Die alten Könige
Als Arrow endlich ein passendes Nachtlager gefunden hatte, leuchteten die Sterne schon lange über dem Wald. Eine kleine Höhle, deren Eingang von jeder Menge Gebüsch beinahe zugewachsen war, bot ausreichend Schutz. Nachdem es eine ganze Weile gedauert hatte, bis Arrow ein kleines Feuerchen hatte entfachen können, ruhte sie nun auf dem harten Boden und sehnte sich nach dem gemütlichen Bett der Weltenbibliothek zurück. Je weiter sie sich vom Morgenroten Meer entfernt hatte, desto schneller war auch wieder der Winter zurückgekehrt. Durchgefroren rückte sie dichter zum Feuer, und als Whisper sich neben Arrow legte und sie dadurch zusätzlich wärmte, wurde es endlich angenehmer. Hätte sie es drauf angelegt, so wäre sie vermutlich auch schon wieder zurück im Schloss gewesen, doch auf eine seltsame Art und Weise fürchtete sie sich vor der Heimkehr. Solange sie nur auf der Suche nach einem Eingang zur Unterwelt gewesen war, war der Gedanke, sie zu betreten, noch recht erträglich gewesen. Doch mittlerweile machte es ihr Angst. Was würde sie dort erwarten? War Keylam noch immer am Leben? Und wie würde es sich anderenfalls anfühlen, seinen leblosen Körper mit eigenen Augen zu sehen?
All diese Bedenken machten die Sache so aussichtslos, dass sie sich mehr und mehr die Frage stellte, was das alles überhaupt noch für einen Sinn ergab, und damit meinte sie nicht nur die Suche nach Keylam, sondern das Leben selbst.
Sie erschrak. Das durfte sie unter keinen Umständen denken! Es war der Beginn lebensmüder Gedanken, und sie durfte sich nicht selbst aufgeben. Vor allem durfte sie Keylam nicht aufgeben. Innerlich fand sie sich gerade mit seinem Tod ab – schon wieder. Dieses Mal gab es jedoch Hoffnung, und sie durfte nicht resignieren, nur weil sie sich dumme Eventualitäten einredete.
Keylam lebte noch und dieser Tatsache allein war es geschuldet, dass sie diese Reise überhaupt unternommen hatte!
Oder war dies vielleicht das Ziel ihrer Feinde? Schließlich wurde sie oft mit ihrem Vater verglichen. War es tatsächlich möglich, dass jemand darauf spekulierte, dass sie sich selbst aufgab? Zumindest könnte sich die Prophezeiung dann nicht mehr bewahrheiten.
Aber über all diese Grübeleien gab es auch noch etwas Anderes, das es Arrow schwer machte, nach Hause zurück zu kehren. Sie hatte das Gefühl, verfolgt zu werden, und sie konnte sich nicht einmal erklären, woher es kam. Weder hatte sie etwas Seltsames gesehen noch gehört. Trotzdem konnte sie sich nicht von dieser Vorstellung losreißen. Andererseits bestünde auch die Möglichkeit, dass es sich um einen besonders geschickten Verfolger handeln könnte. Und solange Arrow nicht wusste, was sie da mit nach Hause brachte, wollte sie sich lieber etwas Zeit nehmen, um der Sache auf den Grund zu gehen.
Nachdem sie ihre Gedanken zur Ruhe gezwungen und dem Pfeifen des Windes gelauscht hatte, schlief sie endlich ein.
Als Arrow erwachte, war der Tag noch nicht angebrochen. Trotzdem fühlte sie sich recht ausgeruht. Hellhörig, als hätte sie eine Vorahnung, schlich sie sich leise aus der Höhle und spähte zum Weg hinunter. Obwohl es keinerlei Temperaturschwankungen gab, zogen dicke Nebelschwaden durch das Gehölz. Ein Wiehern erklang und Arrow erkannte sofort, dass es nicht von gewöhnlichen Pferden ausging.
Eine lange Reiterkavalkade mit prächtigen Elfenrössern zog durch den Wald. Die Anmut der Reiter war nicht minder beeindruckend. Es schien sich um besonders hohe Adelsleute zu handeln, denn alles an ihnen wirkte einfach nur kostbar. Egal ob Schmuck, Gewänder oder Reitgeschirr – es war das Beste vom Besten. Gleichfalls wirkte die Haltung dieser Leute so edel, wie Arrow es noch nie zuvor bei anderen Wesen gesehen hatte.
Obgleich der Zug sehr friedlich wirkte, gab es etwas in Arrows Innern, das sie davon abhielt, sich der Kavalkade zu zeigen. Und dann kehrte urplötzlich das unbehagliche Gefühl zurück, dass jemand hier war und sie beobachtete.
Mit größter Vorsicht schlich Arrow wieder zu ihrem Nachtlager. Ein erster flüchtiger Blick verriet ihr, dass Whisper nicht mehr an der Stelle ruhte, an der sie ihn zurückgelassen hatte. Das allein mochte nicht unbedingt ungewöhnlich sein, doch irgendwie riet ihr Instinkt zu allerhöchster Vorsicht. Doch bevor sie auch nur die Chance bekam, sich verteidigen zu können, presste sich auch schon eine große, kräftige Hand auf ihren Mund, weitere Hände griffen nach ihren Armen und Beinen, und ehe sie sich versah, fand Arrow sich innerhalb der Höhle plötzlich von guten drei Dutzend Zwergen umzingelt, die ihr allesamt bedeuteten, ruhig zu sein.
„Ist gut“, sagte Smitt zu den anderen. „Sie sind weg.“
Langsam lockerten die Zwerge ihren Griff und gaben Arrow wieder frei. Smitt war der Erste, nach dem sie schlug. Arrow wusste genau, welche Stellung er in der Gruppe hatte, und dass die anderen nur nach seinem Befehl gehandelt hatten.
„Bist du bescheuert?“, rief Smitt aufgebracht, nachdem Arrow mit aller Kraft gegen seinen Oberarm geboxt hatte. „Das hat wehgetan!“
Mit schmerzverzehrtem Gesicht schüttelte Arrow ihre Hand und dabei fiel ihr auch gleich wieder ein, dass ein Schlag nicht unbedingt nur dem Opfer wehtun musste – vor allem nicht, wenn man sich mit einem Zwerg anlegte. Denn die kleinen Kerle verfügten tatsächlich über stahlharte Muskeln.
„Mir hat es auch wehgetan!“, fauchte Arrow zurück. „Und warum erschreckt ihr mich überhaupt so? Da bekomme ich eher den Eindruck, dass ihr bescheuert seid!“
„Stell nicht so blöde Fragen, wenn du die Antworten schon kennst!“, entgegnete Smitt grimmig. „Immerhin hast du auch gerade die Túatha Dé Danann gesehen!“
Arrow stockte der Atem. „Die Túatha Dé Danann? Der Hofstab der alten Könige?“, fragte sie ehrfürchtig.
Smitt strich sich über seinen Bart. „Sieht ganz so aus, als hättest du doch nicht gewusst, wer sie sind. Aber die Gefahr, die von ihnen ausgeht, hast du gespürt, oder?“
Arrow schluckte und nickte zögerlich. „Was wollen sie hier?“
„Heimkehren“, sagte Nerrjitt eingeschüchtert. Er war der kleinste und wohl auch ängstliche Zwerg von allen. Arrow fand ihn ganz putzig, hatte ihm aber trotzdem nie besondere Beachtung geschenkt. Jetzt allerdings stand er im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit, denn es war das erste Mal, dass sie ihn sprechen hörte, und allein das konnte nur ein schlechtes Omen bedeuten.
„Und was genau bedeutet das?“, fragte Arrow mit zitternder Stimme.
„Ärger“, entgegnete Smitt knapp.
Es hatte nicht lange gedauert, bis Arrow ihr Lager aufgelöst und sich zum Aufbruch bereit gemacht hatte. Smitt hatte ihr erklärt, dass sie noch immer keine unterirdischen Gänge bereisen konnten. Die Zwerge hatten Tunnel durch den Schnee gegraben, durch die sie Arrow und Whisper nach Hause bringen wollten.
Noch immer konnte Arrow das ungute Gefühl, verfolgt zu werden, nicht abschütteln. Die Túatha Dé Danann waren ihr nicht auf den Fersen – das spürte sie. Es musste jemand anderes sein. Immer wieder schaute sie sich unruhig nach allen Seiten um und inzwischen war das so auffällig, dass selbst Smitt misstrauisch wurde.
„Ist etwas nicht in Ordnung?“, fragte er, als Arrow die Schneedecke kritisch beäugte.
„Alles bestens“, antwortete sie abwesend und setzte ihren Weg fort.
Nachdem Smitt eine ganze Weile mit Argusaugen hinter Arrow her marschiert war, schloss er endlich zu ihr auf und brach das Schweigen. „Was ist los mit dir?“
„Nichts“, entgegnete Arrow. „Das habe ich dir ja mittlerweile schon oft genug gesagt, oder?“
„Du kannst mir nichts vormachen“, grummelte Smitt. „Ich sehe genau, dass etwas nicht stimmt.“
Arrow lachte. „Na dann zähle mir doch lieber die Dinge auf, die in Ordnung sind. Ich wette, das würde weniger Zeit in Anspruch nehmen.“
Der Zwerg wusste nichts darauf zu erwidern. Auch seine Anspannung war mittlerweile so groß geworden, dass sie nicht minder zu übersehen war.
„Woher wusstet ihr, dass die Túatha Dé Danann wieder hier sind?“
„Das spürt man“, antwortete Smitt knapp. „Es ist etwas an ihnen, das sogar einem Zwerg eine Gänsehaut bereitet. Und dass nicht jede Begegnung mit ihnen so ganz ungefährlich verläuft, weiß hier auch jedes Kind.“
Skeptisch musterte Arrow ihren Freund. „Und was genau macht sie so gefährlich?“
„Ihre Macht. Und die Tatsache, dass sie noch immer so denken und handeln, wie sie es schon vor vielen tausend Jahren getan haben.“
„Wäre es dann nicht angebracht, sie unschädlich zu machen?“, fragte Arrow ganz selbstverständlich.
Smitt runzelte die Stirn. „Du scheinst dir diese Sache ja ziemlich einfach vorzustellen“, sagte er verächtlich. „Die Túatha Dé Danann kann man nicht einfach beseitigen. Das würde den gesamten Kosmos aus dem Gleichgewicht bringen. Außerdem haben sie nur veraltete Ansichten, was mitunter daran liegt, dass sie eben auch alt sind. Das wäre wohl kaum ein Grund, sie unschädlich zu machen! Deine Oma schubst du ja auch nicht einfach aus dem Fenster, weil sie deine Klamotten nicht mag, oder?“
„Das habe ich damit doch gar nicht sagen wollen!“, erwiderte sie forsch. „Irgendwo müssen sie sich doch in den letzten Jahrhunderten aufgehalten haben. Kann man sie nicht einfach dorthin zurück schicken?“
Smitt lachte auf. „Gute Idee. Bei dir hört sich das alles so schön unkompliziert an. Mach ihnen doch einfach mal den Vorschlag, wenn du sie das nächste Mal siehst.“
„Jetzt hör schon auf, dich über mich lustig zu machen!“, entgegnete Arrow verärgert. „Ich versuche doch nur, jede Möglichkeit in Betracht zu ziehen.“
„Und ich versuche nur, dir einzuschärfen, dass diese Angelegenheit nicht so idiotensicher ist, wie du es dir vorstellst“, entgegnete der Zwerg. „Diese Elfen sind gefährlich! Schon allein die Tatsache, dass ich dir das gefühlte einhundert Mal sagen muss, geht mir nicht in den Kopf. Immerhin hast du das doch auch bemerkt, während du geschlafen hast.“
„Woher weißt du das?“, fragte Arrow überrascht. „Habt ihr mich etwa beobachtet?“
Der Zwerg nickte. „Seit ich dich kenne, habe ich dich noch nie so fest schlafen sehen. Nach mehreren Versuchen, dich zu wecken, haben wir schließlich aufgegeben und uns dazu gelegt. Als ich aufgewacht bin und du nicht mehr in der Höhle warst, ist mir regelrecht übel geworden. Irgendwie konnte ich mich nicht der Vorstellung entledigen, dass du fröhlich durch den Wald spazierst und nebenbei unsere neuen Gäste herzlich willkommen heißt.“
„Ihr habt bei mir in der Höhle geschlafen?“, fragte Arrow erschrocken.
„Wo hätten wir denn deiner Meinung nach sonst nächtigen sollen? Unter freiem Himmel macht sich das für uns ein wenig schlecht, denn mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass man den Sonnenaufgang verpennen könnte, bekommt man keinen erholsamen Schlaf!“
„Du weißt genau, dass ich es nicht so gemeint habe!“, entgegnete Arrow aufgebracht. „Ich finde nur die Vorstellung, dass sich jede x-beliebige Person seelenruhig neben mich legen kann, während ich schlafe, und eventuell abschlachtet, nicht besonders verlockend.“
„Erzähl keinen Unsinn“, winkte Smitt ab. „Zum einen hast du ein Gespür für die Gefahr in deiner Nähe – wie sich in der letzten Nacht ganz klar gezeigt hat –, und zum anderen hätte dein Perseide einem potenziellen Schlächter mit Sicherheit ordentlich den Hintern versohlt.“
„Meinst du?“, fragte Arrow.
„Na soweit ich weiß, haben Perseiden etwas dagegen, wenn man ihre Schützlinge meuchelt.“
„Doch nicht das!“, entgegnete Arrow verärgert. „Ich meine, dass ich ein Gespür für Gefahr besitze?“
„Nun, wenn du es nicht hättest, wärst du letzte Nacht wohl kaum aus deinem Tiefschlaf erwacht.“
Arrow wusste, dass sie die Aussage ihres Freundes eigentlich hätte beruhigen müssen, doch es hatte nur zur Folge, dass sie sich noch unwohler fühlte und abermals einen kritischen Blick zurückwarf.