Zurück im Schloss
Ganz selbstverständlich, als wäre sie niemals fort gewesen, betrat Arrow die Bibliothek. Alles sah so neu aus und trotzdem hatte sich nichts verändert. Sie konnte noch nicht einmal sagen, was anders war. Waren die Farben kräftiger oder war das Licht dunkler? Erkannte sie eine Art Zauber in jedem Winkel? Neue Bilder gab es jedenfalls nicht und auch sonst befand sich noch alles an den ursprünglichen Plätzen.
„Habt ihr schon den Frühjahrsputz gemacht?“, fragte sie stirnrunzelnd.
„Kind!“, rief Sally erfreut und ließ sogleich ihre Stricknadeln fallen, um aufzuspringen und Arrow zu begrüßen. Adam tat es ihr gleich, schaffte es jedoch nicht, Sally zuvorzukommen, da die Köchin ihn triumphierend beiseite schupste.
Während Harold gelangweilt auf seinem Sofa verharrte, freute Anne sich schon, als ihre Enkelin zu ihr rüber kam und sie in ihre Arme schloss.
„Lass dich anschauen, mein Kind. Du siehst gut aus und wie mir scheint, hast du auch gefunden. wonach du gesucht hast.“
„Das hoffe ich“, erwiderte Arrow.
Ohne einen Ton zu sagen, sprang Harold plötzlich auf und verließ fluchtartig den Raum. Bis auf Adam, der ihm mit besorgtem Gesichtsausdruck folgte, wunderte sich niemand weiter über sein seltsames Verschwinden.
„Kindchen, möchtest du etwas trinken?“, fragte die Köchin fürsorglich. „Gegessen hast du doch bestimmt auch noch nichts?“
Arrow lächelte. „Ehrlich gesagt, hatte ich gehofft, dass du danach fragen würdest.“
Im Handumdrehen hatte Sally ein wunderbares Frühstück zusammen gezaubert. Doch bevor Arrow sich in der Bibliothek darüber hermachen konnte, waren auch schon Neve und Dewayne mit Juna herbei geeilt, um sie zu begrüßen.
Während Arrow aß, erzählte Neve von Juna, die jetzt immer in Dewaynes Armen schlummerte. Wie der Elf sie festhielt, sah es ziemlich unbequem aus, tatsächlich schien die Kleine es aber sehr gemütlich zu finden, denn sie schlief wie ein Murmeltier. Gelegentlich lächelte sie, sobald die Stimme ihres Vaters ertönte. Neve beschwerte sich schon, weil Dewayne die gemeinsame Tochter gar nicht mehr aus den Händen geben wollte.
Erstauntes Schweigen zog durch den Raum, als Pex plötzlich zur Tür hereinstürmte und sich zitternd auf Arrows Schoß legte.
„Er war schon die ganze Zeit so komisch“, bemerkte Neve verwundert. „Lag immer nur Trübsal blasend unter Junas Bettchen und hat sich kaum gerührt.“
„Scheint, als hätte er dich vermisst“, sagte Sally und wechselte mit Anne skeptische Blicke.
Von diesem herzlichen Empfang ganz angetan, streichelte Arrow dem kleinen Polarfuchs über den Kopf. Wenige Augenblicke später war er eingeschlafen und ließ mit jedem Atemzug ein Schnarchen ertönen. Er wachte noch nicht einmal auf, als Arrow ihn in die Arme nahm und den Platz wechselte, um näher am Feuer sitzen zu können. Whisper wandte sich allerdings ab und ließ sich in einer anderen Ecke des Raumes nieder. Offenbar konnte er Pex noch immer nicht besonders gut leiden.
„Erzählt mir von den Túatha Dé Danann“, bat Arrow, während sie es sich bequem machte.
„Du weißt von ihnen?“, fragte Sally überrascht.
Arrow nickte. „Ich habe sie gesehen, und Smitt hat mir von ihrer Rückkehr berichtet.“
Sally entglitten die Gesichtszüge. „Hast du mit ihnen geredet?“
„Nein, sie haben mich gar nicht bemerkt. Außerdem haben sie etwas ausgestrahlt, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Smitt erzählte, wer sie waren. Viel mehr habe ich allerdings nicht über die sie in Erfahrung bringen können.“
Während Neve bei diesem Namen eingeschüchtert zusammenzuckte, gab Dewayne nach und erzählte ehrfürchtig die Geschichte der alten Könige.
„Sie sind das älteste aller Elfenvölker. Ohne die Túatha Dé Danann würde es diese Welt gar nicht geben – so sagt es jedenfalls die Legende. Sie sind der ersten frühen Magie entsprungen, die diese und jede andere Welt im Universum zusammenhält. In ihnen fließt die Kraft aller Anfänge. Seit Anbeginn der Zeit haben sie alles gesehen und jedem Ereignis beigewohnt. Die Túatha Dé Danann kennen nicht nur die gesamte Geschichte des Universums, sie sind ein Teil davon.“
„Und was genau macht sie so gefürchtet?“, fragte Arrow argwöhnisch.
„Du hast es doch gefühlt“, entgegnete Dewayne engstirnig. Irgendetwas im Klang ihrer Stimme sagte ihm, dass seine Schwester die Gefahr nicht besonders ernst nahm. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie einen Gegner unterschätzte, und wie er sie kannte, würde es auch nicht das letzte Mal sein.
„Ja, das habe ich“, antwortete sie aufmüpfig. „Trotzdem würde ich gern den Grund für meine Angst wissen.“
„Es gibt keinen plausiblen Grund, der das erklären kann. Es ist einfach der Respekt, den man Adligen ihres Ranges und ihres Alters wegen automatisch entgegen bringt. Auch ein König, der sich noch keinen Namen gemacht hat, verfügt über große Macht. Ob und wie er diese nutzt, bleibt allein ihm vorbehalten und sein Geheimnis.“
Arrow konnte ein skeptisches Grummeln nicht unterdrücken und ließ ihren Blick zum Feuer schweifen. Wie immer erwiderten Marb und ihre Mooskinder Arrows grüblerischen Gesichtsausdruck mit einem zuversichtlichen Blick.
„Das kann nicht alles sein“, murmelte die Stimme in Arrows Kopf. „Ich bin sicher, dass noch mehr dahinter steckt.“
Harold hatte sich seit seiner abrupten Flucht nicht wieder blicken lassen und das kam Arrow auch ganz gelegen. Nachdem Anne aufgestanden war, um die Beete zu bewässern, und Sally sich an die Zubereitung des Mittagsbratens gemacht hatte, ließ Arrow sich auf eines der Bibliothekssofas nieder. Und obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, nicht einzunicken, wirkten Marbs Knopfaugen einmal mehr so beruhigend, dass sie bald schon eingeschlafen war.
Ohne den Übergang zu bemerken, träumte sie von der Karte zur Unterwelt und davon, wie sie diese im Bibliothekskamin verbrannte. Die Phönixasche ließ sie auf dem Kaminsims zurück, das sah sie ganz deutlich. Und ein letzter sorgenvoller Blick aus dem Fenster zeigte drei Vollmonde, die am Himmel standen und jeweils durch eine Sonne voneinander getrennt waren. Dumpfe Klopf- und Kratzgeräusche verloren sich im Hintergrund.
Ein Schatten schlich an Arrow vorbei in den Kamin, doch bevor sie Gelegenheit hatte, sich darüber wundern zu können, schnellte eine Feuerhand aus den Flammen und zerrte Arrow in die brennende Flut, wo sie langsam aber sicher ihren Qualen erliegen würde…
Als sie erwachte, war sie völlig nass geschwitzt und rang nach Luft. Verängstigt schaute sie sich um – alles war wie immer. Die Holzscheite knackten wohlklingend in den Flammen und trübes Tageslicht fiel durch die Fenster. Es schneite schon wieder dicke Flocken, die ganz sanft und still zur Erde fielen.
Adam schlich auf Zehenspitzen zur Tür herein, entspannte sich, sobald er bemerkte, dass Arrow wach war, nur um anschließend gleich wieder besorgt dreinzuschauen. „Du schaust mich an, als hättest du einen Geist gesehen“, sagte er. „Ist alles in Ordnung?“
Nervös wischte Arrow sich über die Stirn. Dann sagte sie mit zitternder Stimme: „Ich weiß jetzt, wie man das Tor öffnet.“
„Drei Vollmonde“, murmelte Anne betroffen. „Das kann ich mir auch nicht erklären.“
Die ganze Zeit hatte die alte Frau dieses Thema bewusst gemieden. Sie wusste, dass Arrow diesen Weg gehen musste. Es gab keine andere Möglichkeit. Und nun war der Tag gekommen, an dem es geschehen sollte. Schon der bloße Gedanke daran schnürte ihr die Kehle zu.
„Heute ist Vollmond“, warf Sally ein, um das Schweigen zu brechen. „Nun ja – zumindest ist es die letzte Nacht, in dem der Mond zunimmt. Der eigentliche Vollmond wird erst morgen erscheinen.“
„Das ist der Volksglaube“, sagte Neve. „Eine alte Elfenschrift besagt, dass der Mond an den jeweils beiden Tagen vor und nach der tatsächlichen Vollmondphase die gleichen Kräfte ausübt wie der allgemein anerkannte Vollmond.“
„Aber diese Vermutung wurde nie belegt. Somit wäre es vielleicht besser, wenn du es erst morgen versuchst und dich heute noch schonst“, sagte Adam in der Hoffnung, Zeit schinden und vielleicht doch noch eine andere Möglichkeit ausfindig machen zu können.
„Nein“, widersprach Arrow entschlossen. „Ich kann mir nicht erklären warum es so ist, aber etwas in mir verlangt danach, es heute zu tun. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Deshalb werde ich es heute Abend öffnen.“
Anne sah ihre Enkelin mit flehendem Blick an. „Kind, es war nur ein Traum. Wenn sich das Tor wirklich nur so öffnen lässt, dann haben wir nur diesen einen Versuch. Ist die Karte erst einmal verbrannt, musst du wieder von vorn beginnen. Du kannst dir nicht sicher sein, dass dieser Weg der Richtige ist.“
Einen Augenblick lang schwieg Arrow, und obwohl ihr Verstand ganz klar und deutlich sagte, dass ihre Großmutter im Recht war und sie selbst nicht die geringste Ahnung hatte, was richtig oder falsch sein könnte, antwortete sie: „Es ist der richtige Weg. Ich habe keine Zweifel.“
Dewayne war fest entschlossen seine Schwester zu begleiten. Nicht einmal Anne konnte diesen Entschluss gutheißen. Dieses Mal waren sich alle einig – er musste weiterhin den Schein wahren. Außerdem gehörte ein junger Vater zu seiner Familie.
„Um keinen Preis werde ich zulassen, dass deiner Tochter das gleiche Unglück widerfahren wird wie uns!“, schimpfte Arrow verärgert. „Du gehörst an ihre Seite und dabei bleibt es!“
„Ich denke nicht, dass es in deiner Macht liegt, mich davon abzuhalten“, antwortete Dewayne mit einer derart herablassenden Arroganz, dass ihm seine elfischen Wurzeln in diesem Moment mehr denn je anzumerken waren. „Außerdem scheinst du zeitweilig gerne zu vergessen, dass auch ich unter seinem Verlust gelitten habe und darauf verzichten kann, auch noch meine einzige Schwester zu verlieren.“
„Und wenn wir nie zurückkehren?“, fuhr Arrow aus der Haut. „Dann werden du und ich die Ewigkeit zusammen verbringen, während deine Frau eure Tochter allein großzieht – ein Kind, das dich niemals kennen lernen wird!“
„Hör auf damit!“, herrschte er sie an. „Ich habe mich entschieden und dulde keine Widerrede!“
Während Arrow ihren Bruder noch einige Sekunden lang zornig anfunkelte, war ihr längst klar, dass sie diesen Kampf verloren hatte. Mit einem wütenden Schnauben machte sie auf dem Absatz Kehrt und verließ das Zimmer.
„Ich sage es ja immer“, murmelte Anne kopfschüttelnd, „gleicher Vater – gleicher Dickkopf.“ Und während sie diese Worte sprach, machte sie sich darüber Gedanken, ob dies wohl der letzte Streit ihrer beiden Schützlinge sein würde, den sie miterleben durfte. Obwohl vielen die Auseinandersetzungen der beiden Geschwister oft ungemein auf die Nerven gingen, vermisste Anne diese bereits jetzt, und das machte sie traurig.
Als wäre es nicht schon anstrengend genug, sich mit ihrem Bruder herumschlagen zu müssen, wollten jetzt auch noch die Zwerge mitkommen. Eigentlich war Arrow davon ausgegangen, dass gerade Bon einen kühlen Kopf bewahren und seine Männer zur Vernunft bringen würde, doch irrwitzigerweise stammte die Idee sogar von ihm. Und weil sie sich nicht darüber einigen konnten, wer zu Hause bleiben sollte, mussten alle mitkommen.
Arrow liebte die Zwerge nach wie vor, doch irgendetwas sagte ihr, dass es so nicht funktionieren würde. Im Traum war sie allein gewesen und die Stimme in ihrem Kopf hatte ihr immer wieder gesagt, dass sie sich an das Geträumte halten sollte. Was die Stimme nicht sagte, war, wie sie das anstellen sollte, und langsam aber sicher fing das Gerede an, ihr auf die Nerven zu gehen.
Vielleicht hätte sie gar nicht nach Hause zurückkehren sollen, um die Reise anzutreten. So viel Ärger wäre ihr erspart geblieben, wenn sie ihren Dickschädel durchgesetzt und es woanders versucht hätte. Doch wie so oft seit ihrem Aufenthalt in der Weltenbibliothek hatte ihr diese seltsame Stimme ständig dazwischen geredet und sie beschworen, es unter gar keinen Umständen von einem anderen Ort aus zu versuchen. Mittlerweile wurde Arrows Sorge, dass sie unter Wahnvorstellungen leiden könnte, immer größer. Doch es half alles nichts. Sie konnte niemandem davon erzählen. Vermutlich würden sie sie alle für verrückt erklären, und das trüge nur dazu bei, die Reise weiter hinauszuzögern. Im schlimmsten Fall würde jemand anders auf die Idee kommen, an ihrer Stelle reisen zu wollen, und das konnte sie unter keinen Umständen zulassen. Vor allem aber sagte ihr die Stimme, dass es nicht möglich war, diese Aufgabe an jemand anderen abzutreten.
Alle warteten darauf, dass es Mitternacht wurde. Zu diesem Zeitpunkt waren die Grenzen zwischen den Welten dünner als zu jeder anderen Zeit des Tages – das wusste seit jeher jedes Kind. Wie eine Selbstverständlichkeit hatten sie sich auf die Geisterstunde zur Öffnung des Tores geeinigt. Und als es endlich so weit war, schlug Arrows Herz, als würde es um ihr Leben gehen.
Mit zitternden Händen warf sie die Karte in das Feuer. Obwohl die Bibliothek vor lauter Zwergen beinahe überquoll, gab niemand einen Ton von sich. Die Anspannung war unerträglich. Alle warteten gebannt auf das, was gleich geschehen würde. Nur Harold saß still in einer dunklen Ecke und warf einen nachdenklichen Blick durch das Fenster. Er war noch immer auffällig still und sehr in sich gekehrt. Allerdings schien ihm die bevorstehende Öffnung des Tores zur Unterwelt keine großen Sorgen zu bereiten. Es war, als habe er etwas ganz Anderes auf dem Herzen – eine Art Trauer, die er mit niemandem teilen konnte.
Die Minuten schlichen dahin und endlich geschah etwas. In den lodernden Flammen verwandelte sich die Karte in ein Stück rötliches Metall, dessen Oberfläche das Zeichen der Göttin Perseis trug. Angespannt beobachteten die Anwesenden, was weiter geschehen würde, doch da war das Spektakel auch schon vorbei.
Als der Morgen graute, waren die Zwerge schon wieder in den Untergrund zurückgekehrt und die Glut im Kamin längst erloschen.
Alle schienen ob der nichts sagenden Ereignisse erleichtert zu sein, nur Arrow und Harold nicht. Als die anderen sich längst in ihre Schlafgemächer zurückgezogen hatten, saßen die beiden noch immer in der Bibliothek und versanken mehr und mehr in ihre eigene Welt.
Arrow war nicht enttäuscht. Sie überlegte. Was hatte sie wohl falsch gemacht?
„Nichts“, flüsterte die Stimme in ihrem Kopf. „Hab Geduld und leg dich schlafen.“
Arrow zuckte zusammen. Das waren nicht ihre Gedanken, die sie da hörte. Je mehr diese Stimme zu ihr sprach, desto klarer wurde ihr das. Allmählich wuchs ihr diese ganze Geschichte über den Kopf. War es vielleicht möglich, dass sie ihren Körper nicht länger allein bewohnte? Und wenn es so war, würde sie dann irgendwann doch die Kontrolle über sich selbst verlieren? Konnte sie womöglich von dieser Stimme verdrängt werden? Und könnte sie sie sterben lassen, ohne dass es jemals ans Licht kommen würde? War sie gut oder böse? Oder sprach da vielleicht sogar ihr Nyridengeist zu ihr? Rein physisch gesehen waren sie eins – jetzt. Doch viele Jahren waren vergangen, bis Geist und Seele zueinander gefunden hatten. Außerdem klang die Stimme, die da so oft zu ihr sprach, eindeutig männlich.
Verwundert bemerkte Arrow, dass Harold noch immer in seinem Sessel verweilte und besorgte Blicke aus dem Fenster warf. Nie zuvor hatte sie ihn so wenig Arroganz ausstrahlen sehen wie in diesem Moment. Genau genommen war diese Eigenschaft gerade überhaupt nicht da. Und zum ersten Mal fragte sie sich nicht, was Adam wohl an ihm finden mochte, denn er erweckte ausnahmsweise mal einen liebenswerten Eindruck.
Plötzlich lief Arrow ein kalter Schauer über den Rücken. Immerhin dachte sie da gerade so nett über Harold nach! Ein einziger normaler Moment würde ihn nicht zu einer anderen Person machen. Und das war jetzt auch nicht wichtig.
„Hast du keine anderen Sorgen, als mich so schamlos von der Seite anzuglotzen?“, fragte Harold mit müder Stimme, ohne sie anzusehen.
Arrow fiel ein Stein vom Herzen, als sie bemerkte, dass alles wieder beim Alten war. Wortlos ging sie ins Turmzimmer.
Bevor Arrow einschlafen konnte, betrachtete sie noch lange die Schneeglöckchen, welche nach wie vor in voller Blüte standen. Seit jeher hatte Anne es vermocht, so manch eine wundersame Blume in ihren Gewächshäusern außerhalb der für die Pflanze vorgesehenen Jahreszeit zur vollen Entfaltung zu bringen. Doch Frühlingsblumen während der Winterzeit erblühen zu lassen, war ein Kunststück, das auch mit den besten Treibhäusern nicht zu bewältigen war. Dazu war eine besondere Magie vonnöten, ein Zauber, den Keylam im Grunde nicht besaß und den Dewayne gegenwärtig nicht in der Lage war auszuüben.
Tausend Dinge gingen ihr durch den Kopf. Ausnahmsweise redete die fremde Stimme mal nicht dazwischen.
Arrow war klar, dass die ganzen Gedanken im Moment zu nichts führen würden, und, schnappte sich das Buch von Charles Dickens. Ohne den anderen Geschichten Beachtung zu schenken, schlug sie das Buch an der Stelle auf, an welcher der Wind sein Unwesen trieb. Es war noch immer die gleiche Passage und sie hatte nicht den blassesten Schimmer, wie sich die Geschichte wohl weiterentwickeln würde. Aber gegenwärtig interessierte sie es auch gar nicht. Sie wollte gern wieder den Wind in ihren Träumen sehen und mit ihm zusammen irgendein unbekümmertes Abenteuer erleben. Wenig später tat sie das dann auch …
Als Arrow erwachte, öffnete sie ihre Augen, rührte sich sonst aber nicht weiter. Eine gefühlte Ewigkeit starrte sie ins Leere. Während sie mit dem Wind zusammen über ihre alte Heimat Elmtree geflogen war, war wieder das fahle Gesicht aus der Kirche aufgetaucht und hatte zu ihr gesprochen. Auch dieses Mal hatte sie nicht mehr von dem Mann erkennen können, da er sich im Schatten gehalten hatte und offenbar ganz in Schwarz gekleidet war.
„Dein Klopfen wurde erhört“, hatte er gesagt. „Heute Nacht werden sie einen Diener schicken, der das Tor für dich öffnet.“
„Dann wird es heute Nacht geschehen?“, hatte sie mehr zu sich selbst gemurmelt als zu ihm.
„Hab Geduld“, hatte der Mann sie gebeten. „Der Weg zwischen den Toren ist lang. Morgen wird es so weit sein. Allerdings ist es von allerhöchster Wichtigkeit, dass du den Schlüssel heute Nacht weiter schmiedest.“
Mit diesen Worten war sie erwacht.
Jetzt wusste Arrow, wann sie aufbrechen würde. Doch weit mehr Kopfzerbrechen bereitete es ihr, dass die unheimliche Stimme in ihrem Kopf nun auch noch ein Gesicht besaß. Natürlich hatte sie diesen Mann zuvor schon in ihren Träumen gesehen. Doch da hatte sich noch nicht gezeigt, dass er es war, der auch außerhalb ihrer Schlafphasen zu ihr sprach. Was würde als nächstes geschehen? Sie hatte ihn in ihren Träumen gesehen. Würde er bald auch außerhalb ihres Kopfes in der Realität existieren? Entstand er vielleicht sogar auf die gleiche Weise wie sie? Aber einen solch seltsamen Begleiter hatte sie sich nicht gewünscht – nicht einmal ein bisschen. Für ihre eigene Erschaffung hatte es weit mehr gebraucht. Doch vor allem bestand ihr größter Wunsch nicht darin, einen Weggefährten an ihrer Seite zu haben. Sie sehnte sich einzig und allein danach, Keylam wieder nach Hause zu holen.
Arrow schüttelte den Kopf und setzte sich auf. Sie wusste ganz genau, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Es gab noch etwas Anderes, das sie sich weitaus mehr wünschte, doch obwohl dies die oberste Priorität in ihrem Herzen besaß, hatte sie es in ihrem Verstand auf den zweiten Platz gesetzt. Im Moment war es das Wichtigste, einen kühlen Kopf zu bewahren und sich nicht vom Weg abbringen zu lassen.
Beim Verlassen des Turmzimmers hörte Arrow, wie Neve und Dewayne miteinander stritten. Die Elfe stand alle möglichen Ängste aus – war der Vater ihres Kindes doch kurz davor, die Welt der Toten zu betreten.
Immer wieder versuchte Dewayne, ihr zu erklären, dass er das tun musste, weil er Angst um seine Schwester hatte.
Für Arrow gehörte diese Auseinandersetzung nicht zu den Dingen, die sie im Moment gebrauchten konnte, und so setzte sie ihren Weg in die Bibliothek fort. Noch war die Wintersonne nicht untergegangen. Ihre Strahlen fluteten die Hallen. Und der Gedanke, dass Arrow dies alles möglicherweise zum letzten Mal sehen würde, tauchte die wunderschönen Wandgemälde und die Pflanzen, welche zum Überwintern im Schloss untergebracht waren, in ein ganz anderes Licht. Es war magisch – es war zu Hause. Seit Elmtree hatte sie sich nicht mehr so an einem Ort heimisch gefühlt. Natürlich war es auch schon woanders schön gewesen – die Hütte, in der sie über zwei Jahre mit Anne gelebt hatte, der Kristallpalast im Elfenreich und vor allem die Weltenbibliothek. Doch so schön wie in diesem Schloss war es nirgendwo.
Von jeder Wand schauten ihr geliebte und vertraute Gesichter entgegen. Einige dieser Personen hatte sie nie persönlich kennen gelernt, doch von allen wurden ihr Geschichten zugetragen. Teilweise waren es keine besonders spektakulären Berichte, auf der anderen Seite gab es jedoch die eine oder andere Erzählung, die in Arrow eine Art Verbundenheit mit der betreffenden Person auslöste.
Unbewusst hatte sie ihr Weg zu Keylams Gemälde geführt und mit Erschrecken musste sie feststellen, dass sie beinahe vergessen hätte, wie schön er aussah und wie sehr sie noch immer in ihn verliebt war. Es hatte sie immer durcheinander gebracht, an ihn denken zu müssen, deshalb hatte sie ihn aus ihren Gedanken gestrichen – so gut es ging. Er hatte sie noch nicht einmal in ihren Träumen besucht. Einzig der Traumbild-Keylam war ihr erschienen und auf seine Frage, ob sie nicht auf seiner Beerdigung hätte sein sollen, hätte Arrow gut verzichten können.
Alles, was ihr geblieben war, waren die Schneeglöckchen. Aber waren sie denn überhaupt von Keylam? Plötzlich kamen ihr Zweifel.
Arrow atmete durch. Schluss mit den wirren Gedanken und nicht zu beantwortenden Fragen! Morgen würde sie in die Unterwelt aufbrechen und nicht ohne ihn zurückkehren.
Schnellen Schrittes ging sie in die Küche, wo Sally schon das Abendessen zubereitete. Ohne großartig darüber nachzudenken, schnappte sie sich ein Messer und leistete der Köchin Gesellschaft.
Sally wirkte sehr in sich gekehrt. Vermutlich ging es ihr nicht anders als Arrow, doch während diese sich fragte, ob sie das Schloss und ihre Lieben je wieder sehen würde, stellte sich die Köchin vermutlich die Frage, ob sie Arrow jemals wieder treffen würde.
Wortlos arbeiteten sie beide vor sich hin, während nach und nach immer mehr freiwillige Arbeiter dazu kamen – erst Adam, dann Dewayne, später die völlig verweinte Neve mit Juna und Anne. Jeder schnippelte oder putzte irgendwelches Gemüse, reichte es anschließend an Sally weiter, die die Zutaten zusammentrug, und schnappte sich dann eine neue Aufgabe.
Als plötzlich die Tür aufging und Smitt sich schreiend auf Arrow stürzte, ging Verwunderung durch den Raum.
„Was ist?“, fragte der Zwerg schroff. „Wenn das hier schon mein letztes Mahl sein soll, dann möge es bitte nicht so schmecken, als befände ich mich bereits in der Hölle!“
Während Arrow sich ein Nudelholz schnappte und ihm damit hinterher jagte, stimmten alle anderen in schallendes Gelächter ein. Somit war das Schweigen gebrochen und die letzte schöne Nacht in Arrows Zuhause hatte begonnen.