Die Entscheidung
Als Arrow die Burg verließ, fand sie alles so vor, wie sie es verlassen hatte. Harold saß zur linken Seite des Ausgangs gegen einen Felsen gelehnt und hielt die Augen geschlossen, als würde er ein Nickerchen machen. William stand zur rechten Seite und ließ seinen Blick über die Brücke schweifen. Als er sich Arrow zuwandte, sprudelte ihr Herz beinahe über vor Freude. Doch bevor sie ihm in die Arme fallen konnte, sprang Garm vor ihre Füße und kläffte sie an, als würde er ihren Körper jeden Moment in Hunderte Einzelteile zerreißen wollen.
Über all diese Ereignisse hatte Arrow den Höllenhund völlig vergessen. Er wachte darüber, dass niemand, der Hels Reich einmal betreten hatte, es je wieder verlassen würde.
Bevor sie in irgendeiner Art und Weise reagieren konnte, schob sich der Fenriswolf an ihr vorbei und zwang Garm, der gerade mal halb so groß war, mit lautem Knurren in seine Höhle zurück. Ohne weitere Anstalten verblieb der Höllenhund darin, und nicht einmal seine stechenden Augen lugten noch aus der Dunkelheit hervor.
Erleichtert schloss William seine Arme um Arrow und ganz unerwartet machte ihr Herz einen großen Sprung.
„Ich habe mir solche Sorgen gemacht“, hauchte er ihr liebevoll ins Ohr.
Diese Worte ließen sie alles um sich herum vergessen. Plötzlich war da nur noch ein Gefühl, das mit jedem Augenblick stärker wurde. Es war der unausweichliche Wunsch, ihn zu küssen.
Arrow hob ihren Kopf und schaute William in die Augen. Sie fühlte, wie sich sein Geist in ihre Seele schlich. Seine zarten Fühler ergriffen Besitz von ihr. Harold hatte sie vor diesem Moment gewarnt, doch jetzt war es egal, was mit ihr geschehen würde. Und außerdem war es nur ein Kuss, etwas absolut Wunderbares. Der Wunsch nach seinen Lippen war mittlerweile so groß, dass Arrow sich nach Erlösung sehnte. Sie glaubte nicht länger daran, dass jemand, der so schön war, etwas so Hässliches mit ihr vorhaben und sie wie ein Parasit aussaugen könnte.
Während sie William langsam näher kam, war Arrow unfähig, ihre Augen zu schließen. Er hatte den gleichen Einfluss auf sie, wie es das Licht auf eine Motte hatte. Die Tatsache, dass es sich dabei um ein tödliches Feuer handeln konnte, hatte sie vollkommen ausgeblendet. Allein die Überzeugung, dass am Ende das Paradies auf sie warten würde, reifte immer stärker in ihr heran. Doch dann passierte etwas Seltsames. Für den Bruchteil einer Sekunde schaute William sie nicht länger an, sondern an ihr vorbei, und Arrow wusste intuitiv, dass Harold hinter ihr stand. So verwunderte es sie auch nicht, als sie von seiner knochigen Hand am Arm gepackt und unsanft zu Boden gewirbelt wurde.
„Bist du von allen guten Geistern verlassen?“, herrschte er Arrow an. „Hast du alles vergessen, was Keylam und du zusammen durchgemacht habt? Dass er dich liebt und auf dich wartet?“
Verwundert runzelte Arrow die Stirn. „Keylam?“, fragte sie fast flüsternd. Und bevor sie den Schrecken in Harolds Gesicht erkennen konnte, hatte William sich schon über sie gebeugt.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte er besorgt und reichte ihr seine Hand. Verwirrt griff Arrow danach und ließ sich von ihm auf die Füße helfen. Unfähig, noch einen klaren Gedanken fassen zu können, ging Arrow zum Fenriswolf und setzte ihre Reise an seiner Seite schweigend fort.
Obwohl sie keinen Ton sagten, wusste Arrow, dass William und Harold dicht hinter ihr waren. Sie wagte nicht, einen Blick zurückzuwerfen, und ging in ihren Gedanken immer wieder jedes Wort und jeden Blick von beiden durch. William hatte gesagt, dass er Harold nicht sehen könne, dass er ein Hirngespinst und somit nicht anwesend sei. Und Harold hatte gesagt, dass sie William nicht trauen dürfe und er nichts Gutes im Sinn habe.
Irgendwann verlor sie das Gefühl dafür, wie lange sie schon ziellos umher geirrt war. Natürlich wollte sie nach wie vor zur Welt hinter den Welten, doch sie hatte nicht die geringste Ahnung, welche Richtung sie dafür einschlagen musste.
„Arrow“, hörte sie William sagen und zuckte beim Klang seiner warmherzigen Stimme zusammen. „Vielleicht sollten wir eine Pause einlegen. Du wirkst erschöpft.“
Teilnahmslos nickte sie und ließ sich am nächstbesten Baum nieder. Ein gutes Dutzend kleiner Spinnen nahm sich ihrer sofort an, und Arrow freute sich über diese Art von Trost.
Während William die Umgebung ausspähte, setzte Harold sich zu ihr.
Er wirkte besorgt, und nachdem er sie eine ganze Weile beobachtet hatte, ergriff er endlich das Wort. „Willst du erzählen, was in der Burg vorgefallen ist?“
Obwohl Arrow keine Lust auf ein Gespräch hatte, ließ sie sich dennoch darauf ein. Irgendwie hatte sie das Gefühl, es Harold schuldig zu sein.
„Es war ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte“, begann sie zu erzählen und lehnte ihren Kopf dabei zurück. „Hel ist mir ausnahmslos freundlich begegnet. In dieser Hinsicht treffen die Geschichten über sie also nicht zu. Einzig ihre äußerst gewöhnungsbedürftige Erscheinung stimmt mit den Legenden überein.“
„Aber was du sagst, bestätigt im Grunde nur, dass sie ihrem Ruf doch gerecht wird. Hel ist keine durch und durch böse Herrscherin. Sie behandelt jede Seele genau so, wie es ihr gebührt.“
„Woher weißt du das? Bist du ihr etwa schon mal begegnet?“
Harold lachte. „Wie sollte ich? Du weißt doch, dass ich ihr Reich nicht betreten kann. Außerdem verlässt sie es nie. Aber mit den Jahren habe ich gelernt, wem man Glauben schenken sollte. Besonders vertrauenswürdige Leute reden überwiegend positiv über Hel. Gauner, Mörder und Diebe berichten hingegen nur Gegenteiliges. Bei denen wundert es mich auch nicht, denn immerhin gehört es zu Hels Aufgaben, die Schlechten zu bestrafen. Wer also eins und eins zusammenzählt, wird wissen, dass sie solchen nicht unbedingt wohlgesonnen ist. Demzufolge reden sie auch schlecht über Hel.“
Nachdenklich betrachtete Arrow eine der kleinen Spinnen auf ihrem Finger. „Ich kann mich dem nicht anschließen. Sie hat mir sehr geholfen, obwohl ich im Grunde nicht weitergekommen bin. In ihrem Reich hält sich mein Vater nicht auf, und sogar in Walhall war er nicht zu finden.“
„Bist du etwa dort gewesen?“, fragte Harold überrascht.
Mit einem müden Lächeln auf den Lippen nickte Arrow. „Es war wunderschön dort. Und es lag etwas in der Luft, das ich kaum beschreiben kann. In meinem ganzen Leben habe ich mich nie derart aufgeräumt gefühlt. Einfach wundervoll.“
„Hast du dort jemanden getroffen?“
„Nur Odin“, log Arrow. Harolds skeptischer Gesichtsausdruck hatte ihr sofort verraten, worauf er hinaus wollte. Sie konnte sich nicht erklären, warum es so war, doch fürs Erste hielt sie es für klüger, ihm nichts von ihrer Begegnung mit Darren zu erzählen. „Aber es war wirklich faszinierend dort“, versuchte sie das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. „Für Musen ist es bestimmt der perfekte Ort.“
Harold schlug die Augen nieder. „Musen ist der Zutritt in Walhall untersagt. Wir hören die schönsten Geschichten darüber, doch wie es dort wohl aussehen mag, können wir nur den Gedanken und Träumereien unserer Künstler entnehmen.“
„Gibt es denn überhaupt keine Möglichkeit für euch, dort eingelassen zu werden?“
„Es soll mit Hilfe eines Himmelsschlüssels funktionieren, doch diese Möglichkeit wurde nie bewiesen. Himmelsschlüssel lassen sich ja nicht unbedingt an jeder Ecke finden. Es gibt eine Vielzahl von täuschend echt aussehenden Exemplaren. Bis auf die Tatsache, dass sie ihren Finder in den Wahnsinn treiben, bewirken sie jedoch rein gar nichts und sollen nur von den tatsächlichen Schlüsseln ablenken. Die Suche danach gestaltet sich schwieriger als die nach der Nadel im Heuhaufen. Es ist ein verdammter Teufelskreis. Je mehr Täuschungen man findet, desto stärker zerreißt es einen innerlich, und trotzdem treibt es einen noch härter dazu an, ein echtes Exemplar finden zu wollen. Ich habe lange nach einem Himmelsschlüssel gesucht und letzten Endes aufgegeben. Es hat mich in einen Zustand versetzt, der weitaus brutaler war, als es bei einem Befinden ohne Hoffnung der Fall ist.“
„Ich hatte einen solchen Schlüssel“, murmelte Arrow abwesend.
„Ich weiß“, entgegnete Harold mit ruhiger Stimme. „Und bis vor einem Augenblick habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass du ihn nicht benötigen und mir überlassen würdest.“
„Aber wenn du so lange nach einem Himmelsschlüssel gesucht hast, hättest du ihn dir doch einfach nehmen können“, sagte Arrow stirnrunzelnd.
„Ich mag manchen Geschöpfen durch die Art meiner Nahrungsaufnahme wie ein Monster erscheinen, doch das ist kein Umstand, den ich mir selbst je erwählen durfte. Allerdings liegt es allein in meiner Macht, den Grad meiner Habgier selbst zu bestimmen, und eines habe ich schon immer gewusst – nie habe ich ein Gauner sein wollen.“
Arrow lächelte ihn an. Es kam einfach automatisch und war in keiner Weise aufgesetzt. Es war ein ehrliches und vor allem dankbares Lächeln. Die Reise durch die Unterwelt hatte endlich einen Sinn. Sie hatte einen völlig Fremden zu einem Freund werden lassen. Arrow war nicht allein und das wurde ihr jetzt erst richtig bewusst. Harold erkannte das. Plötzlich las er all diese Dinge in Arrows Gesicht. Zweifellos hatte eine Muse keine große Mühe, sich in die Gedanken Anderer einzuschleichen, doch in seinem gegenwärtigen Zustand war es Harold nicht ohne weiteres möglich. Nur eine einzige Tatsache gewährte ihm diesen kostbaren Einblick. Es war die Tatsache, dass Arrow sich endlich für ihn öffnete. Und ein bisschen erweckte es in ihm wieder das Gefühl, eine echte Muse zu sein. Jetzt hatte er eine Verbündete.
„Was hat William verraten?“, fragte Harold mit größter Vorsicht. Er wusste, dass Arrow ihm endlich Glauben schenkte, und dieses Vertrauen wollte er um nichts auf der Welt wieder zunichte machen.
„Er hat dich angesehen“, entgegnete sie und schlug die Augen nieder. Tränen stiegen in ihr hoch, denn sie wusste, was das bedeutete. „Ich hatte so sehr gehofft, dass du dich in ihm täuschst, dass du der Lügner bist. Er ist so wundervoll, und mittlerweile empfinde ich etwas für ihn, das ich noch nie in vergleichbarem Maße für irgendjemanden sonst empfunden habe. Die Gewissheit, dass er nicht ebenso für mich empfindet, zerreißt mein Herz in tausend Stücke.“
Harold musterte sie mit verengten Augen. „Aber deine Liebe für Keylam ist weitaus stärker als die zu William.“
„Keylam?“, fragte sie stutzig. „Ich habe wirklich keine Ahnung, von wem du da sprichst.“
„Er ist dein Ehemann“, versuchte er ihr ins Gedächtnis zu rufen, doch der gewünschte Effekt blieb aus. Sie erinnerte sich einfach nicht an ihn. In einem Anfall von Panik kramte Harold jeden noch so kleinen Anhaltspunkt heraus, der wie ein wundersamer Strohhalm dabei helfen könnte, die Erinnerung an ihn zurück zu bringen. „Sein Perseide ist ein Phönix, und du bist seinetwegen in die Unterwelt gekommen. Er wurde von den Sieben Todsünden hierher verschleppt.“
Nachdenklich ging Arrow in sich, doch so sehr sie sich auch bemühte, es wollte ihr nicht einfallen.
„Aber ihr habt zusammen die Wände des Schlosses mit Bildern bemalt, und als er in einen Tod bringenden Abgrund gestürzt ist, bist du ihm hinterher gesprungen, weil dir klar gewesen war, dass du nicht mehr ohne ihn leben willst ...“
Arrow lächelte. „Das hört sich schön an. Doch ich bezweifle, etwas Derartiges jemals getan zu haben, denn ich leide schon seit vielen Jahren unter Höhenangst.“
Harold erschrak. Es ging los. Dieses Mal konnte er ihre Erinnerungen nicht wieder zurückholen. Jetzt war es anders, als in dem Moment, in dem sie unmittelbar davor stand, das Höllenreich zu betreten. Von nun an arbeitete die Zeit unaufhaltsam gegen sie, was gleichzeitig vollkommen absurd zu sein schien, denn in der Unterwelt gab es gar keine Zeit. Doch viel seltsamer war, dass es bei Arrow vergleichsweise spät begann. Unter normalen Umständen hätte sie den Wettlauf gegen den Tod längst verloren. Doch was war hier schon normal?
Harold schlug die Augen nieder. Ihm war bewusst, was jetzt alles von ihm abhing. Doch auch wenn die Zeit drängte, musste er unter allen Umständen einen kühlen Kopf bewahren. Er durfte nicht mehr Hektik aufkommen lassen, als es ohnehin schon an der Tagesordnung lag. Und Arrow musste sich jetzt schonen, bevor sie ihren Weg fortsetzte. Sie hatte schon viel zu lange nicht mehr geschlafen. Unter Druck würde alles nur noch schneller gehen. Ruhe machte sich nun in jedem Fall eher bezahlt.
„Weißt du denn inzwischen, wo wir deinen Vater finden können?“, fragte Harold beinahe resignierend.
„Soweit ich es in Erfahrung bringen konnte, hält er sich in der Welt hinter den Welten auf.“
Eigentlich hätte ihn diese Aussage treffen müssen, doch tief in seinem Inneren hatte er geahnt, dass ihr Weg sie dorthin führen würde. Und so, wie es gerade aussah, konnte es ohnehin nicht mehr viel schlimmer kommen.
Arrows Blick führte an Harold vorbei. Verträumt und traurig zugleich beobachtete sie William, der von seiner Erkundungstour zurückgekehrt war. „Gibt es denn wirklich keine Chance für uns?“, flüsterte sie verzweifelt in die Dämmerung.
„Für dich gibt es eine, doch für ihn wahrscheinlich nicht“, entgegnete Harold mitfühlend. „Er hat schon zu viel Energie in dich investiert. Für ihn gibt es kein Zurück. Wenn du ihn nicht küsst, wird das seinen Tod zur Folge haben.“
Eine einsame Träne lief über Arrows Wange. „Und wenn ich ihn doch küsse?“
„Dann ist dein Vater und alles, wofür er gekämpft hat, verloren.“
Arrow schloss die Augen und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Dann spürte sie Harolds Hand auf ihrer Schulter, die sich zum ersten Mal nicht einfach nur knochig und unangenehm anfühlte, sondern tröstend, wie die Hand eines Freundes. Mitfühlend hörte sie ihn sagen: „Ich weiß, dass du eine Schwäche für schwarzhaarige, Furcht einflößende Bestien hast, doch du kannst sie nicht alle retten.“