Eine Reise zum Ort der Alpträume
Nachdem Arrow sich von allen verabschiedet hatte, trat sie zusammen mit Whisper ihre Reise zum Holunderwald an. In einem unbeobachteten Moment ließ sie eine Träne der Grünen Lady unter seine Mähne tropfen. Die Umrisse der entstehenden Efeuranke waren kaum zu erkennen, doch das dicke Haar des Rappen würde sie verdecken.
Sie konnte sich so gut wie gar nicht mehr an den Weg zum Holunderwald erinnern und auch die funkelnde Schneedecke half ihr wenig bei der Orientierung.
Dicke Schneeflocken, die ganz sanft zur Erde fielen, begleiteten Arrow auf ihrem Weg. Es war ein Zeichen, dass Keylam in seinem Herzen bei ihr war und sie vermisste.
Trotzdem erreichte sie ihr Ziel irgendwann, denn Whisper erwies sich auch dieses Mal als ein überaus aufmerksamer Führer.
Der riesige Wirbelsturm der Nyriden war unübersehbar. Wie eine Bedrohung erhob er sich weit über die Kronen der toten Bäume hinaus.
Noch einmal wollte Arrow eine Pause machen und stieg ab. Beruhigend strich sie Whisper über den warmen Hals, doch der Rappe nahm ihre tröstende Geste kaum wahr. Ihm war nicht wohl bei der Sache – und erst recht nicht bei dem Gedanken daran, seinen Schützling noch einmal allein in diesen Wald schicken zu müssen.
Immer und immer wieder versuchte Arrow, das aufsteigende Gefühl der Unbehaglichkeit zu unterdrücken. Der Gedanke an den Tag am Meer half ihr ein wenig sich zu beruhigen, doch jedes Mal, wenn sie kurz vor dem Durchbruch stand, versiegte der Tagtraum wieder und musste erneut mühsam konstruiert werden.
Letzten Endes beschloss Arrow, das letzte Stück zu Fuß zurückzulegen. Sie brauchte Bewegung. Der Rappe folgte ihr.
Als sie die Grenze des Waldes erreicht hatte, war es wieder da – das Gefühl von damals. Bilder stiegen in ihr hoch und mit ihnen die Verzweiflung. Vor ihrem inneren Auge sah sie ihren Vater und wie er sich das Leben nahm. Doch bevor die Erinnerungen abermals von ihr Besitz ergreifen konnten, knackte es. Im Wald wartete jemand auf Arrow und sie konnte ihren Beobachter nicht sehen.
Um das Gefühl der Panik möglichst schnell verdrängen zu können, ging sie auf den Wald zu. Vor ihr wichen die Zweige und das Gestrüpp der toten Bäume und Büsche zurück. Sie formten einen Eingang. Mit einem tiefen Atemzug tat Arrow den letzten Schritt, um auf die andere Seite zu gelangen, doch – es ging nicht.
Verwundert blieb sie stehen. Dann versuchte sie es erneut, aber der Zugang zum Holunderwald wurde ihr wiederholt verwehrt. Whisper schnaubte unheilvoll. Etwas stimmte nicht. Arrow war der Einladung in den Wald gefolgt und trotzdem bekam sie keinen Zutritt.
„Was soll der Unsinn?“, fragte eine Furcht einflößende, heisere Frauenstimme. Offenbar stand sie unmittelbar vor Arrow, aber sie konnte niemanden sehen.
„Hallo?“, fragte Arrow verunsichert.
Plötzlich trat eine in Kaninchenfellen bekleidete Frau über die Grenze. Sie war klapperdürr und mindestens zwei Köpfe größer als Arrow. Ihre Haut war fahl und faltig und sie sah furchtbar unfreundlich aus. Auf ihrem Kopf trug sie einen Hirschschädel mit einem gigantischen Geweih als Helm. Das machte die Frau gleich noch unsympathischer, als sie ohnehin schon wirkte, denn Arrow verabscheute es, die Überreste toter Tiere als Jagdtrophäen zu verwenden. An die Wand genagelt, sah es schon schlimm genug aus. Als Kopfbedeckung aber war es eine absolute Frechheit. Überraschend schnell wurde Arrows Zorn darüber von der Frage verdrängt, wie diese klapprige alte Frau überhaupt das Gewicht eines solchen Brockens auf ihrem Kopf balancieren konnte. Aber der Gedanke daran, dass diese Person gut zu Harold passen würde – so er denn Frauen zugetan wäre –, brachte sie zum Schmunzeln.
Die Alte empfand Arrows respektloses Grinsen offenbar als eine ziemliche Unverfrorenheit, denn sie betrachtete ihr Gegenüber mit einem Blick, der weniger als gar keinen Raum für Spekulationen über gutmütige Absichten ließ. Ein gutes Dutzend Hunde, deren Felle gesund und sauber glänzten, folgte der Alten aus dem Wald.
„Frau Perchta?“, fragte Arrow angespannt.
„Nein!“, murrte die Alte, streckte eine Hand nach Arrows Arm aus und zog sie sogleich wieder zurück.
„Hör auf damit!“, blaffte die Alte sie an.
„Womit?“, fragte Arrow verwirrt.
Wieder griff die Alte nach ihrer Hand und schrie auf, bevor sie diese abermals eilig zurückzog. „Damit!“, antwortete sie aufgebracht.
„Aber ich mache doch gar nichts!“, gab Arrow schon etwas lauter, aber immer noch verunsichert zurück. „Und hör gefälligst auf, mich so anzuschreien! Mein Gehör ist einwandfrei – ich verstehe auch so jedes Wort!“
Vor Wut brodelnd stellte sich die Alte genau vor Arrow, die keinen Schritt zurückwich. „Halte lieber deinen Mund“, mahnte sie. „Sonst spalte ich deine Zunge und knote sie dir an deinen kleinen Zehen fest.“
Verächtlich lachte Arrow auf. „Du schaffst es ja nicht einmal, meine Hand zu berühren. Da bin ich gespannt, wie du an meine Zunge, geschweige denn an meine kleinen Zehe kommen willst.“
„Genug jetzt!“, rief eine weitere Frauenstimme aus dem Wald, woraufhin die Alte umgehend zurückwich. Sogar ihre Hunde legten sich augenblicklich auf den Boden und begannen zu winseln.
„Was macht ihr hier und warum bringst du das Mädchen nicht zum Treffpunkt?“, fragte die Stimme. Sie klang sehr herrisch, doch nicht andersartig. Die Frau, die da sprach, wusste genau, was sie wollte, und der Ton, den sie anschlug, machte unmissverständlich klar, dass sie keine Widerrede duldete.
„Verzeiht mir“, antwortete die Alte mit gesenktem Blick. „Offenbar kann das Mädchen den Wald nicht betreten.“
„Stimmt das?“, fragte die Stimme und im selben Augenblick glitten die wuchtigen toten Bäume des Waldrandes zur Seite und legten ihre gewaltigen Stämme ehrfürchtig auf den Waldboden, um Platz zu machen.
Ein hässliches Monster trat unheilvoll aus dem Schatten der Bäume hervor. Bis zu seinem Kopf schien es gute drei Meter hoch zu sein. Die gewaltigen Hörner ließ es weitere drei Meter groß sein. Insgesamt sah es wie ein riesiger Steinbock aus, doch das Monster hatte acht Augen wie eine Spinne. Sein Blick war kalt wie Stein und es verbreitete den Gestank des Todes. Mit seiner langen, gespaltenen Zunge tastete es den Waldboden ab, und als es schrill aufschrie, blitzten seine spitzen Giftzähne durch. Bedrohlich wedelte der lange Skorpionschwanz von einer Seite zur anderen.
Völlig hypnotisiert von der Hässlichkeit dieses Wesen übersah Arrow beinahe, dass auf ihm eine Frau saß.
Vor der Grenze des Waldes hielt das Ding an und ließ seine Reiterin absteigen.
Sie trug einen langen, schwarzen Mantel und um ihre Taille spannte sich ein lederner Gürtel, dessen Schnalle von dem knochigen Schädel eines Steinbocks gebildet wurde. Die Hörner des Schädels verliefen über ihre Brust und wölbten sich über ihre Schulter hinweg. Offenbar hatte hier jeder einen abartigen Geschmack, was Kleidung und Schmuck betraf ...
Das graue Haar der Frau war streng zurückgebunden und ihre giftgrünen Augen funkelten unheilvoll. Doch es war auch noch etwas Anderes in ihnen. Beinahe hätte man meinen können, dass diese Frau noch nie etwas Schönes erlebt hatte. Es gab keinen Glanz in ihren Augen – weder einen neuen, strahlenden, noch einen schwach glimmenden aus längst vergangenen Zeiten.
Bis auf ihr vernarbtes Gesicht war sie rundum in Kleidung gehüllt. Unter dem dicken Mantel war ihre Figur kaum zu erahnen und selbst über ihre Finger waren lederne Handschuhe gestülpt. Das Unheimlichste an ihrer Erscheinung war jedoch ihr Zepter, das aus einem übergroßen, sich verkrampfenden Hühnerbein bestand. Die Krallen ragten in den Himmel und zitterten gelegentlich, als würde es sich dabei um die letzten Todeszuckungen der durchtrennten Nerven handeln.
Als Arrow sich vor lauter Furcht nicht rühren konnte, schaute die Alte mit dem Hirschgeweih auf und schubste sie mit Hilfe eines Stocks in Richtung der Waldgrenze, doch auch dafür erntete sie wieder einen Schlag.
Nachdem Arrow der Zutritt zum wiederholten Male verwehrt wurde, taumelte sie zurück und hatte Mühe, ihre Haltung wieder zu finden.
„Spinnst du?“, herrschte sie die Alte an.
„Sssscht!“, befahl die vernarbte Frau. „Du bist also Arrow“, sagte sie weniger forsch, doch noch immer Respekt einflößend.
„Frau Perchta?“, fragte Arrow verunsichert.
Die Frau lachte. „Freut mich sehr, deine Bekanntschaft zu machen.“
Sie war es wirklich. Nach all den Gedanken über Frau Perchtas Erscheinung und den Geschichten, die über sie erzählt wurden, sah sie letzten Endes ganz anders aus, als Arrow sie sich vorgestellt hatte. Eher hätte sie mit einer Art Dämon, Hexe oder gar einem Monster gerechnet. Zugegebenermaßen war Frau Perchta nicht unbedingt eine Schönheit, doch weit weniger abschreckend, als Arrow es sich ausgemalt hatte. Bei einer Sache hatten die Geschichten aber nicht gelogen: Der strenge Blick, dem man sich einfach unterwerfen musste, den hatte sie. Diese Frau strahlte eine derart starke Autorität aus, wie Arrow es noch nie zuvor erlebt hatte. Allerdings wollte sie nicht ausschließen, dass diesbezüglich vielleicht Magie im Spiel war.
Aber was Arrow noch sehr viel mehr beschäftigte, war etwas ganz Anderes: Frau Perchta schien ihr nicht unsympathisch zu sein. Der erste Eindruck war seit jeher immer sehr wichtig für sie gewesen. Bisher hatte er sie höchstens zwei, drei Mal im Stich gelassen. Davon abgesehen hatten sich ihre Beziehungen zu anderen immer genau so entwickelt, wie es ihr Anfangsgefühl vorausgesagt hatte. Die Sympathie für diese Frau war die seltsamste Erkenntnis, die sie je gewonnen hatte. Vor wenigen Monaten noch hatte es nichts im Universum gegeben, das sie mehr hätte hassen können als diese Person. Doch auch wenn sich Arrows Meinung ihr gegenüber gebessert hatte, war da immer noch die Tatsache, dass sie sich erst vor wenigen Augenblicken kennen gelernt hatten. Trotzdem fühlte sie sich von Frau Perchta magisch angezogen.
„Frau Gaude hast du ja bereits kennen gelernt“, sagte Perchta und deutete auf den klapprigen Waldschrat mit dem geschmacklosen Geweihhelm. „Und mit meinem General“, fuhr sie fort, „hattest du ja auch schon vor längerer Zeit das Vergnügen.“
Aus dem Schatten der Bäume tauchte ein hässliches, gehörntes Wesen auf, bei dessen Anblick Arrow umgehend zurückzuckte. Wäre ihr die Stimme nicht in der Kehle stecken geblieben, so hätte sie auch geschrien, doch der Schock war einfach zu groß.
Aus dem Maul des hässlichen Wesens lugten unzählige schiefe Zähne hervor. Die Zunge hing ihm über das Kinn und der ganze Körper war mit dichtem, langem Fell bedeckt.
Viele Monate hatte es gedauert, um das abscheuliche Bild dieser abartigen Fratze nicht ständig vor Augen zu haben. Den Schock, als sie am Morgen nach der Wilden Jagd zum Bäcker aufbrechen wollte und dann schließlich vor der Haustür dieses Monster mit einem toten Hahn in der Hand erblickt hatte, würde sie ihr Lebtag nicht vergessen können.
„Du hast unseren Hahn auf dem Gewissen!“, war das Erste, das sie hervorbringen konnte.
Das Monster lachte.
„Du kannst also meinen Wald nicht betreten?“, fragte Frau Perchta erstaunt und lenkte somit die Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Dieser Zauber ist mir neu, obwohl ... wenn ich es recht bedenke, hat es vor dir nur wenige gegeben, die mein Reich freiwillig aufgesucht haben.“
„Aber es ist kein Zauber“, erwiderte Arrow. Dann fiel ihr das Treffen mit der Grünen Lady wieder ein und sie fügte rasch hinzu: „Glaube ich jedenfalls.“
„Zauber hin oder her“, sagte Perchta unbeeindruckt, „nun bist du hier und wir können mit den Gesprächen beginnen. Allerdings wirst du dich damit zufrieden geben müssen, dass wir an der Grenze reden, denn zum jetzigen Zeitpunkt kann ich den Wald nicht verlassen.“
Sie rammte ihr Zepter in den Boden und ohne jede Vorwarnung begann die Erde zu beben.
„Komm mit“, sagte Frau Perchta, als sie wieder auf ihr Ungeheuer kletterte. „Verhandlungen führt man für gewöhnlich an einem Tisch, und der wartet bereits am Ende des Weges.“
Während die Herrscherin des Holunderwaldes auf ihrem Monster voran ritt, trennte sich der Wald vor ihr und gab somit einen Pfad in das Innere preis.
„Jetzt geh schon!“, herrschte Frau Gaude Arrow an. „Nur weil sie für dich die Grenze des Waldes verschiebt, heißt das noch lange nicht, dass sie auch den ganzen Tag auf dich warten wird!“
Nur zögerlich kam Arrow dieser Anweisung nach. Whisper, der ihr nicht von der Seite wich, stupste Trost spendend mit seinem weichen Maul gegen Arrows Arm. Inzwischen kannte sie diese Geste und war dafür mehr als dankbar, denn es bedeutete „Ich bin da – wir stehen das gemeinsam durch“.
Der Wald wirkte unheimlich. Obwohl Arrow von dieser Seite der Grenze nicht erkennen konnte, was zwischen den Bäumen geschah, sah sie überall die Bewegungen gruseliger Schatten im Gestrüpp. Gelegentlich ertönten auch Schreie, die sich irgendwann in der Welt der Verdammten verloren. Arrow bekam eine Gänsehaut. Ihr Kopf sagte ihr zwar immer wieder, dass es zwischen den dunklen Stämmen der toten Bäume Kreaturen gab, die dieses Schicksal verdient hatten, doch ihre Stimmen waren in keiner Weise von den Klagerufen Unschuldiger zu unterscheiden.
An einem gewaltigen Baumstumpf im Inneren des Waldes hielt Frau Perchta an, kletterte wieder von ihrem Ungeheuer und nahm auf der gegenüberliegenden Seite des Stumpfes Platz. Dann deutete sie mit einer Geste an, dass Arrow sich ebenfalls setzen sollte.
Der Baumstumpf war mit Kratz- und Blutspuren übersät. Unweigerlich lief Arrow ein kalter Schauer über den Rücken, was nicht unbedingt zur Entspannung beitrug. Aber immerhin hatte es auch etwas Beruhigendes, dass Arrow den Wald nicht betreten konnte. Wer wusste schon, was dort drinnen passiert wäre und ob es sie womöglich vielleicht sogar verrückt gemacht hätte.
Ein sich näherndes Flattern ließ Arrow aufschrecken, und als eine Eule auf der Lehne ihres Stuhls Platz nahm, blieb ihr beinahe das Herz stehen.
„Grey“, stieß Arrow erleichtert aus. „Musst du mir einen solchen Schrecken einjagen?“
„Sie gehört zu dir?“, fragte Frau Perchta misstrauisch.
Arrow nickte. „Ich habe nicht gewusst, dass sie mir folgen würde.“
Skeptisch beäugte Perchta die Schleiereule. Das Tier schien ihr nicht geheuer zu sein und für den Bruchteil eines Augenblicks befürchtete Arrow ernsthaft, dass ihre bloße Anwesenheit die Eule in Gefahr bringen könnte.
„Ich hoffe, es macht Euch nichts aus“, sagte Arrow eingeschüchtert. „Wenn Ihr es verlangt, werde ich sie wegschicken.“
Frau Perchta antwortete nicht. Argwöhnisch schaute sie dem Tier tief in die Augen und wirkte dabei wie in Trance. Im nächsten Moment schien es, als würde sie wieder an Ort und Stelle zurückkehren. „Ich hätte wissen müssen, dass sie dich nicht aus den Augen lässt“, murmelte sie fluchend. „Es war nicht anders zu erwarten. Immerhin hat die gute Rose schon immer ein besonderes Auge auf ihre Schützlinge geworfen – vor allem auf dich.“
Rose? Frau Perchta kannte Annes zweiten Vornamen? Das war seltsam. Anne hatte einst erwähnt, dass nur jene, die ihr besonders nahe standen, von diesem Namen wussten. Offenbar hatte er sich inzwischen auch schon bis zu ihren Feinden herumgesprochen. Doch genau darin lag ja der Knackpunkt – oftmals stand man seinen Gegnern genauso nahe wie seinen Verbündeten – wenn nicht sogar näher.
„Ich nehme an, dass du den Grund für meine Einladung kennst?“, fragte Perchta, ohne weiter auf Greys Anwesenheit einzugehen.
Arrow verstand das als stilles Einverständnis. Um nicht Gefahr zu laufen, dass die Herrscherin des Holunderwaldes es sich anders überlegte, ließ sie dieses Thema ebenfalls unter den Tisch fallen. „Es geht um die Nyriden“, antwortete sie.
„Nun, da sich die Prophezeiung erfüllt hat“, entgegnete Perchta geschäftig, „ist es an der Zeit, die Dinge zu ordnen und wieder ihrer Bestimmung zuzuführen. Ich habe dein Volk schon lange genug beherbergt und bin müde. Somit werde ich die Verantwortung an dich abgeben.“
Arrow zuckte zusammen. „Aber ich kann ja nicht mal für mich selbst sorgen!“, platzte es aus ihr heraus. „Wie soll ich es dann für ein ganzes Volk tun können? Außerdem hat es schon eine Königin. Ihr sollte man diese Aufgabe übertragen.“
„Ihre Königin befindet sich momentan nicht in der Situation, in der man ihr eine solche Last aufbürden kann“, herrschte Perchta sie an. „Allein du bist für dieses Amt auserwählt und die Zeit ist gekommen, da du es einnimmst.“
Verächtlich lachte Arrow auf. „Ich nehme an, dass ihr wisst, aus welchem Stoff die Prophezeiung gesponnen wurde?“
„Aus demselben Stoff, dem du einst entsprungen bist“, entgegnete die Herrscherin des Holunderwalds. „Deinem Ton entnehme ich, dass dir diese Aufgabe unmöglich erscheint, und ich frage mich, woher du diese Arroganz nimmst. Du glaubst nicht an die Prophezeiung, aber wohl an dich selbst und spinnst mit deiner Abscheu Barrieren, die alles nur komplizierter machen.“
„Ich bin nicht arrogant!“, erwiderte Arrow betroffen und das Gefolge der Herrscherin begann zu lachen.
„Siehst du?“, fragte Frau Perchta triumphierend. „Das Tückische an der Arroganz ist, dass man selbst sie nicht als solche erkennt. Doch für alle anderen ist diese Eigenschaft so offensichtlich wie die Hörner auf dem Kopfe meines Generals.“
Arrow war sprachlos. Hatte diese Person sie tatsächlich gerade schon wieder als arrogant bezeichnet? „Was wisst ihr denn schon?“, erwiderte sie empört.
„Weit mehr, als es deine Vorstellungskraft auch nur zu erahnen vermag“, erwiderte Perchta und verzog noch immer keine einzige Miene. „Dieser Charakterzug ist nichts, was dich in deinem Leben nach vorn bringen wird. Er lässt dich Dinge übersehen – wichtige Dinge! Und am Ende wirst du versagen. Hüte dich lieber und überdenke deine Absichten.“
Arrow war fassungslos. Innerlich kochte sie vor Wut und am meisten ärgerte es sie, kein Argument zu finden, das diese Aussage widerlegen konnte.
„Ich schlage vor“, sagte Frau Perchta, „dass wir die Nyriden auf die Probe stellen.“
Über den abrupten Themenwechsel verärgert, funkelte Arrow ihre Gegenüber zornig an, bevor sie sich abermals um Fassung bemühte und auf die Frage einging.
„Habt Ihr diesbezüglich irgendwelche Vorstellungen?“
Perchta lehnte sich zurück. „Die Ereignisse dürfen nicht den gleichen Lauf nehmen wie beim letzten Mal.“
„Wer sagt, dass es so kommen wird?“, fragte Arrow streitsüchtig.
Ohne auf ihre gereizten Worte einzugehen fuhr Perchta fort. „So oder so können wir dein Volk nicht noch einmal ohne weiteres auf diese Welt loslassen. Bevor sie ihre Seelen zurückbekommen, müssen sie die Intensität ihres Zusammenhalts unter Beweis stellen.“
Arrow runzelte die Stirn. „Seit hunderten von Jahren haben sie ihre Zeit nur miteinander verbringen können. Ich glaube kaum, dass man da ihre Loyalität zueinander infrage stellen muss.“
Herablassend musterte Frau Perchta sie. „Du hältst dich wohl für besonders klug“, zischte sie. Dies war eindeutig keine Frage, sondern eine Feststellung und noch eindeutiger sollte es kein Kompliment sein.
Arrow verlor die Beherrschung. „Ich weiß nicht, warum Ihr mich hierher bestellt habt, wo Ihr mich doch für so unfähig und aufgeblasen haltet! Wie ich Euren Worten entnehmen kann, hättet Ihr gut daran getan, jemand anderen mit dieser Aufgabe zu betrauen.“
Perchtas selbstgefälliges Lächeln erstarb. Auf eine kurze Handbewegung hin zog sich ihr Gefolge zurück. Nun waren sie allein.
Mit einem zornigen Funkeln in den Augen beugte sich die Herrscherin des Holunderwaldes vor, und obwohl sie trotz dieser geringen Bewegung noch weit voneinander getrennt waren, spürte Arrow die eisige Kälte ihres Atems auf der Haut.
„Warst du es nicht, die noch vor Kenntnis der Prophezeiung beschlossen hat, dem Ganzen ein Ende zu bereiten?“, fragte Perchta mit fester Stimme und sichtlich nicht zum Scherzen aufgelegt.
Arrow musste den Blick von ihr abwenden. Noch einen Moment zuvor hatte die Wut sie in dem Glauben gelassen, sich mit Frau Perchta messen zu können, aber schon im nächsten Augenblick hatte diese Frau es erneut geschafft, sie einzuschüchtern.
Perchta war diese Erkenntnis nicht entgangen. Trotzdem fühlte sie sich nicht wie eine Siegerin. „Du hast eine Entscheidung getroffen und ich erwarte von dir, dass du dazu stehst.“ Mit diesen Worten war die Diskussion um Arrows Zweifel für sie erledigt.
Sie schwiegen eine Weile. In ihren Gedanken gab Arrow sich der Vorstellung hin, kämpfend in einen Krieg zu ziehen und ihre Familie damit zurückzulassen. Sie dachte an Neve und Dewayne, die einander gefunden hatten und zusammen alt werden würden – ebenso wie Harold und Adam. Und sie dachte an Anne, die mit der kleinen Juna einen neuen Schützling gefunden hatte. Allein für Keylam konnte ihr Kopf kein harmonisches Bild zusammen zaubern.
„Es liegt noch immer an deinem Vater, richtig?“
Arrow zuckte zusammen. Verlegen stammelte sie: „Ich wüsste nicht, was das eine mit dem anderen zu tun haben sollte.“ In diesen Worten war eindeutig keine Kampfhaltung mehr zu erkennen, sondern lediglich das unangenehme Gefühl, ertappt worden zu sein.
„Es hat einfach alles damit zu tun“, erwiderte Perchta mit der majestätischen Haltung eines weisen Steinkauzes. „Dein Herz und deine Gedanken sollten sich gegenwärtig um das Wohlergehen deines Volkes drehen – und zwar ausschließlich. Trotz dieser Dringlichkeit gibst du noch immer einer völlig anderen Sache, die längst entschieden ist, den Vorrang.“
Arrow war es müde geworden, ständig heulen zu müssen. Und selbst wenn die tröstenden Aufmunterungen ihrer Mitmenschen der Unterstützung dienen sollten, war sie dessen ebenso längst überdrüssig geworden. Frau Perchtas Worte waren zwar in keiner Weise aufheiternd, trotzdem wollte Arrow nicht mehr zuhören, wenn jemand sich zu dem Kundtun berufen fühlte, dass ihr Leiden ohnehin nichts an der Situation habe ändern können.
„Was ist mit ihm geschehen?“, fragte sie hoffnungsvoll.
Frau Perchta schaute sie an. Eine gefühlte Ewigkeit sah es so aus, als würde sie diese Frage nicht beantworten oder in irgendeiner anderen Art und Weise auf dieses Thema eingehen wollen. Als plötzlich ein resignierender Ausdruck über ihr Gesicht huschte, erhob sie sich von ihrem Platz. „Komm“, sagte sie, „lass uns ein Stück gehen. Meine alten Knochen brauchen Bewegung.“
Arrow fühlte sich zu schwach zum Gehen. In ihrer gegenwärtigen Situation hätte sie sich nur allzu gern unter einer Decke verkrochen, um sich voll und ganz ihrer Traurigkeit hingeben zu können. Doch sie wusste genau, dass Perchta ihr das Bad im untröstlichen Selbstmitleid nicht zugestehen würde. Außerdem fühlte sie sich von dem hässlichen Reittier Frau Perchtas ununterbrochen beobachtet und der Gedanke, mit diesem Monster allein sein zu müssen, schnürte ihr die Kehle zu. Also tat sie, wonach die alte Frau verlangte.
„Du hast wohl Angst vor meiner Merga?“, fragte Perchta. Als Arrow nicht antwortete und ihren Blicken auswich, fügte Perchta hinzu: „Das solltest du auch. Sie ist ein kaltes Wesen und jeder, dessen Knochen beim Gedanken an sie nicht vor Furcht erzittern, ist ein Dummkopf.“
Ohne etwas darauf zu erwidern, leistete Arrow Frau Perchta bei ihrem Spaziergang Gesellschaft. Whisper, der sich zwischenzeitlich sichtlich entspannt hatte, folgte Arrow mit einem gewissen Abstand. Er spürte, dass es ihr schlecht ging, und wollte seinen Schützling nicht allein lassen. Dabei störte es ihn auch nicht, dass Grey auf seinem Rücken Platz genommen hatte, um ihn zu begleiten. So gingen sie zu viert an der Grenze des Waldes entlang.
„Dein Vater“, begann Frau Perchta, „hat eine außergewöhnliche Persönlichkeit besessen. Er war zielstrebig und auf seinem Weg bemerkte niemand, dass er innerlich daran zugrunde ging. Du bist genauso. Zwar gibst du dir keine Mühe, dein Leid vor Anderen zu verbergen, doch in Sachen Sturheit nehmt ihr beide euch absolut nichts.“
Ein flüchtiges Lächeln huschte über Arrows Gesicht. Diese Worte hatte sie selbst von Anne schon unzählige Male zu hören bekommen. Und obwohl es sich jedes Mal wie ein Vorwurf anhörte, verfehlte diese Bemerkung ihre Wirkung nicht. Arrow gefiel es, wenn sie mit ihrem Vater verglichen wurde. Und für sie machte es keinen Unterschied, ob es sich dabei um positive oder negative Eigenschaften handelte.
„Selbst ich habe sein Vorhaben nicht kommen sehen“, fuhr Frau Perchta fort. In diesen Worten steckte nichts Selbstgefälliges oder Abwertendes. Offenbar tat es sogar ihr leid und diese Erkenntnis war seltsam. Es ließ Arrow ihren Zorn über Frau Perchtas anfängliche Beleidigungen von einem Augenblick zum nächsten verfliegen. Und plötzlich kam sie ihr so vertraut vor. Sie konnte sich nicht erklären, ob es an dem hohen Alter der Herrscherin lag oder einfach nur an der Überraschung. Das Letzte, was sie von dieser Frau erwartet hatte, war etwas, das sie beide – wenngleich auch nur entfernt – in einer positiven Art und Weise miteinander verband.
„Könnt Ihr mir sagen, wie es ihm geht?“, fragte Arrow verunsichert.
Frau Perchta blieb stehen und schaute in die Leere. Es sah aus, als würde sie ihre Worte vom Himmel ablesen, denn immer wieder huschte ihr Blick nach oben von links nach rechts. „Ehrlich gesagt habe ich nicht die geringste Ahnung“, antwortete sie betrübt. „Als ich damals von dem Unglück erfuhr, ist mir zuerst der Gedanke gekommen, dass er mein Reich vielleicht gar nicht verlassen hat. Denn wer seinen Lebenswillen verliert und jenen entscheidenden Schritt geht, den dein Vater letzten Endes für sich gewählt hat, macht sich damit gleichzeitig zu einem Verdammten.“
Hoffnung und Verzweiflung glommen gleichzeitig in Arrows Augen auf. Vielleicht war er noch immer in diesem Wald und es gab die Chance auf ein Treffen. Auf der anderen Seite bereitete ihr der Gedanke eine Gänsehaut, dass Melchior ein Verdammter sein könnte. Trotz der gemischten Gefühle gegenüber einer möglichen Antwort fragte sie: „Dann ist er hier?“
Perchta schüttelte den Kopf. „Obwohl ich diesen Wald wie meine Westentasche kenne, habe ich ihn mehrmals durchsuchen lassen.“
„Aber das ist doch ein gutes Zeichen“, bemerkte Arrow erfreut. „Dann ist er gar nicht verdammt und residiert vermutlich schon lange in Walhall.“
Ohne sie anzusehen, erwiderte Frau Perchta: „Auf der anderen Seite gibt es noch eine weitaus schlimmere Hölle als die meine. Die Reise einer Seele endet nicht zwingend in Walhall oder in meinem Reich. Hier herrscht einzig die Verdammung auf eine gewisse Zeit. Wer aber in die richtige Hölle geschickt wird, der büßt auf ewig.“
Arrow erstarrte. „Was wollt Ihr damit sagen?“
So viel Überwindung es die Herrscherin des Holunderwaldes auch kostete, schaffte sie es endlich doch, ihrer Gegenüber in die Augen zu sehen. „Dass er überall sein könnte. Im günstigsten Fall ist er in das Himmelsreich Walhall eingetreten, doch im schlimmsten Fall erwartet ihn ein anderer Lohn.“
„Aber das kann nicht sein“, antwortete Arrow betroffen. „Mein Vater hatte eine gute Persönlichkeit. Er hat nie jemandem ein Haar gekrümmt, sondern dieser Welt und ihren Bewohnern stets zu einer besseren Zukunft verholfen.“
Müde lächelte Frau Perchta sie an, doch war es eher eine bemitleidenswerte, denn eine herablassende oder freundliche Geste. „Du hast ihn so gesehen und kennst ihn nicht anders. Doch jeder von uns besitzt auch eine dunkle Seite. Und schließlich hat er sich selbst aufgegeben. Wer nicht einmal Vertrauen zu sich selbst fassen kann, der hat auch das Vertrauen in den Rest der Welt verloren.“
Das waren harte Worte. Heftig musste Arrow ein- und ausatmen, um die Fassung zu bewahren. Vor diesem Gespräch hatte die ganze Situation schon sehr trostlos ausgesehen, doch nun hatte Frau Perchta es geschafft, die Sache noch dunkler werden zu lassen.
„Gibt es irgendetwas, das ich tun kann?“, flüsterte Arrow unter stechenden Schmerzen in ihrer Brust.
„Gib ihn nicht auf“, antwortete Frau Perchta zuversichtlich. „Die Gesetze von Himmel und Hölle reichen über die Grenzen ihrer Welt hinaus. Eine Seele wird nach vollem Umfang ihres Vermächtnisses beurteilt. Wenn du ihn aufrichtig liebst und für diese Liebe kämpfst, wird dies eines Tages bis in die Hallen der Unterwelt vordringen und sein Schicksal mitbestimmen.“
Wieder so eine Floskel, dachte Arrow. Was brachte es einem Toten, wenn man über sein Ableben hinaus noch um seine Liebe kämpfte? Dort, wo Melchior jetzt war, bekam er ja schließlich nichts mehr von dieser großartigen, alles überwiegenden Liebe mit. Das waren doch nur Fantasien, deren einziges Ziel es war, der eigenen Trauer etwas vorzumachen.
„Du irrst dich!“, entgegnete Frau Perchta schroff. „Ich selbst herrsche in einer Welt, deren oberstes Gesetz es ist, ausschließlich mit der Härte ungeschminkter Tatsachen konfrontiert zu werden. Wir beschönigen hier nichts! Jeder im Holunderwald bekommt seine gerechte Strafe – nicht mehr, aber auch nicht weniger.“
Erschrocken runzelte Arrow die Stirn. „Könnt Ihr Gedanken lesen?“, fragte sie eingeschüchtert.
„Ja und nein. Ich mache meine Arbeit nicht erst seit gestern und weiß deinen Blick daher sehr wohl zu deuten. Wenn du den Wahrheitsgehalt meiner Worte anzweifelst, bist du die Einzige, die sich hier etwas vormacht.“ Standhaft schaute Frau Perchta ihr in die Augen. Auf den ersten Blick mochte sie die Gebrechlichkeit einer alten Frau wiedergegeben haben, doch ihre Augen sprühten nur so vor Entschlossenheit. Sie erweckte nicht den Anschein, sich für zu weise zu halten, um einen Kampf zu umgehen. Vielmehr schien sie stark und zu allem bereit zu sein. Zu oft schon hatte Arrow miterlebt, dass ein alter Mensch genau wusste, wovon er sprach, jedoch keine großartigen Anstrengungen unternommen hatte, die nächste Generation nicht die gleichen Fehler begehen zu lassen. Alte Menschen ließen den Dingen gern ihren Lauf, was nicht bedeutete, dass daran etwas Schlechtes oder gar Falsches war. Auffällig war nur, dass Perchta sich eindeutig nicht so verhielt.
„Bewahre dir deine Liebe zu ihm“, redete Frau Perchta auf sie ein. „Eines Tages wird sie euch beiden Flügel verleihen.“
Ein dankbares Lächeln huschte über Arrows Lippen. Doch als die Erinnerungen an jene unheilvolle Nacht zu ihr zurückkehrten, erstarb es sogleich wieder. „Was ist mit den anderen?“, fragte sie ängstlich. „Damals, als die Wilde Jagd in Nebulae Hall eingefallen ist, habe ich so viele Schreie gehört. Was ist mit all den Leuten geschehen?“
„Denkst du etwa, dass du ihr Schicksal besiegelt hast?“, fragte Frau Perchta mit hochgezogenen Augenbrauen.
Arrow schwieg und schlug die Augen nieder.
„Die Leute reden viel über den Holunderwald“, sagte Frau Perchta nachdenklich. „Trotzdem ist nicht alles, was man sich erzählt, auch wahr. Nicht jeder, der unseren Weg kreuzt, wird von uns mitgeschleift, hierher verschleppt und bis zur Erschöpfung gequält. Nur diejenigen, die es nicht anders verdient haben, werden von diesem Schicksal ereilt – so wir sie denn zu fassen kriegen. Alle, die reinen Herzens sind, werden von meinem Gefolge ausnahmslos verschont.“
„Das hat mir vorher noch nie jemand gesagt“, bemerkte Arrow erstaunt.
„Das überrascht mich nicht im Geringsten. Geschichten, die dazu dienen, Angst zu verbreiten, halten sich immer hartnäckiger als positive Erzählungen. Gelegentlich hört man sie auch, doch sie verschwinden überraschend schnell wieder aus den Köpfen der Leute. Außerdem sind Begegnungen dieser Art äußerst selten. Denn vor allem solche, die nichts zu verbergen haben, pflegen die Vorschriften zum Schutz vor der Wilden Jagd nach allen Regeln der Kunst. Viele unter ihnen fürchten sich vor dem Leben und davor, ein Risiko einzugehen. Statt eigene Erfahrungen zu machen, wollen sie keine Fehler begehen, die vor ihnen schon andere begangen haben. Lieber verkriechen sie sich in ihren Häusern und warten darauf, dass irgendwann alles vorbei ist – und damit meine ich nicht unbedingt die Wilde Jagd, sondern das Leben selbst. Während der Rauhnächte treffen wir deshalb überwiegend auf die, die dem Glauben verfallen sind, unantastbar zu sein. Denn mit der Ausführung ihrer Gräueltaten verlieren viele Verbrecher den Respekt vor der Gerechtigkeit. Diesem Leichtsinn haben wir es zu verdanken, dass wir sie letzten Endes doch noch schnappen.“
„Wollt Ihr damit etwa sagen, dass jedes Wesen in seinem Leben einmal etwas Dummes anstellen sollte?“, fragte Arrow skeptisch.
„Nein“, lachte Frau Perchta auf. „Damit will ich nur sagen, dass vor allem die Guten mehr Vertrauen in sich selbst haben und ein Risiko eingehen sollten. Dabei erscheint es mir völlig gleichgültig, ob sie es ausdrücken, indem sie in einen tobenden Ozean springen oder einfach mal während der Wilden Jagd vor die Tür treten. Aber das wird ohnehin nie passieren, weil die meisten unter ihnen dafür viel zu bescheiden sind. Dabei würden sie mir mit einer solchen Handlung einen furchtbar großen Gefallen tun, denn dann hätte das dumme Gerede über mich und meine Gefolgschaft endlich ein Ende.
Es geht nicht darum, dass die Anständigen unanständig werden sollen, sondern einfach nur darum, dass sie mutiger handeln sollten, als es die Barbaren unter ihnen tun, und dabei trotzdem rechtschaffen bleiben. Das wäre nicht nur einfacher für sie, sondern einfacher für uns alle.“
„Dann sind nicht alle in jener Nacht Opfer der Wilden Jagd geworden?“
Frau Perchta schüttelte den Kopf. „Nur diejenigen, die es verdient haben. Alle anderen sind verschont geblieben und haben sich nach der Öffnung von Nebulae Hall ein neues Versteck gesucht, in dem sie weiterhin rechtschaffen sein können. Somit trifft man sie leider nur selten.
Um also auf deine Frage zurück zu kommen – du hast das Schicksal von niemandem besiegelt. Das hat lange vorher schon jeder für sich selbst getan.
Aber geschrieen haben sie natürlich alle. Das habe ich auch, als ich meinen General und die anderen Perchten zum ersten Mal gesehen habe.“
Frau Perchta lachte, und Arrow konnte gar nicht anders, als in dieses Lachen mit einzustimmen.
„So Kind, wir sollten uns jetzt wieder dem eigentlichen Thema zuwenden und nicht noch mehr Zeit vertrödeln“, sagte Frau Perchta noch immer lächelnd und ließ Arrow mit ihren entgleisten Gesichtszügen einfach links liegen.
Kind ... So wurde sie eigentlich nur von ihrer Großmutter genannt. Trotzdem störte es sie nicht, dass Frau Perchta diese Anrede benutzte, denn in ihrem Wesen erinnerte sie Arrow mehr und mehr an Anne. Und mit dieser überraschenden Erkenntnis waren plötzlich auch die letzten Spuren von Abneigung gegen sie verschwunden, denn Arrow konnte einfach niemanden verabscheuen, der ihrer geliebten Großmutter – wenngleich die Verwandtschaft mit Anne auch nur geliehen war – nur im Entferntesten ähnelte.
Nachdem die beiden Frauen zur Weiterführung der Verhandlungen wieder Platz genommen hatten, war auch Frau Perchtas Stab wieder hinzugekommen. Alle Anwesenden verfolgten die Gespräche ganz genau, denn jedem Einzelnen war bewusst, dass Arrow dieses Vorhaben nicht würde allein bewältigen können.
Es wurden Vorschläge über die Art der Probe und wo sie stattfinden sollte, gemacht. Eine Aufgabe, die sich in der Theorie wesentlich einfacher anhörte, als dass sie umzusetzen war. Denn die Nyriden durften unter keinen Umständen sofort wieder auf ihre natürliche Welt losgelassen werden. Und jede Chance, zu entkommen, musste ebenfalls vernichtet werden. Doch wo lässt man Wettergeister ihren Dienst verrichten, ohne dass sie anderen Wesen gefährlich werden können? Natürlich bedurfte auch dies strenger Beobachtungen. Es musste genauestens überprüft werden, ob sie ihre Lektion gelernt hatten und für die neue Chance bereit waren.
Über all den Verhandlungen thronte die Merga Furcht einflößend hinter Frau Perchta. Während sieben ihrer Augen in alle Richtungen schielten, behielt sie mit dem achten stets die Gesprächspartnerin ihrer Herrin im Blick. Und obgleich Arrow sich mittlerweile an den Anblick der Habergeiße – die sich äußerlich in keiner Weise vom General unterschieden – gewöhnt hatte, jagte ihr dieses monströse Wesen mit den gewaltigen Hörnern und dem umher zuckenden Skorpionschwanz noch immer eine Heidenangst ein.
Inzwischen verliefen die Gespräche so angenehm, dass Arrow ihr anfängliches Unbehagen vollkommen abgeschüttelt hatte. Gegenseitiger Respekt hieß der unsichtbare Verhandlungspartner, nicht Angst oder Hass.
Während sie mit Frau Perchta einen Plan für die erneute Integration der Nyriden ausarbeitete, bemerkte Arrow die zarten Flügelschläge an ihrer Wange zunächst nicht. Ganz sanft setzte sich ein majestätisch schöner Schmetterling mit grün schimmernden Flügeln auf ihren Hals und krabbelte zu ihrem Ohr, wo er einen Augenblick lang verharrte.
Von einem Moment auf den anderen entglitten Arrows Gesichtszüge. Der Schmetterling schreckte auf und flatterte panisch umher.
Ohne ein Wort der Erklärung oder Verabschiedung sprang Arrow auf, lief zu Whisper und ritt auf ihm in Windeseile davon. Grey versuchte mit allen Kräften, ihnen so schnell wie möglich zu folgen, doch sie hatten die Schleiereule schnell hinter sich gelassen.
Stirnrunzelnd schnappte Frau Perchta nach dem Schmetterling und hielt ihre ihn sanft umschließenden Hände an ihr Ohr. Nach einem Moment des Lauschens öffnete sie den winzigen Käfig und gab das angsterfüllte Tier frei. Das bleiche Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben.
„Majestät?“, fragte Frau Gaude verunsichert.
Doch während Frau Perchta einem großen Wirbelsturm hinterher schaute, der gerade hinter dem Horizont verschwand, stammelte sie nur: „Der Himmel stehe uns bei.“