Schneeglöckchen
Was Anne in dem Moment, da sie die Schneeglöckchen erblickte, durch den Kopf ging, konnte Arrow nur erahnen. Resignierend sank die alte Frau in ihren Sessel zurück, als wäre etwas eingetroffen, das sie längst schon befürchtet hatte. „Und du bist dir wirklich sicher, dass die von Keylam sind?“, fragte sie argwöhnisch.
Schweigend holte Arrow Keylams Brief, den sie neben den Blumen gefunden und seitdem wie einen Schatz gehütet hatte, aus ihrer Tasche und reichte ihn Anne. Diese überflog die Zeilen mehrere Male und starrte anschließend nicht zu deutende Löcher in die Luft.
Als die Spannung beinahe unerträglich wurde, sagte Arrow: „So lange haben die Schneeglöckchen noch nie geblüht. Und auch sonst haben sie ihre Blüten immer sofort geschlossen, sobald Keylam eingeschlafen war. Diese hier sehen allerdings noch genauso aus, wie ich sie vor einigen Tagen vorgefunden habe. Selbst in der Zwischenzeit haben sie sich kein einziges Mal verändert.“
Anne erwiderte nichts. Als sie sich aus ihrem Sessel erhob und wortlos zu den Bücherregalen ging, wurde die Situation sogar noch drückender. Ein Blick auf die unteren Titel hatte ihr offenbar verraten, dass sie zwei Treppen höher fündig werden könnte. Einen Moment lang war Adam um die Frage verlegen, ob er ihr helfen könne. Doch wie er mit der Zeit hatte lernen müssen, war die alte Frau sehr eigenwillig und scheute keine Bitte um Hilfe – sofern diese denn auch erforderlich war.
Die Minuten vergingen, und während Anne ein Buch nach dem anderen aus den Regalen holte, durchblätterte und anschließend wieder zurückstellte, ruhten die Blicke vieler schweigender Personen auf ihr. Plötzlich erhellte sich ihr Gesicht. „Fang!“, rief sie und warf es Arrow zu.
Von dem kräftigen Wurf überrumpelt, konnte Arrow das Buch gerade noch so fangen. Um Haaresbreite wäre es ihr aus der Hand geglitten. Obwohl sie schon lange um Annes besondere Rolle in dieser Welt wusste, verblüffte es sie dennoch jedes Mal wieder, daran erinnert zu werden. Für Arrow passten die äußerliche Erscheinung einer alten Frau und die innere Kraft eines Riesen einfach nicht zusammen. Bei den Zwergen verhielt es sich wiederum ganz anders. Mit deren kleiner Statur und den gewaltigen Mächten konnte sie sich gut anfreunden. Aber vielleicht lag es auch einfach nur daran, dass sie ihre Anne schon von klein auf kannte. Und da, wo sie aufgewachsen war, verhielten sich Leute in dem Alter einfach anders.
Da Arrow noch immer nicht imstande war, sich aus ihrer Verwunderung zu lösen, las Dewayne den Titel des Buches vor: „Persephone.“ Anschließend fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen: „Ist das eine Frage auf irgendwelche Ungereimtheiten oder eher eine Antwort?“
„Es ist eine Möglichkeit“, entgegnete die alte Frau und ließ sich wieder in ihren Sessel sinken.
Inzwischen hatte Arrow das Buch grob durchgeblättert und den Wink nach dem Überfliegen der ersten Seiten verstanden. „Kore!“, rief sie erfreut.
Anne nickte. „Einst wurde sie so genannt.“
Lächelnd strich Arrow über den Buchdeckel. „Deshalb habe ich nichts weiter über sie gefunden. Persephone und Kore sind ein und dieselbe Person.“
„Persephone war nicht einfach nur eine Person“, warf Anne belehrend ein. „Vom Augenblick ihrer Geburt an war sie ein außergewöhnliches Kind. Nicht umsonst ist Hades seinerzeit aus der Unterwelt empor gestiegen. Einfach nur irgendeiner Frau wegen wäre er niemals so weit gegangen. Und vor Kores Existenz hat er nie auch nur einen Gedanken an die Liebe verschwendet, ganz zu schweigen davon, dass er niemals auf der Oberfläche danach gesucht hätte.“
Arrow sah fragend in die Runde. „Soll das bedeuten, dass es einen Weg aus der Unterwelt gibt?“
Anne nickte. „Vor allem aber bedeutet es, dass es auch einen Weg in die Unterwelt gibt, und dieser beinhaltet nicht zwingend den Tod.“
Arrows Kopf wurde von Gedanken überschwemmt. Nachdenklich begab sie sich zum Sekretär und begann in dem Buch zu lesen.“
„Das ist absurd“, kommentierte Dewayne verächtlich Annes Theorie. „Es gibt keinerlei Beweise, dass die Geschichten von Hades und Persephone wahr sind. Genauso gut könnte man auch dem Traum vom Schlaraffenland hinterher jagen. Es ist ein Märchen, sonst nichts.“
Hochmütig funkelte Anne den Elf an. „Genau wie die Geschichten über Drachen und Elfen?“, entgegnete sie auf seine Zweifel.
Nachdem Neve wieder zurückgekehrt war, strich sie Ardor sanft über den Kopf. Der Drache döste gern neben dem Kamin und spie gelegentlich etwas Feuer hinein, damit es nicht erlosch. Bei Neves Streicheleinheiten brummte er gemütlich.
Nachdenklich legte Arrow das Buch zur Seite. „Aus welchem Grund erzählst du uns das eigentlich alles?“, fragte sie Anne argwöhnisch. „Welchen Sinn sollte eine Reise in die Unterwelt machen?“
Anne antwortete nicht sofort. Ihre Vermutung mochte nicht unbegründet sein, doch die Tatsache, dass sie vor allem grausam war, machte es ihr schwer, sie auszusprechen.
„Ich halte es nicht länger für ausgeschlossen, dass Keylam und Urban einem Verbrechen zum Opfer gefallen sind. Das mit den Schneeglöckchen ist kein Zufall, sondern ein Zeichen. Und wir sollten herausfinden, was es damit auf sich hat. Aber vermutlich werden wir die Antworten auf unsere Fragen nur im Reich der Toten finden.“
Arrow zuckte zusammen. Ein Verbrechen? Wer würde so etwas tun? Aber die Überlegung, wer es nicht tun würde, würde mit Sicherheit weniger Zeit in Anspruch nehmen.
„Und jetzt sollen wir nach einer Möglichkeit suchen, wie man in die Unterwelt gelangt?“, entgegnete Dewaye schroff. „Welchen Nutzen sollte das haben? Und welchem Zweck dient es, Arrow schon wieder eine solche Bürde aufzuerlegen? Hat sie in den letzten Tagen nicht genug durchgemacht?“
„Das reicht!“, fuhr Anne ihn an. „Nichts liegt mir ferner, als sie zusätzlich zu belasten. Doch hier geht irgendetwas vor sich, das vermutlich nicht nur Keylam aus dem Weg schaffen sollte. Wäre es nicht an dem, hätte es den Zwischenfall mit der Traumreise sicher nicht gegeben. Niemand legt sich grundlos mir einem Elfenkönig an. Und es hätte dich nicht ins Wanken bringen können, wenn es nur ein Hirngespinst oder ein Laienzauber gewesen wäre.“
„Das sind doch alles nur Spekulationen!“, erwiderte Dewayne aufgebracht. „Einerseits möchtest du Arrow vor allem Möglichen beschützen, doch auf der anderen Seite mutest du ihr die Last eines solchen Verdachts zu?“
Zwischen ihm und Anne entbrannte ein erbitterter Streit, doch Arrow war mittlerweile so sehr in das Buch über Persephone vertieft, dass sie davon kaum noch etwas mitbekam. Jede noch so winzige Information sog sie in sich auf. Bis in die frühen Morgenstunden hatte sie mehrere Büchertürme auf dem Sekretär angehäuft, die sie jedoch wenig zufrieden gestellt hatten. Mit ihrem krausen Haar und den müden Augen wirkte sie wie ein Nachtgespenst.
Abwesend wollte sie noch etwas von dem Tee, welchen Sally ihr vor dem Schlafengehen zubereitet hatte, nachschenken, doch die Kanne war bereits leer.
Unbeeindruckt schlurfte sie durch die Gänge und setzte neues Wasser auf. Während sie wartete, lehnte sie erschöpft an der Wand. Hätte sie in der Küche Platz genommen, so wäre sie vermutlich mit dem Kopf auf der Tischplatte eingeschlafen. Solange sie stand, würde ihr das nicht passieren – hoffte sie jedenfalls.
Draußen tobte die Wilde Jagd. Fenster und Türen klapperten, schamloses Gekicher ertönte und irgendein nervtötender alter Mann schrie ununterbrochen nach seinen Socken. Arrow wusste nicht im Geringsten, was das zu bedeuten hatte. Anfangs hatte sie sich noch die Frage gestellt, ob diese Person keine anderen Sorgen hätte. Mehrmals hatte sie an den Vorabenden schon ein zusammengeknotetes Paar ihrer eigenen Socken vor das Eingangstor gelegt, in der Hoffnung, dass er dann endlich die Klappe halten würde. Doch bisher war der Plan nicht aufgegangen.
Als das Wasser endlich fertig war, und Arrow ihren Tee aufgoss, kam ihr ein Gedanke. Sie schlug sich an die Stirn und rief: „Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen?“
Flink lief sie zu einem der Fenster und öffnete die Läden. Von einem der Jagdblitze geblendet, konnte sie für einen Moment nichts sehen. Als die Umrisse endlich klarer wurden, wünschte sie sich sofort, niemals auf eine solch bescheuerte Idee gekommen zu sein.
Direkt vor ihr befand sich der General, der Arrow mit seiner hässlichen Fratze breit angrinste.
Anstatt die Läden wieder zuzuschlagen, öffnete Arrow auch noch das Fenster, und der Ekel erregende Gestank ihres Gegenübers hätte sie beinahe veranlasst, das Abendessen wieder hoch zu würgen. Aus ihr unerfindlichen Gründen wollte sie aber unbedingt Haltung bewahren und beherrschte sich mit aller Kraft.
„Ist Keylam bei euch?“, fragte sie erwartungsvoll.
Das Grinsen des Generals erstarb. Mit beinahe hilfloser Miene schüttelte er den Kopf.
„Habt ihr vielleicht andere Informationen über sein Verschwinden?“, bohrte Arrow weiter. „Wisst ihr etwas über seinen Tod?“
Der Blick des Generals durchbohrte Arrows Augen, als wollte er direkt in ihre Seele schauen. Doch sie hielt ihm Stand und machte keine Anstalten, Angst der Entschlossenheit vorzuziehen.
„Der Phönix ist nicht tot“, antwortete der General mit dunkler, Furcht einflößender Stimme. Und bevor Arrow sich versah, wandte er sich von ihr ab und packte einen hässlichen, fetten Mann, dessen Hände vollkommen blutverschmiert waren. Offensichtlich hatte der Kerl es auf Arrow abgesehen. Mit geweiteten Augen und Kampfgebrüll kam er auf sie zugeflogen. Und auch nachdem dieser Irre vom General gepackt wurde, wandte er seinen Blick nicht von ihr ab. Plötzlich hatte Arrow sehr viel mehr Angst vor diesem Mann als vor Frau Perchtas Gefolge. Panik breitete sich in ihr aus und lähmte sie derart, dass sie unfähig war, das Fenster zu schließen.
Da tauchte – wie aus dem Nichts – Frau Gaude auf. „Hast du sie noch alle?“, schrie sie Arrow an, schubste sie zurück und knallte die Läden zu.
Noch bevor Arrow begreifen konnte, was da gerade geschehen war, öffneten sich die Läden wieder einen Spalt breit, und ein halbes Dutzend Sockenpaare kamen auf sie zugeflogen. „Und lass gefälligst diesen Scheiß!“, hörte sie Frau Gaude rufen. Dann schlossen sich die Läden abermals. Der Lärm der Wilden Jagd entfernte sich und kurz darauf verkündete der Hahnenschrei den Beginn eines neuen Tages.
Grey schreckte auf, als es an Annes Schlafzimmer klopfte. Ohne eine Antwort abzuwarten, stürzte Arrow zur Tür hinein. Heftig atmend setzte sie sich zu ihrer Großmutter aufs Bett, die müde mit den Augen klimperte.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte sie besorgt.
„Keylam ist nicht tot!“, antwortete Arrow aufgeregt.
Plötzlich war Anne hellwach. „Woher weißt du das?“, fragte sie hellhörig und setzte sich auf. Dann erzählte Arrow von den Erlebnissen der letzten Stunde. Währenddessen hörte ihre Großmutter genauestens zu. Weder stellte sie Fragen, noch nickte sie als Zeichen, dass sie folgen könne.
„Anne“, sprach Arrow mit leuchtenden Augen, „ich denke, dass du – was eine Reise in die Unterwelt angeht – Recht haben könntest.“
Liebevoll umklammerte sie die Hand ihrer Enkelin. „Kind, bitte sei so gut und wecke die anderen. Wir sollten reden.“
Bevor Arrow die Chance bekam, auch nur ein einziges Wort zu sagen, riss Sally die großen Küchenfenster weit auf.
„Anstatt deine Nase ständig nur in Bücher zu stecken, hättest du auch mal ein Bad nehmen können“, murmelte Harold ihr anstelle einer Begrüßung zu.
„Hast du etwa ein Problem damit, dass andere riechen, wie DU aussiehst?“, entgegnete Arrow giftig.
„Das stinkt ja, als wäre ein Percht hier im Schloss gewesen“, sagte Sally und wedelte sich dabei Frischluft zu. Als Anne schließlich eintraf und Arrow erzählte, dass sie mit dem General am offenen Fenster gesprochen hatte, wurde die Köchin ganz bleich.
„Kind! Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Du kannst doch keinem der Jäger öffnen!“
„Sie haben mir ja nichts getan. Im Gegenteil – Frau Gaude und der General haben mich sogar verteidigt“, erwiderte Arrow beschwichtigend.
„Leider ändert das nichts an der Sache“, warf Neve besorgt ein. „Wenn sich die Geister Zutritt zum Schloss verschafft hätten, hätte das ein böses Ende nehmen können.“
„Aber ich habe euch doch erzählt, was Frau Perchta über die Gerüchte gesagt hat“, entgegnete Arrow aufgelöst. „Die Wilde Jagd geht nicht einfach so wahllos auf jeden zu, der ihren Weg kreuzt. Und schließlich hat hier keiner von uns etwas zu verbergen.“
Sally und Anne wechselten viel sagende Blicke, und das verunsicherte Arrow. Obwohl letzten Endes nichts geschehen war, ärgerte sie sich plötzlich, nicht wenigstens die Küchentür versperrt zu haben. Normalerweise hätte das zwar keinen Dämon daran hindern können, noch weiter in das Schloss vorzudringen, da aber der Morgen zu dem Zeitpunkt nicht mehr fern war, hätte es Zeit geschunden. Wenn sie die Blicke richtig deutete, hatte sie ihre Familie in große Gefahr gebracht.
„Schon gut, Kind. Ich denke nicht, dass das noch einmal vorkommen wird“, schloss Anne das Thema. Ihren Blicken war nicht entgangen, was in Arrow vorging. Ihrer Enkelin war bewusst geworden, dass etwas hätte passieren können. Außerdem gab es viele Geheimnisse in den Mauern dieses Schlosses, die nicht für Arrows Ohren bestimmt waren. Es hatte nichts mit ihr zu tun und Anne wollte um jeden Preis verhindern, dass ihre Enkelin sich mit Dingen befasste, die sie zusätzlich zu ihren eigenen Problemen belasten könnten.
Um schnellstmöglich vom Thema abzulenken, sagte sie: „Wir sollten uns umgehend daran machen, gemeinsam die Bibliothek zu durchkämmen. Wir müssen jetzt zusammenarbeiten, bevor uns die Zeit davon läuft.“
Gesagt, getan. Bis auf Sally, die gelegentlich in die Küche verschwand, um Tee und Mahlzeiten zuzubereiten, gab es für alle anderen an diesem Tag nur Bücher.
Der Phönix ist nicht tot. Wieder und wieder gingen Arrow diese Worte durch den Kopf. Bis spät in die Nacht hatten sie zusammen so viele Bücher nach Hinweisen durchwühlt, dass die Zeilen vor ihnen verschwommen waren. Ihre Augen waren müde, sie tränten und taten weh.
Wütend knallte Arrow eines der Bücher zu. „Ich verstehe das nicht!“, rief sie verärgert. „Überall werden Besuche in der Unterwelt kurz angedeutet, doch nirgends genauer beschrieben. Es muss doch irgendwo einen Bericht darüber geben, wie man dort wieder heraus kommt und mit welchen Gefahren zu rechnen ist.“
„Da liegt vermutlich das Problem“, erwiderte Anne, die von der Ungeduld ihrer Enkelin alles andere als begeistert war. „Wenn man die Hinweise zusammen zieht, sieht es ganz danach aus, als wäre bisher niemand von dort zurückgekehrt.“
„Aber Keylam ist doch auch schon oft von den Toten wiederauferstanden“, warf Adam ein.
„Richtig“, entgegnete Dewayne. „Allerdings ist seine Seele dabei nie bis in die Unterwelt, sondern lediglich bis zum Holunderwald vorgedrungen.“
Adam runzelte die Stirn. „Und wo war da jetzt noch gleich der Unterschied?“, fragte er verunsichert.
„Der Holunderwald ist ein Ort der Verdammnis. Dort müssen lebende Sünder sowie Tote, die vor ihrer Zeit verstorben sind, Buße tun. Ist irgendwann der Zeitpunkt ihres vorherbestimmten Todes erreicht, gelangen sie von dort aus in die Unterwelt.“
„Und da müssen sie dann weiter büßen?“
„Ja und nein“, antwortete der Elf. „Es gibt Verbrecher, deren Taten so schwerwiegend sind, dass sie direkt in Hels Reich gelangen, um dort ewige Qualen zu erleiden. Andere gelangen wiederum direkt nach Walhall.“
Adam grübelte. „Und wie ist es einem Verdammten nach seinem Aufenthalt im Holunderwald möglich, in das himmlische Reich zu gelangen?“
„Es sind ja nicht alles Sünder“, meldete Neve sich zu Wort. „Zum Beispiel gibt es traurige Schicksale verhungerter Kinder oder ermordeter Väter. Sie alle haben großes Leid erfahren und sind dazu verdammt, es bis zu jenem Tag zu beklagen, an dem sie in die Unterwelt eintreten.“
„Das hört sich ziemlich ungerecht an“, erwiderte Adam wehmütig. „Obwohl man ihnen alles genommen hat, müssen sie auch noch die Verdammnis ertragen.“
„Einfach ist es nicht“, pflichtete Dewayne ihm bei. „Dennoch ist es die einzige Chance, den Verbrecher doch noch fassen zu können. Während der Wilden Jagd klagen die Gepeinigten ihr Leid und haben somit die Möglichkeit, andere zu warnen. Verbrechen können auf diese Weise aufgeklärt und die Schuldigen zur Strecke gebracht werden.“
Arrow grübelte. Während die anderen weiterhin nach Hinweisen in den Büchern suchten, ließ sie sich auf das Sofa vor dem großen Kamin sinken und streckte ihre Glieder von sich. Juna schlief friedlich in dem kleinen Bettchen, das Adam für sie gezimmert hatte. Es war ein Weihnachtsgeschenk für Neve und Dewayne gewesen. Arrow hatte der Hinweis auf das Fest der Liebe traurig gestimmt, denn dies hätte eigentlich ihr erstes Weihnachtsfest in dieser Welt werden sollen. Keylams Verschwinden hatte dieses Vorhaben dann völlig in Vergessenheit geraten lassen. Allerdings hätte Arrow es unter diesen Umständen auch nicht feiern wollen. Es hätte das Leid der schmerzhaften Umstände nur noch verstärkt.
„Du siehst nicht besonders glücklich aus“, stellte die Elfe mitfühlend fest.
Resignierend lehnte Arrow ihren Kopf an die weiche Rückenlehne. „Wir haben die größte Bibliothek im Umkreis von zehn Tagesreisen, und trotzdem enthält sie nicht das, was wir suchen.“
Beipflichtend nickte Neve. „Ein ungeschriebenes Gesetz – was man sucht, ist die Nadel im Heuhaufen der Dinge, die man nicht braucht.“
„Dies ist nicht die größte Bibliothek“, rief Anne ihrer Enkelin vom Sekretär aus zu. „Es gibt noch eine andere.“
Frau Gaude hatte es gar nicht lustig gefunden, als sich kurz vor dem Morgengrauen wieder einmal eines der Schlossfenster geöffnet hatte und Arrows Kopf hindurch lugte.
„Ich habe dir doch gesagt, dass du diesen Blödsinn lassen sollst! Der Dickwanst braucht keine Socken. Er hat sie nicht mehr Alle und kann froh sein, dass er seine restlichen Kleider behalten darf!“
Arrow verzog das Gesicht. Die Vorstellung, dass dieser übergewichtige Irre so vollkommen nackt durch die Landschaft fliegen und nebenbei nach Socken suchen könnte, wirkte nicht sonderlich verlockend. Da fragte sie sich, was ihr wohl mehr Angst einjagen würde, und schließlich fiel ihr nur noch die Merga ein.
„Äh nein ...“, stammelte Arrow. „Keine Socken. Ich habe eine Bitte.“