Die Familie
In der Eingangshalle des Schlosses ließ Arrow die Eule fliegen. Dankbar, endlich schlafen zu dürfen, verkroch diese sich zwischen den Deckenbalken.
Im Schloss hatte sich viel verändert. Längst sah es nicht mehr so heruntergekommen aus wie bei Arrows erstem Besuch. Die Wände waren wieder bunt und zeigten Begebenheiten aus der Vergangenheit. Kaum ein Fleck erinnerte noch an den großen Brand, der lange vor Arrows Zeit in diesen Mauern gewütet hatte.
Die alten, anfälligen Fenster waren gegen neue aus beständigem Titanglas getauscht worden. Sogar allerhand Dachfenster waren hinzugekommen. Jetzt, zur Winterzeit, wirkte das gesamte Schloss wie eine einzige große Orangerie. Obwohl Anne jede Menge Wintergärten hatte anbauen lassen, reichte der Platz für die Pflanzen nie ganz aus. So kam es, dass in jeder Ecke prächtige Rosenstöcke und allerhand andere Gewächse blühten. Man hätte meinen können, dass dieses Schloss beinahe eindrucksvoller anmutete als Nebulae Hall.
Was Arrow allerdings noch immer als äußerst gewöhnungsbedürftig empfand, das waren die Gargoyles, die sich seit den Sommermonaten im Schloss aufhielten. Als Arrow seinerzeit den Perseiden ihres Vaters aus der Eisenfestung fortgeholt hatte, war ihre Anwesenheit dort nicht länger von Nutzen gewesen. Es hatte nichts mehr gegeben, das sie in der Festung hätten beschützen können, und so hatte Keylam sie zu sich in das Bergdorf gebeten.
Die steinernen Mitbewohner schienen sehr scheue Wesen zu sein. Sie zeigten sich nur sehr selten und hielten sich lieber unter ihresgleichen auf. Gelegentlich sah man einen der Gargoyles die Wand hinauf klettern oder vernahm das Rauschen ihrer Flügel. Besonders gesprächig waren sie allerdings nicht. Einzig Samuel, der von allen nur Sam genannt wurde, wechselte hin und wieder einige Worte mit Arrow. Er war wohl so etwas wie ein Anführer für die Gargoyles, denn er sprach alle Anliegen stets „im Namen seines Clans“ aus. Insgesamt waren sie friedliche Mitbewohner und sehr zurückhaltend, doch Arrow konnte sich nicht des Gefühls entledigen, dass sie sich im Schloss nicht wohl fühlten. Gleichzeitig rief diese Annahme auch ein gewisses Unbehagen bei ihr selbst hervor.
Keylam hatte dagegen nicht die geringsten Zweifel, dass es ihnen im Schloss nicht gefallen könnte. Er kannte diese Gargoyles schon sein ganzes Leben lang und wusste um ihre Eigenarten. Zwar waren sie nicht besonders offen und zugänglich, doch in jedem Fall überaus loyal. Er betrachtete ihre Anwesenheit als große Bereicherung und störte sich nicht an ihrer Andersartigkeit. Arrow probierte stets, es ihm gleichzutun, doch das verschlossene Wesen der Gargoyles machte es ihr schwer.
In diesem Moment bereitete ihr jedoch etwas ganz Anderes Kopfzerbrechen. Sie schaute sich verwundert um.
„Stimmt etwas nicht?“, fragte Keylam.
„Die Blumen ...“, entgegnete Arrow verwirrt. „Heute Morgen hat keine einzige von ihnen auch nur eine Knospe getragen. Und jetzt … - seltsam.“
Eine der kleinen Tulpen in den Hochbeeten wackelte. In ihrem Blütenkelch setzte sich eine winzige Blumenfee auf und rieb sich mit beiden Händen über die Augen.
Arrow lächelte sie an. „Na, meine Kleine, hat dich jemand zu früh aus dem Winterschlaf geweckt?“
Verschlafen blinzelte sie Arrow an und nickte.
„Wie seltsam“, bemerkte Keylam. „Obwohl der Dezember gerade erst begonnen hat, sieht es aus, als hätte der Frühling schon Einzug gehalten.“
„Der Frühling ... ?“ Plötzlich dämmerte es ihr und sie musste unmittelbar schmunzeln. „Wie schafft er das nur immer wieder?“, fragte sie sich, machte auf dem Absatz kehrt und ging ungeduldigen Schrittes in Richtung Küche. Anders als sonst, war an diesem Morgen niemand dort anzutreffen. Der Raum wirkte gänzlich ungenutzt und auch die Feuerstelle war an diesem Tag kalt. Nirgendwo türmten sich Töpfe oder häufte sich Abwasch, und genau das gab Arrow zu denken. Um diese Uhrzeit wären Sally und ihre Helfer normalerweise längst auf den Beinen gewesen und hätten sich die passenden Pfannen und Zutaten für das Mittagessen zusammengesucht. Heute allerdings war die Küche so sauber, als wäre sie bis spät in die Nacht aufs Gründlichste gereinigt worden.
Als Arrow den Raum verlassen wollte, blickte sie noch einmal in die Augen von Sallys Wandbild, welches neben dem Herd grinsend auf sie herabblickte. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht, und obwohl Arrow nur das Abbild der Köchin ansah, konnte sie sich des Gefühls nicht entledigen, dass Sally sich gerade über sie lustig machte.
Wieder in der Eingangshalle angekommen, schaute sie sich nach Keylam um, doch auch er war plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. In diesem Moment wurde ihr klar, dass es vermutlich gar nichts bringen würde, nach den Anderen zu rufen, denn offenbar war hier eine riesengroße Verschwörung im Gange.
Doch bevor Arrow weiter über das nachdenken konnte, was gerade mit ihr geschah, erschienen plötzlich lang vermisste Freunde. Schon im vergangen Sommer waren die Sylphen anmutig und leichtfüßig durch die Hallen des Schlosses getanzt. Doch wie viele Blumen waren auch sie irgendwann in den Winterschlaf gefallen. Nicht die geringsten Anzeichen ihrer Anwesenheit hatte es seit Einbruch der kalten Jahreszeit gegeben. Anne jedoch hatte Arrow wiederholt versichert, dass sich diese zauberhaften Wesen noch immer im Schloss aufhielten und voller Sehnsucht auf den Frühling warteten.
Während eine der Sylphen Arrows Hand nahm und ihr signalisierte mitzukommen, tanzten die anderen ganz elegant um sie herum. Durch viele Räume führten sie ihre unwissende Begleiterin. Gleichzeitig schlossen sich die vielen Fensterläden wie von Zauberhand. Arrow fand das schade, hatte doch gerade erst die wundervolle Morgensonne ihre funkelnden Strahlen in die Säle das Schloss geschickt. Da es jedoch offenbar zu dem unglaublich ausgeklügelten Komplott gehörte, an dem scheinbar jeder bis auf ihre Wenigkeit Anteil hatte, ließ sie die anmutigen Tänzerinnen gewähren.
Vor dem gewaltigen Eingang der riesigen Bibliothek deuteten die Sylphen an, dass Arrow warten sollte. Dann schwebten sie hinüber und öffneten die großen Flügeltüren, hinter denen zunächst nur stille Dunkelheit herrschte.
Gespannt wartete Arrow einen nicht enden wollenden Moment lang, was passieren würde, und als sie die Hoffnung schon aufgeben wollte, geschah etwas ganz Wunderbares. Hunderte kleiner Glühwürmchen tauchten auf und schwirrten durch die Bibliothek. Ihr schwacher Schein ließ die Silhouetten unzähliger Personen erkennen. Als sich die Würmchen im Flug zusammenfügten, formten sie die Wörter „Alles Gute zum Geburtstag“. Kurz darauf lösten sie sich wieder auf und der Raum wurde plötzlich hell erleuchtet.
Noch bevor Arrow die Gelegenheit bekam, sich an das Licht zu gewöhnen, stürzte ihr jemand in die Arme und wirbelte sie herzlich herum.
„Du hast mir so gefehlt!“, rief Dewayne überschwänglich.
Arrow sprudelte beinahe über vor Glück. Endlich war die Familie wieder vereint.