diesem Augenblick blieb nichts vor Arrows Augen verborgen. So sah sie zum Beispiel einen Großvater, der gerade noch fröhlich mit seinen Enkeln spielte – im nächsten Augenblick griff er sich mit schmerzverzehrtem Gesicht an die Brust und glitt wenige Sekunden später auf die andere Seite hinüber. Ein Baby starb der Mutter in den Händen und eine alte Frau ereilte der Tod ganz friedlich im Schlaf. Hier war das Ende allgegenwärtig. Sogar in den Holunderwald hatte Arrow Einblick. Ein Mann, der kaum mehr als Haut und Knochen war, wurde von einem der Dämonen gepackt und davon geschleppt. Seine Schreie hallten noch lange in der Unendlichkeit wider.
Auf der anderen Seite starb ein Mann am Galgen, während seine kleine Tochter herzzerreißend rief, dass er sie nicht verlassen solle. Arrow traf dieses Erlebnis wie ein Schlag. Sie wollte wegschauen, doch als sie ihre Augen schloss, konnte sie noch immer all die traurigen und furchteinflößenden Ereignisse sehen. Erschrocken zuckte sie zusammen.
„Ganz ruhig, mein Herz“, hörte sie die ihre bekannte Stimme in ihr Ohr flüstern. „Bald sind wir da und dann ist es vorbei.“
Verwundert hielt Arrow inne. Das war sie zweifellos – die Stimme aus ihrem Kopf. Nur sprach sie dieses Mal eindeutig nicht aus ihr, sondern von außerhalb.
Als sie sich vorsichtig umdrehte, um einen kurzen Blick zu riskieren, sah sie ihn endlich. Er war bleich und schön und sein Gesicht hatte die Züge eines Edelmannes.
Eingeschüchtert blickte sie wieder nach vorn. Er war es. Das war eindeutig der Mann, der sie in ihren Träumen immer beobachtet hatte. Zwar hatte sie ihn noch immer nicht in seiner absoluten Gänze sehen, geschweige denn betrachten können, doch Zweifel waren ausgeschlossen.
Während Arrow sich ängstlich an Sleipnirs Mähne festhielt, führte der Mann das Ross an den Zügeln. Seine Hände waren schlank und weiß – keine einzige Ader zeichnete sich unter seiner Haut ab. Er trug wohl äußerst kostbare Kleidung, denn der Stoff an den Ärmeln wirkte überaus gepflegt. Die Manschetten des tiefschwarzen Gehrocks waren dezent bestickt und die ebenfalls schwarzen Manschettenknöpfe funkelten wie Diamanten.
„Gibt es eine Möglichkeit, das alles hier nicht mit ansehen zu müssen?“, fragte Arrow scheu.
„Leider nein“, antwortete ihr Begleiter. „Man kann seine Augen vor vielen Dingen verschließen, nur vor dem Tode nicht.“
Arrow zuckte zusammen. Er war wirklich da. Der Mann aus ihren Träumen war ihnen entsprungen und redete dieses Mal wirklich mit ihr. Es war nicht länger eine Wahnvorstellung.
„Schau sie nicht an“, sagte er, als Arrow von einem der Schattendämonen bedrohlich angefaucht wurde. „Sie wollen nicht beobachtet werden, denn sie leben in Einsamkeit.“
Vorsichtig ließ Arrow ihren Blick umherschweifen. Hinter vielen Fenstern tauchten die Schattendämonen auf. Einige von ihnen sprangen nur durch die Welt der Sterbenden in ein anderes Fenster und verschwammen dort mit der Finsternis. „Aber es gibt so viele von ihnen.“
„Und doch sehen sie einander nicht“, erwiderte der Mann flüsternd. „Diese Wesen sind dazu verdammt, auf ewig im Dunkeln zu tappen. Allerhöchstens haben sie eine Ahnung von ihresgleichen. Es sind erbärmliche Kreaturen, die sich einst in dem innigen Wunsch nach einer Seele selbst verloren haben. Das Verlangen danach hat sie unsterblich werden lassen, und trotzdem zahlen sie einen grauenvollen Preis für ihr Begehren.“
Es nahm kein Ende. Wohin Arrow auch immer blickte, fand sie nur Leid, Trauer, Verzweiflung und sogar Mord. Einige wenige Lichtwesen schwebten umher, die sie mit ihren Blicken jedoch nie vollständig erfassen konnte. Auf einer Seite blitzten sie kurz auf, und so schnell Arrow ihren Kopf auch zur Seite drehte, die Lichtwesen waren ihr immer voraus.
Von all den mitfühlenden Ereignissen überfordert, lehnte sie sich erschöpft zurück und versuchte ihre Gedanken ruhen zu lassen. Doch die Luft war mit Klagerufen überfüllt, aber gelegentlich ertönten auch Freudenschreie über das Ableben einiger Weniger.
Doch ganz egal, welcher Natur die Rufe auch waren, sie klangen furchterregend.