Blitze in der Nacht
Der Tag verging für Arrows Empfinden viel zu schnell. Kurz nachdem sie den kleinen Waldsee erreicht hatten, war auch Keylam zu ihnen gestoßen. Er half bei dem Vorhaben, Arrow in die hohe Kunst des Schlittschuhlaufens einzuweisen. Obwohl sie eigentlich schon lange fahren konnte, bereitete ihr nach wie vor das Anhalten die größten Probleme.
Es war ein schöner Nachmittag. Alle Sorgen und Ängste waren für den Moment wie weggeblasen. Sie alberten die ganze Zeit herum, und als eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit auch noch Sally, Harold und Adam dazu kamen, wurde das Vergnügen perfekt.
Selbst Harold lachte so ausgelassen wie lange nicht mehr. Zu Arrows Überraschung beherrschte er das Schlittschuhfahren sogar dermaßen gut, als hätte er nie etwas Anderes getan. Es war erstaunlich, wie viel Kraft in seinem doch recht mageren Körper steckte.
Arrow hatte ihn nur selten etwas essen sehen. Manchmal ließ er einen ganzen Teller von Sallys Köstlichkeiten unberührt, und an anderen Tagen wiederum verspeiste er Mengen, die eine fünfköpfige Familie hätten satt machen können. Doch immer wenn das geschah, wirkte er noch weit unglücklicher als in den Momenten, in denen er gar nichts aß.
Am Abend machten sie es sich alle vor dem großen Kamin in der Bibliothek gemütlich. Seitdem er aufwendig restauriert und entstaubt worden war, zählte dieser Raum eindeutig zu den Lieblingszimmern der Schlossbewohner. Der Kamin darin war ganz neu und dem des vormals so sehr geschätzten Kaminzimmers nachempfunden.
Eine Feiereinladung der Zwerge hatten sie dankend abgelehnt. Glücklicherweise drangen die Klänge des Festes nicht zu ihnen vor und so genossen sie den verzauberten Winterabend in vollen Zügen.
Sally hatte Zimtplätzchen gebacken, Anne hatte Apfeltee gekocht, und wenn gerade niemand Weihnachtslieder auf dem Piano spielte, lauschten sie dem Knacken der Holzscheite.
Keylam warf regelmäßig neues Feuerholz in die Glut, und immer wenn sie kurz vor dem Erlöschen war, blies Ardor, der es sich ebenfalls mit den anderen Perseiden in der Bibliothek gemütlich gemacht hatte, einen Feuerstrahl hinein. Gerne holte sich der Drache anschließend Streicheleinheiten bei Neve ab, die es wiederum genoss, ihren Babybauch von Dewayne getätschelt zu bekommen.
Nachts konnte Arrow wieder nicht einschlafen. Obwohl der Tag wunderschön gewesen war und sie kurz zuvor einige liebevolle Stunden mit Keylam verbracht hatte, waren die düsteren Gedanken zurückgekehrt und wollten ihr einmal mehr keine Ruhe lassen. Während der schöne Keylam friedlich durchs Land der Träume streifte, hatte Arrow es sich im gemeinsamen Turmzimmer in einem Sessel vor dem Kamin bequem gemacht. Das Buch auf dem Tisch hatte sie eigentlich lesen wollen, doch stattdessen starrte sie unentwegt ins Feuer zu Marb. Das Moosweiblein war mehrere Wochen lang nicht mehr erschienen, was Arrow traurig gemacht hatte. Zu sehr hatte sie sich inzwischen an die beruhigenden Knopfaugen der zotteligen Dame gewöhnt, als dass sie diese je hatte missen wollen. Marbs Anwesenheit war einfach zur alltäglichen Gewohnheit geworden. Jedoch war es eine Alltäglichkeit, die man zu schätzen wusste und keine, die einem irgendwann auf die Nerven ging. Um so größer war dann die Freude, als Marb plötzlich wieder aufgetaucht war. Und zusammen mit ihrer Rückkehr hatte sich auch der Grund für ihre lange Abwesenheit offenbart – oder vielmehr die beiden Gründe. Sobald das Moosweiblein auf dem Feuer erschienen war, waren auch zwei kleine Mooskinder aufgetaucht – ein Junge und ein Mädchen. Da Arrow bisher nur das Vergnügen gehabt hatte, Marb kennen lernen zu dürfen, hatte sie nicht viel Ahnung vom Moosvölkchen. Die beiden Kinder glichen der kleinen Dame allerdings sehr. Ihr Blick war ebenso beruhigend und ihr zartes Lächeln gleichfalls zuversichtlich. Vielleicht waren ja alle aus dem Moosvolk so, aber Arrow wollte sich beim besten Willen nicht der Vorstellung hingeben, dass ihre drei Freunde nicht einzigartig waren.
Als ein heller Schein durch die Fenster fiel, beachtete Arrow ihn zuerst gar nicht. Sie nahm an, dass die dicken Winterwolken lediglich den Vollmond durchgelassen hatten. Ein heftiges Aufblitzen ließ ihr dann das Blut in den Adern gefrieren, da ein solches Lichtspiel zu dieser Jahreszeit eigentlich nur eines bedeuten konnte.
Erschrocken sprang sie aus dem Sessel und lief zum Fenster. Am Himmel konnte sie lediglich die schwache Sichel des Neumondes erkennen. Außerdem stellte sie zu ihrer Erleichterung fest, dass es eine wolkenlose Nacht war, in der die Sterne mit aller Kraft leuchteten. Das war auf jeden Fall ein sicheres Anzeichen dafür, dass es nicht Frau Perchtas Dämonen waren, die über das Land zogen, denn in jenen Nächten verkrochen sich selbst die Sterne. Das Blitzen musste also von etwas Anderem herrühren.
Eilig lief Arrow aus der Dachkammer und schaute auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges zum Fenster hinaus. Ein gleißender Schweif zog über den Himmel, dessen Leuchten so heftig pulsierte, dass es zeitweise in den Augen brannte.
Plötzlich trennte sich ein Lichtball von dem Schwarm ab und steuerte geradewegs auf das Schloss zu.
Sobald Arrow das heftige Krachen vernommen hatte, lief sie in die Richtung, aus der es gekommen war. Schnell ärgerte sie sich darüber, dass sie weder eine Fackel, noch einen Kerzenleuchter mitgenommen hatte. Denn im Schloss war es duster und die vielen Pflanzen in den Räumen warfen nur allzu gruselige Schatten im schwachen Licht der Sterne.
Als sie ein dumpfes Geräusch vernahm, begann ihr Herz zu rasen. Was da durch das Dach ins Schloss gekommen war, hätte alles Mögliche sein können. Vielleicht war es bösartig und würde ihre Familie in Gefahr bringen.
Dann erblickte sie einen schwachen Schein und folgte ihm mit höchster Vorsicht. Weiter, weiter und immer weiter ging sie darauf zu. Hinter einer Tür versteckt, hielt sie inne. Dabei atmete Arrow so laut, dass sie verwundert war, noch niemanden damit geweckt zu haben.
Als das Licht plötzlich um die Ecke bog, ging sie aus Angst, es aus den Augen zu verlieren, schnell darauf zu. Von einem Moment auf dem anderen stieß sie mit etwas Knochigem zusammen und noch im Fall erkannte sie, welch schrecklicher Anblick sich ihr bot …
„Meine Güte“, schalt Sally Arrow verständnislos, „wie kann man nur wegen solch einer Lappalie das ganze Schloss zusammen schreien?“
„Du hast gut reden“, entgegnete Arrow aufgebracht. „Als du dazu gekommen bist, hatte er sich immerhin schon etwas übergezogen!“
Auf einem Stuhl sitzend hatte sie die Beine an ihren Körper gezogen und mit den Armen fest umschlungen. Immer wieder wippte sie vor und zurück, während Keylam ihr beruhigend über den Kopf strich. Zwar empfand auch er Arrows Begegnung mit der dritten Art nicht als sonderlich erschreckend, trotzdem hatte er Verständnis für ihre Reaktion.
„Nun mach mal halblang!“, fuhr Harold sie an, während er beide Seiten seines Mantels fest zusammenzog, damit das Kleidungsstück nichts von dem preisgeben konnte, was sie ohnehin schon gesehen hatte. „Gerade DU müsstest es jawohl gewöhnt sein, einen hässlichen Körper nackt zu betrachten – immerhin schaust du an einem herab seit … Wie alt bist du doch gleich vor zwei Tagen geworden?“
Brodelnd vor Wut sprang Arrow auf und warf den Wasserbecher, welchen Keylam ihr einen Moment zuvor gereicht hatte, nach Harold. Ihr war schon klar, dass sie als Frau nicht unbedingt romantische Gefühle in ihm auslösen konnte, trotzdem musste er nicht gleich ausfallend werden und sie ihres Geschlechtes wegen diskriminieren.
Harold, der es verstand, dem Wurfgeschoss gekonnt auszuweichen, begab sich sogleich auf den Weg in sein Schlafgemach.
„Wenigstens kann man an meinem Körper nicht die Knochen zählen!“, brüllte sie ihm wütend hinterher.
Adam, der gar nicht begriff, was da vor sich ging, versuchte Arrow zu beschwichtigen. „Ich werde ihm sagen, dass er nicht mehr nackt schlafen soll.“
Bei diesen Worten verzog Arrow angewidert das Gesicht. Daraufhin ergriff auch Adam schlagartig die Flucht.
Sie schüttelte sich von Kopf bis Fuß. Keylam stand auf und nahm sie in den Arm. Froh darüber, dass Arrow sein Grinsen nicht sehen konnte, drückte er sie sanft an sich und strich ihr über den Rücken.
„Alles ist gut“, hauchte Keylam ihr zu und hatte dabei große Mühe, ein Lachen zu unterdrücken.
„Ausgerechnet er muss sich über meinen Körper lustig machen“, nörgelte Arrow vor sich hin. „Immerhin hat bei mir noch nicht die Schwerkraft zugeschlagen! Und dann hatte er da diese Tätowierung … über seinen ...“ Arrow schluchzte. „Er hatte so was, wie eine Efeuranke über seinem Oberschenkel bis hin zu seinem … schlaffen Gesäß ...“
In der Befürchtung, in schallendes Gelächter auszubrechen, wenn Arrow auch nur noch ein einziges Wort darüber verlieren würde, wollte Keylam sie beruhigen. Als er sich aus der Umarmung löste und mit einem festen Blick in ihre Augen schaute, begann er dann aber doch zu grinsen.
Fassungslos musterte Arrow ihn. „Du findest das komisch?“, fragte sie wütend. Und im nächsten Moment konnte er sich vor Lachen nicht mehr halten.
Beleidigt wandte sich Arrow von Keylam ab. Schnell nahm er ihre Hand und zog sie wieder zu sich heran.
„Ich weiß gar nicht, was daran so lustig sein soll!“, fuhr sie ihn an und versuchte, sich aus seiner Umarmung zu befreien.
„Arrow“, sprach er sie mit zartem Ton an, „du hast einen alten Mann für den Bruchteil einer Sekunde nackt gesehen. Was ist daran so schlimm? Das kann doch unmöglich ein Weltuntergang sein.“
Etwas gesetzter, doch noch immer gekränkt, antwortete sie: „Du hast gut reden. Hast du ihn denn schon mal nackt gesehen? Ich meine … jeden anderen, aber das war … Harold … Er ist so furchtbar dürr, dass man gar nicht weiß, wo die Muskeln sein sollen, die ihn auf den Beinen halten. Und seine Haut ist so schlaff, als würde frischer Kuchenteig über den Rand eines Topfes hängen. Zudem hat er einen seltsamen Geruch an sich. Mir wird noch immer ganz übel, wenn ich daran denke. Und dann noch diese Tätowierung. Hat ihm denn niemand gesagt, dass sich so etwas in seinem Alter nicht mehr gehört?“
„Naja“, entgegnete Keylam, „für gewöhnlich lässt man sich aber auch in jüngeren Jahren tätowieren, und dann ist da noch das Problem, dass man solche Bildchen nicht so einfach wieder los wird. Ich bin schon ziemlich sicher, dass es nicht neu ist ...“ Wieder musste er lachen. Doch als Arrow vor lauter Sprachlosigkeit einen erneuten Fluchtversuch starten wollte, fing er sich wieder.
„Sag mir lieber, was wir mit dem kleinen Kerl da machen sollen“, bat Keylam sie sanft und deutete dabei auf einen kleinen Polarfuchs, der ängstlich in der Ecke kauerte und seine Zähne fletschte. Allerdings verfehlte er damit seine Absicht, gefährlich aussehen zu wollen, und erreichte stattdessen, dass Arrow sich von einem Moment auf den nächsten in ihn verliebte.
„Armes kleines Ding“, hauchte sie ihm mit leuchtenden Augen zu.
„Ich frage mich, was wir mit einem weiteren Perseiden anfangen sollen?“, bemerkte Keylam skeptisch.
„Es lag sicher nicht in seiner Absicht, hier bei uns zu landen. So wie es aussah, hat er einfach den Anschluss verpasst.“
„Und warum haben ihn die anderen dann nicht einfach wieder abgeholt?“
„Hm … Vielleicht haben sie es noch gar nicht bemerkt. Sicher wird sich die ganze Sache morgen aufklären. Für diese Nacht sollten wir ihm jedenfalls einen Schlafplatz am Kamin geben.“
Gerade als Arrow sich aufmachen wollte, um dem kleinen Fuchs ein Schlafquartier zusammen zu tragen, wurde den Bewohnern des Schlosses bewusst, was den Perseiden zu ihnen geführt hatte und ebenso, dass er sie so schnell nicht wieder verlassen würde. Denn ganz außer Atem und mit leuchtenden Augen kam Dewayne herbeigelaufen und rief voller Stolz: „Es ist ein Mädchen!“