Keylams Geschenk

Arrow erwachte mitten in der Nacht. Ihr Körper war von dem wohltuenden Schlaf, den ihr das Schlafpulver beschert hatte, angenehm entspannt. Eine ganze Weile lag sie regungslos in ihrem Bett und betrachtete dabei abwechselnd die Schneeglöckchen und die verkohlte Stelle im Boden. Das Toben der Wilden Jagd nahm sie nur am Rande wahr und genoss diesen ansonsten stillen Moment, in dem ihr ausnahmsweise nicht unzählige Gedanken wie eine Schar schnatternder Gänse durch den Kopf jagten. Eine gute Stunde später hatte sich die Wirkung aufgehoben. Um dem endlosen Fluss des Nachdenkens entrinnen zu können, verließ sie ihr Bett und erschrak, als daraufhin ein dumpfes Knurren ertönte. Die dicke Federdecke begann zu zittern und im nächsten Augenblick schauten ihr darunter zwei leuchtende Knopfaugen und ein spitzes Näschen entgegen.

Gerührt kniete Arrow sich vor das Bett und schob die Federdecke vorsichtig beiseite. Auch dieses Mal ergriff Pex nicht sofort die Flucht, sondern wandte sich Arrow zu und beschnupperte ihr Gesicht. Völlig ergriffen von dieser zutraulichen Geste ließ sie den kleinen Polarfuchs gewähren, und als dieser seine Schnüffelaktion beendet hatte, streckte sie sanft ihre Hand nach ihm aus, um ihm den Kopf zu streicheln. Es war ein tolles Gefühl, denn es bedeutete Vertrauen.

Als Arrow sich wieder erhob und mit dem Kerzenleuchter in der Hand das Turmzimmer verlassen wollte, sprang Pex aus dem Bett und eilte ihr nach. Arrow freute sich über diese angenehme Gesellschaft.

Zuerst schlichen sich die beiden in die Küche, wo Arrow sich eine Kanne Melissentee brühte. Zusammen mit dem dampfenden Gefäß begaben sie sich in die Bibliothek. Zu Arrows Überraschung fanden sie dieses Mal niemanden dort vor – weder schlafend noch wachend.

Auf dem großen Sekretär stellte sie den Kerzenleuchter ab, griff in eine hölzerne Kiste und entnahm ihr eine Hand voll Pulver, welches sie kreuz und quer durch die Luft pustete. Wenige Augenblicke später erglimmten tausende kleiner Lichter, die überall umherschwirrten.

Anschließend entzündete sie ein Feuer im großen Kamin, womit Marb und ihre Kinder nicht lange auf sich warten ließen.

Die speisenden Glühwürmchen und die flackernden Flammen verwandelten die Bibliothek in ein verzaubertes Reich. Riesige, übervolle Bücherregale türmten sich bis unter die Decke. Die obersten Regale konnte man nur über die reichlich verzierten Holztreppen erreichten, welche sich durch den gesamten Raum schlängelten. Kein anderes Zimmer im Schloss war so hoch, denn bei der Restaurierung hatte Keylam dort die Decken über mehrere Stockwerke entfernen lassen, damit die volle Pracht der Bibliothek entfaltet werden konnte.

Während Pex es sich unter dem Sekretär gemütlich machte, goss Arrow die erste Tasse Tee ein und schlich auf der Suche nach einem ansprechenden Buch am untersten Regal entlang.

An einem ledernen Buchrücken fand sie in goldenen Lettern das Wort „Minos“ geschrieben. Etwas wehleidig dachte sie dabei an den Minotaurus zurück und zum wiederholten Male fragte sie sich, wie es ihm inzwischen wohl ergehen mochte.

Bei der Restaurierung des Schlosses hatte sie damals sein Gemälde neben das Eingangstor des Labyrinths an die Wand gebracht. Manchmal ging sie die vielen Stufen hinunter, nur um es zu betrachten und ihm in Gedanken Glück zu wünschen.

Bis spät in die Nacht las sie die vielen Geschichten vom griechischen König Minos, dem weißen Stier, den Poseidon auf Minos’ Bitte hin aus dem Meer hatte emporsteigen lassen, und vom unglücklichen Schicksal des wenig später geborenen Minotaurus.

Nachdem Arrow das Buch ausgelesen hatte, stellte sie es ins Regal zurück und begab sich auf die Suche nach der Geschichte einer jungen Frau namens Kore. In den Erzählungen des Minos war von einer Entführung Kores durch den Unterweltgott Hades die Rede. Und obwohl dieses Thema nur kurz angeschnitten wurde, hatte es Arrows Interesse geweckt.

Doch diese Aufgabe stellte sich als weit schwieriger heraus als zunächst angenommen. Nach zweistündiger erfolgloser Suche gab sie schließlich auf und ließ sich erschöpft in den Sessel vor dem Sekretär fallen. Sie sah sie schon Sterne vor ihren Augen und die Buchstaben verweilten nicht länger brav an den ihnen zugewiesenen Plätzen, sondern schwirrten wüst in der Bibliothek herum. Gemütlich lehnte Arrow sich zurück und schloss ihre Augen. Lächelnd nahm sie das leise Schnarchen des kleinen Polarfuchses wahr, der es sich auf einer Decke gemütlich gemacht hatte und schon seit Stunden friedlich schlummerte.

Nachdem Arrow selbst kurz weggenickt war, beschloss sie, zurück in ihr Schlafgemach zu gehen. Als sie die Augen öffnete, fiel ihr Blick auf den samtenen Vorhang – hinter dem noch immer Keylams Geburtstagsgeschenk auf sie wartete. Als ihr das wieder bewusst wurde, hielt der Schmerz abermals Einzug in ihre Seele und die Müdigkeit war verflogen. Eine unendlich lange Zeit starrte sie den schweren Vorhang an, unfähig sich zu bewegen. Als Arrow einen Ruck spürte, erwachte sie aus ihrer Starre. Überrascht musterte sie den kleinen Pex, der sich auf ihren Schoß gesetzt hatte und sie besorgt anschaute. Obwohl sie sich über diese Geste freute, konnte sie doch nicht dem Drang widerstehen, sitzen zu bleiben. Sie erhob sich und ging zum Vorhang.

Arrows Herz pochte, als sie an der Kordel zog und sich vor ihren Augen etwas offenbarte, das ihr den Atem raubte.

Liebevoll blickten die strahlend blauen Augen ihres Vaters auf sie hinab. Auf seinem Gesicht ruhte ein selbstbewusstes Lächeln und die dunkelbraunen Strähnen fielen ihm in die Stirn. Mit seinem dunklen Umhang und dem Schwert in seiner linken Hand sah er aus wie ein König. Zu seiner Rechten mutete der weiße Hirsch Isidor mit seinem prächtigen Geweih majestätisch an.

Das Wandgemälde war ein echtes Meisterwerk und bereitete Arrow eine regelrechte Gänsehaut. Und zum ersten Mal seit dem Tod ihres Vaters musste sie bei dem Gedanken an ihn lächeln. Denn dieses Bild löste keine Trauer in ihr aus, sondern vielmehr den Drang, sich vor ihm verbeugen zu wollen. Das war der Vater, den sie einst kannte. Nicht der Nyride oder die verstümmelte Seele aus ihren Erinnerungen, sondern er.

Arrow wurde ganz warm ums Herz und so ließ sie sich auf den dichten Teppich sinken und betrachtete sein Gemälde stundenlang, während die Glühwürmchen wie Sterne über ihrem Kopf schwebten.

„Arrow?“

Sie erwachte wie aus einer Trance und schaute sich verwundert um. Dewayne hockte neben ihr und musterte sie besorgt. „Ist alles …?“ Bevor er den Satz beendet hatte, war ihm wieder eingefallen, dass er sich nicht nach Arrows Befinden erkundigen sollte. Doch sie wusste, was er fragen wollte und lächelte nur.

„Ist es nicht wunderschön?“, fragte sie verträumt und bewunderte weiter das Wandgemälde.

In der Annahme, dass sie verrückt geworden war, antwortete er nicht.

Arrow wandte sich dem Elfen zu und in ihren Augen glomm etwas auf, das er längst verloren geglaubt hatte. „Es gibt mir Kraft“, beantwortete sie seinen skeptischen Blick und erhob sich schwungvoll. „Es ist an der Zeit, mit dem Heulen aufzuhören“, sagte sie entschlossen. „Melchior hat nie eine Träne vergossen, er hat gehandelt. Und ich bin seine Tochter. Es ist an der Zeit, sich auch so zu verhalten.“ Und ohne eine Reaktion abzuwarten, ließ sie ihren Bruder völlig verdutzt zurück und enteilte forschen Schrittes der Bibliothek.

Beim Frühstück wechselten alle skeptische Blicke miteinander, denn Arrow verspeiste an diesem Morgen mehr als an allen vorangegangenen Tagen zusammen.

„Die Wilde Jagd wütet noch genau zehn Nächte“, brachte sie schmatzend hervor.

„Sechs Nächte“, entgegnete Sally.

Arrow runzelte die Stirn.

„Du hast teilweise mehr als vierundzwanzig Stunden geschlafen“, beantwortete die Köchin den fragenden Blick. „Genau genommen hast du beinahe die halbe Jagd verpennt.“

Dieser Erkenntnis schenkte Arrow nur einen kurzen verwunderten Blick und kehrte anschließend zum Thema zurück.

„Sobald die Wilde Jagd vorüber ist, werde ich noch mal zum Holunderwald aufbrechen.“

„Denkst du wirklich, dass du dafür schon bereit bist?“, fragte Adam besorgt, woraufhin Sally ihm tadelnd ihren Ellenbogen in die Hüfte stieß. „Was?“, fragte er, die Augen verständnislos geweitet. „Sie sollte erst einmal wieder zu Kräften kommen. Dann kann sie immer noch verhandeln.“

„Ich fühle mich gut“, entgegnete Arrow entschlossen. „Wenn ich noch länger hier herumsitze und mich in Selbstmitleid bade, wird am Ende noch der Wahnsinn von mir Besitz ergreifen.“

Und während sie noch kaute, schnappte Arrow nach einem weiteren Brötchen, erhob sich von ihrem Platz und fügte hinzu: „Bevor ich das zulasse, verschreibe ich mich lieber auf Lebenszeit Frau Perchta und ihrem Gefolge.“

Und ohne weitere Zeit zu verlieren, ließ sie ihre verblüffte Familie am Tisch zurück.

Frühlingserwachen
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