Die kalte Asche des Phönix
Arrows Herz raste. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Zwischen den emporsteigenden Tränen versuchte sie die aufkeimenden Schreie zu unterdrücken.
Die Augen starr nach vorn gerichtet, nahm sie ihre Umgebung nicht mehr wahr. Wie ein mächtiger Regenschwall zog die Landschaft an ihr vorbei. Whisper keuchte unheilvoll. So energisch hatte Arrow ihn noch nie vorangetrieben. Eher war das Gegenteil immer der Fall gewesen. Sie fürchtete sich vor den mächtigen, fliegenden Hufen des Rappens und hatte stets versucht, ihn zu bremsen. In diesem Tempo erreichte sie das Schloss innerhalb kürzester Zeit.
Sally und Dewayne wandten schützend ihre Gesichter ab, als das gewaltige Tor des Schlosses aufflog und von dem starken Aufprall in tausend Teile zersprang.
„Ich dachte es wäre das härteste Holz, das man bekommen könnte ...“, bemerkte Sally entgeistert.
„Ist es auch“, gab Dewayne vorwurfsvoll zurück, und bevor er sich zu weiteren Plaudereien hinreißen lassen wollte, eilte er zu seiner Schwester, die schwer atmend an der Wand lehnte. Sie presste die Hände auf ihre Rippen und aus einer Platzwunde an ihrer Stirn quoll Blut.
„Wo ist er?“, fragte Arrow, bevor der Elf auch nur daran denken konnte, ihre Wunden zu verarzten.
„Im Turmzimmer“, antwortete er knapp.
Unter Schmerzen erhob Arrow sich und stieg keuchend die Treppen empor.
Wohl wissend, dass sich seine Schwester nicht zurückhalten lassen würde, folgte Dewayne ihr.
Im Zimmer fand sie Anne, die ratlos von einem Sessel aus den Boden anstarrte, und Neve, die mit Juna in den Armen vor einem Häufchen Asche kniete.
„Was ist geschehen?“, fragte Arrow ungehalten.
Anne antwortete nicht und allein diese Tatsache beunruhigte Arrow umso mehr. Denn Anne behielt immer einen kühlen Kopf und hatte oft schon einen Plan parat, bevor das Problem entstanden war.
„Wir wissen es nicht“, entgegnete Neve niedergeschlagen und sandte einen Hilfe suchenden Blick an Dewayne aus.
„Es hat nie länger als eine Stunde gedauert“, erklärte der Elf. „Ich habe vor seinem Zimmer Wache gestanden und gehört, wie es angefangen hat. Immer wieder habe ich geklopft und gefragt, ob alles in Ordnung ist. Doch als er nach einer weiteren Stunde noch immer kein Lebenszeichen von sich gegeben hat, habe ich die Tür zerschlagen.“
Dewayne schwieg. Arrow wurde bewusst, dass die Geschichte damit zu Ende war, trotzdem wollte sie es nicht wahrhaben.
„Bist du vielleicht weggenickt oder hast du deinen Platz verlassen?“, fragte sie betroffen, während die aufsteigenden Tränen erneut von ihr Besitz ergriffen.
„Nicht den Bruchteil einer Sekunde“, entgegnete der Elf dumpf.
„Bist du sicher?“, bohrte Arrow nach. „Kann es vielleicht sein, dass er nicht allein war oder in einem anderen Teil des Schlosses wieder aufgetaucht ist?“
Vorsichtig legte Dewayne seine zitternde Hand auf Arrows Schulter und sie wusste, was diese Geste zu bedeuteten hatte. Denn ein Phönix konnte immer nur aus seiner Asche wieder auferstehen, und die von Keylam und Urban lag unmittelbar vor ihr.
Weinend senkte sie ihren Blick. „Sagt mir bitte, dass das nicht wahr ist“, flehte sie. „Bitte erklärt mir, dass euch ein Fehler unterlaufen ist und es Hoffnung gibt.“
Anne zuckte nicht mit der Wimper und inzwischen standen auch Neve die Tränen in den Augen. Die verkrampfte Haltung ihrer Mutter sehr wohl spürend, hatte Juna bitterlich zu weinen begonnen.
Hilfe suchend wandte Arrow sich an ihren Bruder, doch auch er trug keinen Funken Hoffnung in seinen Augen.
„Nein!“, schrie Arrow. „Bitte sagt mir, dass das alles nicht wahr ist! Bitte – ich flehe euch an!“
Während Arrow in den Armen des Elfen zusammenbrach, wandte Harold dem Turmzimmer niedergeschlagen den Rücken zu. Niemand hatte bemerkt, dass er dort gestanden hatte. Doch egal, wo er auch die Abgeschiedenheit zu finden versuchte – im ganzen Schloss hallten die schmerzlichen Klagerufe von Arrow wider, und dieses Mal befürchteten alle, dass sie sich aus diesem Loch nicht mehr würde befreien können.
Da die Zwerge nach Anbruch der Dunkelheit das Tor reparierten, gab es zum ersten Mal seit Zwergengedenken keine allnächtliche Feier. Doch selbst, wenn sie keine Aufgabe gehabt hätten, wären sie in dieser Nacht ruhig geblieben.
Die Pflanzen im Schloss hatten sich in ihren Winterschlaf zurückgezogen, ebenso die Sylphen.
Sally hatte einen köstlichen Hackbraten zubereitet, welcher jedoch weitestgehend unberührt blieb.
Die Zwerge bedankten sich für das gute Essen und zogen sich dann zum Schlafen in den Untergrund zurück. Die Stille in jener Nacht war unerträglicher als das Geheul der Wilden Jagd.
Arrow hatte sich allein im Turmzimmer eingeschlossen und lehnte jede Art von Speisen ab. Als Adam die Küche zum wiederholten Male mit einem verschmähten Teller Hackbraten betrat, konnte Sally nicht länger an sich halten.
„Ich wünschte, sie würde wieder anfangen zu weinen“, sagte die Köchin verzweifelt, während sie das unberührte Essen in den Bräter zurücktat. „Dieses Schweigen hält doch kein Mensch aus!“
„Sally!“, rief Anne sie zur Vernunft. „Diese Art von Gefühlsausbrüchen ist jetzt nicht hilfreich.“
„Ach nein?“, entgegnete Sally vorwurfsvoll. „Hast du vielleicht einen anderen Plan, der uns alle nicht in den Wahnsinn treibt?“
„Das reicht!“, donnerte Harold. Und über die Verwunderung seiner strengen Worte verstummte Sally schließlich. „Bevor wir über das weitere Vorgehen bezüglich der fernen Zukunft entscheiden, sollten wir überlegen, wie es in den nächsten Tagen weitergeht“, wandte Harold sich an Anne.
Die alte Frau nickte. „Heute Nacht werde ich sie mit Schlafpulver beruhigen. Vielleicht lässt sie uns morgen, wenn sie ausgeruht ist, wieder an sich heran.“
Während alle in ihr Schlafgemach aufbrachen, folgte Harold Anne zum Turmzimmer hinauf, und als sie die letzte Stufe der Treppen erreichte, hatte er sie eingeholt.
„Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass dies seine letzte Auferstehung gewesen sein könnte und dies ein für ihn bestimmtes Ende ist?“, fragte er Anne beunruhigt.
„Das ist es nicht“, gab sie zurück.
„Aber wie kannst du dir da so sicher sein?“, fragte Harold stirnrunzelnd.
„Weil ich es weiß“, antwortete sie mit einer selbstverständlichen Resignation. „Hier waren andere Mächte im Spiel. Seine Zeit war noch nicht gekommen.“
Erschrocken musterte Harold sie. „Denkst du etwa, dass es Mord war?“
„Alles andere würde keinen Sinn ergeben“, entgegnete sie knapp und ohne sich weiter aufhalten zu lassen setzte Anne ihren Weg zur Tür des Turmzimmers fort. Mit besorgter Miene griff sie in ihre Taschen und pustete den funkelnd hellen Staub, welchen sie aus ihnen entnommen hatte, durch das Schlüsselloch. Nach einem Augenblick des Lauschens machte sie kehrt und verschwand in ihr Schlafgemach.
In jener Nacht wartete Adam vergeblich auf Harold, denn dieser hatte sein Schlafquartier als einziger nicht aufgesucht.
Mit roten Augen saß Arrow in ihrem Sessel und starrte bestürzt einen kleinen Topf blühender Schneeglöckchen auf dem Tisch an. Daneben hatte sie ein Blatt Papier gefunden, auf dem geschrieben stand:
Obwohl ich lediglich über Sommer und Winter gebiete, fühle ich doch immer den Frühling in mir, wenn ich an sie denke.
Wie kann das sein? So lebendig ...
Und all das rückt in weite Ferne, wenn sie nicht bei mir ist.
Komm bald zurück, mein Herz, und lass mich unter den Strahlen deiner Sonne zu neuem Leben erwachen.
In Liebe
Keylam
Und auf einmal hielt funkelnder Nebel Einzug im Turmzimmer und Arrows Augen wurden schwer.
Ohne den Übergang zu bemerken fand sie sich plötzlich am Ufer des Sumpfes der Erinnerungen wieder. Sie lehnte am gleichen Baum wie bei ihrem ersten Besuch und starrte genauso verzweifelt in die Leere wie damals. Dieses Mal war sie jedoch nicht vom Zauber längst vergangener Ereignisse umgeben. Es gab nur sie und den Sumpf.
„Solltest du nicht bei meiner Beerdigung sein?“, fragte der Keylam mit den pechschwarzen Augen, der ohne jede Vorwarnung hinter ihr aufgetaucht war.
Arrow erwachte. Sie schrie und rang nach Luft. Hysterisch sprang sie aus ihrem Bett und warf kopflos ihre Schlafdecke in den Kamin. Sofort loderten die Flammen hoch.
Dewayne schnellte aus dem Sessel hoch, in dem er eingeschlafen war, und löschte den Brand mit einer Handbewegung.
„Was tust du hier?“, fuhr Arrow ihn an.
„Auf dich aufpassen!“, gab er ebenso schroff zurück. „Du selbst kannst das ja offensichtlich nicht!“
Gekränkt eilte Arrow aus dem Zimmer, lief quer durch das Schloss und versteckte sich schließlich im Heuspeicher über den Pferdeställen. Wendig, wie eine Katze, kletterte sie die vielen Ballen empor und kroch durch einen schmalen Heuschacht zu einem kleinen Hohlraum unter den Dachbalken.
Schluchzend vergrub sie das Gesicht in ihren Händen und nahm nur dumpf das Flattern kräftiger Eulenflügel wahr. Dieses Mal hatte Grey nicht als Spionin ihrer Großmutter, sondern als Arrows Freundin den Weg zu ihr gefunden. So ließ sie die majestätisch anmutende Schleiereule auch gewähren.
Nur verschwommen bemerkte Arrow noch die tröstende Wärme eines kleinen Körpers an ihren Armen und das Kitzeln eines Fuchsschwanzes in ihrem Gesicht. Dann schlief sie wieder ein.
Lautes Poltern und Gejaule weckte Arrow. Grey hatte sich zitternd in einer schmalen Nische verkrochen und Pex presste seinen vor Angst bebenden Körper krampfhaft an Arrow.
Sie wusste, was über den Dächern des Schlosses vor sich ging, und kroch gelassen durch den Schacht zurück. Mit einem Schnalzen rief sie Grey und ließ die Eule auf ihrem Arm landen. Pex nahm Arrow in den anderen Arm, da er ihre Beine so eng umschlich, dass sie Angst hatte, ihn zu verletzen.
Auf ihrem Weg durch die Pferdeställe erblickte sie die Gargoyles. Abwesend starrten sie den Boden an und gaben sich ihrer Trauer hin. Für sie war Keylam ein Mitglied ihrer Familie gewesen, und die Nachricht von seinem Tod hatte sie schwer getroffen.
Kaum, dass sie die Ställe hinter sich gelassen hatte, war Sam aufgetaucht. Er hatte etwas auf dem Herzen, das war unübersehbar, doch er wusste wohl nicht, wie er beginnen sollte.
„Ich kann es auch immer noch nicht fassen“, erwiderte Arrow auf seinen hilflosen Blick.
„Wir haben es zu spät bemerkt“, entgegnete Sam zerknirscht.
„Es war nicht eure Schuld“, redete sie auf ihn ein. „Niemand hatte damit gerechnet, dass so etwas passieren könnte.“
Er nickte zustimmend, doch seine Augen sagten ganz deutlich, dass er sich für diesen Vorfall verantwortlich fühlte.
„Wenn du es wünschst, werden wir das Schloss bei Sonnenaufgang verlassen.“
Entgeistert musterte Arrow ihn und legte dann, obgleich ihr bewusst war, dass Sam diese Berührung als unangenehm empfinden könnte, ihre Hand auf seine Schulter.
„Sollte das eurer Begehren sein, werde ich euch ruhigen Herzens ziehen lassen. Doch nichts liegt mir ferner als die Hoffnung, dass ihr diesem Schloss den Rücken kehrt. Es würde Keylams Wünschen nicht entsprechen ... und meinen entspricht es ebenso wenig.“
Sam nickte dankbar. Es waren ehrliche, aufrichtige Worte – das konnte er in ihren Augen ablesen. Niemand wusste, wie sich das Zusammenleben weiter entwickeln würde, doch für den Moment hatte Arrow die Gargoyles mit all ihren Eigenarten akzeptiert. Aber vor allem machte es sie glücklich, in dieser schweren Stunde nicht allein sein zu müssen.
Im stillen Einvernehmen zog Sam sich zu seinem Clan zurück und Arrow suchte die Nähe ihrer Leute. Wie nicht anders zu erwarten war, fand sie ihre Familie vollzählig und schweigend in der Bibliothek.
„Hallo“, sagte sie verlegen und sogleich erhoben sich die Anwesenden überrascht von ihren Plätzen.
„Arrow“, stammelte Neve verblüfft.
Fragende Blicke huschten umher, und als niemand sich traute, das Wort zu ergreifen, fragte Arrow: „Darf ich mich zu euch gesellen?“
Die Gesichter hellten sich auf und Adam machte anstandslos auf dem großen Sofa Platz.
Grey flatterte zu Anne auf die Schulter, und Pex ergriff beim Anblick der vielen Leute schlagartig die Flucht.
Während Arrow sich setzte, warf sie einen schmachtenden Blick auf die kleine Juna.
„Das ganze Gekreische lässt sie völlig kalt“, sagte Neve schulterzuckend. „In meinem ganzen Leben habe ich nicht ein einziges Wesen getroffen, das von der Wilden Jagd derart unbeeindruckt war.“
„Aber es ist doch ein gutes Zeichen“, entgegnete Arrow. „Und soweit ich das beurteilen kann, gibt es auch gar keinen Grund zur Furcht vor Frau Perchta.“
Überraschte Blicke hefteten sich von allen Seiten auf Arrow. Sie hingegen ließ ihre Augen nur flüchtig zu Anne schweifen, die sich mit einem zufriedenen Lächeln gemütlich zurück lehnte.
Dann widmete Arrow der kleinen Juna ihre ganze Aufmerksamkeit. Sanft strich sie ihr über die Wange, und wenn das Baby diese Zärtlichkeiten mit einem flüchtigen Lächeln erwiderte, strahlten Arrows Augen.
„Möchtest du sie halten?“, fragte Neve entzückt. Die Erleichterung über Arrows Aufgeschlossenheit war der Elfe sichtlich anzumerken. Die beiden liebten einander wie Schwestern und die eine vermisste die andere sofort, wenn diese nicht zugegen war. Sie litten gemeinsam und ebenso freuten sie sich füreinander.
Behutsam nahm Arrow das Baby in ihre Arme. Obwohl es weiterhin tief und friedlich schlummerte, konnte Arrow ihre Augen nicht von dem niedlichen kleinen Gesicht mit der entzückenden Stupsnase nehmen.
Alle genossen diesen Augenblick. Nach den Tagen der Ratlosigkeit und der quälenden Sorgen war dies ein wahrer Sonnenstrahl zwischen den donnernden Gewitterwolken.
„Erzähl uns von ihr“, bat Harold ehrfürchtig.
Unsicher hob Arrow ihren Blick, und als sie überall in erwartungsvolle Gesichter sah, beschloss sie, der Bitte Folge zu leisten.
Sie erzählte von der Begegnung mit Frau Gaude, über die Anne sogleich berichtete, dass es sich bei den Hunden, die ihr auf Schritt und Tritt folgten, um Frau Gaudes Töchter handelte. Ein Fluch hatte die Mädchen einst in diese Gestalt gezwungen, womit auch sie zu den Verdammten gezählt wurden.
Weiterhin erzählte Arrow von dem abscheulichen Anblick der Merga, dem General und seinen Untergebenen. Zuletzt schilderte sie ihre Eindrücke über die sagenumwobene Frau Perchta, und dass sie diese Frau – entgegen allen Vorsätzen – vom ersten Augenblick ihrer Begegnung an nicht länger hassen konnte.
Ein jeder lauschte sehr aufmerksam, nur Anne saß nach wie vor zurückgelehnt in ihrem Sessel und erweckte zeitweise den Anschein, als würde sie schlafen. Vom ersten Moment an hatte sie Arrow gegenüber immer wieder deutlich gemacht, dass Frau Perchta keinesfalls das Monster war, zu dem sie das Gerede der Leute gemacht hatte. Es lag in der Natur vieler Geschöpfe, sich für alle unglücklichen Ereignisse des Lebens einen Sündenbock zu suchen – egal welch Unrecht damit verbunden war. Solch ein Schuldiger nahm einem die Last von den eigenen Schultern, vor allem dann, wenn er so mächtig und sagenumwoben war wie Frau Perchta. Sie schien unnahbar und somit auch unbesiegbar zu sein. Es war leicht, ihr gewisse Bürden aufzuerlegen und den Rücken zuzukehren. Sie rechtfertigte sich nicht. Und wenn es ihr schon egal war, was über sie erzählt wurde, so müsse man auch keine Rücksicht auf den Wahrheitsgehalt der Geschichten nehmen. Zumindest war das die überwiegende Meinung ihre Person betreffend.
Es wurde spät in dieser Nacht. Da Arrow schon bald die Worte ausgegangen waren, ließ sie ihre Zuhörer mit ihren Beschreibungen sowie den damit verbundenen Gedanken und Vorstellungen allein. Zusammen mit ihren Kindern saß Marb, wie immer, still im Feuer und die drei schauten zuversichtlich in die Gesichter ihrer Beobachter.
Über Keylam sprachen sie in jener Nacht nicht mehr. Es gab keine neuen Erkenntnisse, und alle hatten Angst, über ihn zu reden. Die Anwesenden überließen es Arrow, dieses Thema anzuschneiden, doch sie tat es nicht. Zwar waren alle froh, dass sie den Weg zurück zu ihnen gefunden hatte, gleichzeitig machte es ihnen aber auch Sorgen, dass ausgerechnet die Person, die ihn von allen am meisten liebte, die Sache so totschwieg.
Obwohl Arrow als Erste wach war und das Frühstück zubereitet hatte, blickte sie beim Essen ziemlich gequält in die Runde. Sie gab sich Mühe, konnte aber trotzdem nicht darüber hinweg täuschen, dass es ihr schlecht ging.
„Hast du in der letzten Nacht überhaupt etwas Schlaf finden können?“, fragte Anne besorgt und strich ihr die wirren Strähnen aus dem Gesicht.
Arrow schüttelte den Kopf. „Einerseits habe ich mich gefühlt, als würde ich schlafen, doch andererseits habe ich jedes Knacken der Holzscheite und alles andere um mich herum mitbekommen.“ Arrow erschauderte. „Und wenn wir das nächste Mal alle vor dem Kamin einschlafen“, richtete sie das Wort an Adam, „dann klebe dir gefälligst ein Pflaster auf den Mund. Wie du weißt, habe ich Harold schon einmal nackt gesehen, und die Erinnerungen an seinen … göttlichen Körper durch detaillierte Beschreibungen wieder hoch zu holen, während draußen die Dämonen von Frau Perchta toben, unterstützen mich nicht unbedingt bei meiner Suche nach friedlichem Schlaf.“
Adam lief kirschrot an.
„Was ist denn mit dir los?“, fragte Harold ihn entgeistert. „Da gibt es nichts, wofür du dich schämen müsstest. Göttlicher Körper – hat sie selbst gesagt.“
„Das waren nicht meine Worte, du selbstgefälliger Schlaffa …“ Arrow brach mitten im Wort ab. Sie räusperte sich kurz und fuhr dann fort. „Das waren nicht meine Worte. Ich habe nur wiederholt, was Adam so nett beschrieben hat.“
Während Adam beschämt die Hände über dem Kopf zusammenschlug, grinsten Sally und Dewayne amüsiert in sich hinein. Neve hingegen war schockiert über so viel Offenheit am Frühstückstisch.
Erfolglos versuchte Sally ein Lachen zu unterdrücken. „Hey Adam – stille Wasser sind tief oder wie?“ Kaum, dass die Worte ausgesprochen waren, mussten sie und Dewayne losprusten.
Harold erhob sich würdevoll von seinem Platz und verließ – übertrieben mit dem Hintern wackelnd – den Raum. Bevor er durch die Tür trat, warf er Arrow noch einen prahlerischen Blick zu und verschwand anschließend.
„Ist mir schlecht“, bemerkte Arrow bleich.
„Ich sage es dir nur ungern, Kindchen, aber in diesem Wettbewerb wirst du so oder so den Kürzeren ziehen“, sagte Sally. „Seitdem der gute Adam bei uns lebt, ist er wie ausgewechselt, und ich danke sowohl ihm als auch dir sehr dafür. Ich hatte schon fast vergessen, wie Harold aussieht, wenn er glücklich ist.“
Unweigerlich stiegen die Bilder der nächtlichen Begegnung in Arrow hoch. Sie schüttelte sich. „Des einen Glück ist des anderen … Brechreiz ...“, murmelte sie vor sich hin.
Als alle mit dem Frühstücken fertig waren, schickte Anne die völlig übermüdete Arrow ins Bett und übernahm das Abräumen selbst. Flink nahm sie Dewayne beiseite und reichte ihm ein kleines Beutelchen. „Gib ihr das“, forderte Anne ihn auf.
Eindringlich musterte der Elf sie. „Schlafpulver? Anne, so kann das nicht ewig weitergehen. Dieses Pulver ist auf die Dauer nicht gesund.“
Besorgt schlug die alte Frau ihre Augen nieder. „Ich weiß. Doch nicht zu schlafen, ist ebenso wenig gesund, und im Moment habe ich keinen anderen Rat.“
Resignierend nahm Dewayne ihr das Beutelchen ab und verließ die Küche. Als er das Turmzimmer erreicht hatte, hörte er gerade noch die Tür zufallen. Er klopfte kurz an und wartete höflich, bis Arrow ihn hinein bat.
Sie sah kraftlos aus. Ihr langes Haar hing glanzlos und schlaff über ihre Schultern. Ihre Augen hatten jeglichen Glanz verloren und waren ganz blutunterlaufen. Unter ihnen hatten sich breite, schwarze Ringe gebildet. Arrows Haut war blass und insgesamt wirkte ihre ganze Erscheinung, als wäre sie eine zu früh verstorbene Verbannte, direkt dem Reiche Frau Perchtas entsprungen. Dennoch schenkte sie ihrem Bruder ein Lächeln.
Dewayne zerriss es fast das Herz, seine Schwester so sehen zu müssen, und er fragte sich, ob es ihr wohl nach Melchiors Tod ähnlich ergangen war. Der Gedanke, dass sie sich möglicherweise auf die gleiche Art und Weise monatelang völlig allein – mit Ausnahme von Whispers Gesellschaft – durch die Weltgeschichte getrieben hatte, machte ihn ganz krank vor Schuldgefühlen.
Ausgelaugt saß Arrow auf dem großen Bett und ließ ihre Beine leblos über die Kante hängen. Früher hatte sie nie etwas derart lustlos getan. Seit jeher hatte sie es geliebt, sich auf Tische oder andere Möbelstücke zu setzen, um dann ausgiebig mit ihren Beinen herum zu baumeln. Diese Zeiten gehörten offenbar der Vergangenheit an.
„Hey“, murmelte Dewayne verlegen. „Ich wollte fragen, ob du noch irgendwas brauchst.“
Arrow schüttelte den Kopf. „Danke, aber ich denke nicht.“
Ratlos nickte er ihr zu. Es bedrückte ihn, nichts tun zu können, und dieses Gefühl mochte er gar nicht. Ein Elf hatte so viel Macht und konnte Dinge erschaffen, von denen die meisten anderen Geschöpfe nicht einmal zu träumen wagten. Dieser Gabe allein hatten es die Elfen zu verdanken, dass nur ihresgleichen so etwas Wundervolles wie das Elfenreich erschaffen konnten. Ganz zu schweigen von Nebulae Hall – einem Ort, den es nie gegeben hätte, wenn Elfen nicht den Grundstein dafür gelegt hätten. So viele Wesen hatten sie damit glücklich machen können. Tausende hatten dort nach so vielen trostlosen Jahren ein neues Heim gefunden. Doch nun saß Dewayne neben einem einzigen Geschöpf – seiner Schwester. Und er liebte sie von ganzem Herzen. Nicht weil er aufgrund der familiären Bindung dazu gezwungen war, sondern einfach weil Arrow es wert war, geliebt zu werden. Trotzdem war er, was sie momentan anging, machtlos.
„Wie geht es dir?“, fragte der Elf, entschlossen seine Schwester mit einem Gespräch trösten zu können. Doch Arrows Antwort erschütterte ihn nur noch mehr.
„Stelle mir bitte keine Fragen über mein Befinden“, flehte sie regelrecht, und in ihren leblosen Augen stiegen Tränen auf. „Du kennst die Antwort, Dewayne. Und ganz davon abgesehen kann ich keinen einzigen Augenblick an etwas Anderes denken. Ich verstehe nicht, wie das alles hier nur passieren konnte. Aber am schlimmsten ist der Gedanke daran, dass ich nicht da war. Es ist alles meine Schuld!“
Arrow schluchzte und weinte bitterlich. Ohne nachzudenken, schloss Dewayne sie in seine Arme und streichelte sanft ihren Kopf. Die Tränen liefen wie ein Wasserfall über die ohnehin schon vom Salz gereizten Wangen. Es war ihr kaum möglich, sich zu beruhigen.
„Wie kannst du nur denken, dass es deine Schuld ist?“, fragte Dewaye ergriffen. „Niemand hat Schuld an diesem Vorfall und keiner von uns hat es kommen sehen.“
„Trotzdem war es meine Schuld“, schluchzte Arrow erneut. „Ich war nicht da. Immer verlasse ich diejenigen, die ich am meisten liebe, und bringe alle in Gefahr. Es ist ein verdammter Fluch!“
Erschüttert schob Dewayne seine Schwester ein Stück von sich weg, um ihr in die Augen sehen zu können. „Arrow, du bist nicht schuld“, sagte er mit fester Stimme. „Beides waren Unfälle, mit denen keiner gerechnet hat. Niemand hat damals geahnt, dass du deine Freunde in Elm Tree vermissen und versuchen würdest, sie zu besuchen. Die ganze Zeit haben wir unzählige Späher damit beschäftigt, ein Auge auf dich zu haben, und in einem einzigen Moment waren wir unaufmerksam. Nicht einer von uns hatte seinerzeit bedacht, dass es vernünftiger gewesen wäre, dich aufzuklären. Alle haben es für besser gehalten, dir vorerst ein schönes neues Heim zu bieten. Wir haben es für unklug befunden, dich in ein neues Leben zu zwängen und dir dann auch gleich noch die Last der Prophezeiung aufzuerlegen. Das wäre unserer Meinung nach einfach zu viel gewesen.“
„Und warum habt ihr es mir nicht einfach von klein auf gesagt?“, entgegnete sie anklagend. „Alles wäre einfacher gewesen, wenn ich mit diesem Wissen aufgewachsen wäre!“
Dewayne musterte sie skeptisch. „Ach ja? Glaubst du das wirklich?“, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen. „Hätten wir diesen Weg beschritten, so wärst du in Angst aufgewachsen. Du hättest niemals Freunde gehabt und jedes kleine Anzeichen deiner Andersartigkeit hätte dich verraten können.“
„Bist du etwa der Meinung, dass ich ein normales Kind war, weil ich von all dem nichts gewusst habe? Denkst du denn, ich hätte die Blicke der Dorfbewohner nicht in meinem Rücken gespürt und von den Bedenken der Eltern meiner Freunde nichts geahnt? Das alles ist mir nie entgangen!“
„Ich weiß. Doch damals hat es dich nicht interessiert, denn du hast dich sicher gefühlt. Glaub mir, Arrow, wir haben mehr als einmal darüber nachgedacht, dir die Wahrheit zu sagen. Aber wenn wir es getan hätten, hättest du deine unschuldige Neugier verloren und wärst nie zu der Person geworden, die du heute bist.“
Arrow weinte nach wie vor, doch aus dem Wasserfall war inzwischen ein kleiner Gebirgsbach geworden. Auch schluchzte sie nicht mehr und höre ihrem Bruder aufmerksam zu. Noch immer fühlte sie sich schuldig, jedoch auf eine andere Art. Die Worte des Elfen hatten ihr verdeutlicht, dass sie nicht allein litt und sich nicht als Einzige Vorwürfe machte.
Niedergeschlagen senkte Arrow ihren Blick. „Manchmal wünsche ich mir nichts sehnlicher, als ihn noch ein letzten Mal umarmen und ihm sagen zu können, wie sehr ich ihn liebe“, sagte Arrow mit zitternder Stimme. Und obwohl Dewayne um ihre schmerzliche Trauer des nahen Verlusts wusste, war ihm gleichzeitig bewusst, dass dieser Wunsch nicht Keylam galt.
„Arrow, du hast es ihm doch gesagt – immer und immer wieder. Sogar in den letzten Momenten seines Lebens bist du nicht müde geworden, es ihn wissen zu lassen.“
Verzweifelt schaute sie ihren Bruder an. „Aber es war nicht das Gleiche“, erwiderte sie mit bebender Stimme. „Nicht ihm habe ich es gesagt, sondern seinem Nyriden, und du kannst dir nicht vorstellen, wie unwirklich sich das alles angefühlt hat. Ja – er hat genauso ausgesehen wie Dad, doch da war keine Hoffnung in ihm. Es gab nichts, das es je vermocht hatte, ihn glücklich zu machen. Manchmal frage ich mich, ob er überhaupt gewusst hat, wer ich war.“
Noch einmal nahm Dewayne seine Schwester tröstend in die Arme und wartete geduldig, bis sie sich etwas beruhigt hatte. Dabei ließ er seinen Blick noch einmal durch das kleine Zimmer schweifen. „Bist du sicher, dass du hier schlafen möchtest?“, fragte er fürsorglich.
Traurig blickte Arrow zu der Stelle, an dem sie Keylams Asche zusammengesammelt hatte. Mit einem kraftlosen Nicken antwortete sie: „Ich möchte hier sein, wenn er zurück kommt.“
Sowohl sie selbst als auch Dewayne waren sich bewusst, dass dies nicht geschehen würde. Doch mittlerweile war Arrow für weitere Gespräche einfach zu schwach.
Ohne jede Vorwarnung öffnete der Elf das kleine Beutelchen, streute dessen Inhalt vollständig auf seine Hand und blies Arrow das Pulver ins Gesicht. Gerade merkte sie noch, wie sie sanft in das Bett gelegt und zugedeckt wurde. Dann war sie eingeschlafen.