Vergessen bedeutet sterben
Die Brücke schien kein Ende nehmen zu wollen, und der Fluss Gjöll wirkte auf Arrow eher wie ein Ozean. Weder konnte sie das Ufer auf der anderen Seite noch die reißenden Fluten des Flusses erkennen. Für sie war die Wasseroberfläche spiegelglatt. Dennoch dröhnte das Geräusch donnernder Wassermassen von allen Seiten.
Arrow hielt inne und betrachtete den Fluss genauer. Auf der Oberfläche zeichnete sich ihr Spiegelbild ab, doch es war nicht wirklich sie. Ihr blickte eine Frau entgegen, die beinahe ein wenig verkümmert aussah. Unweigerlich musste sie bei diesem Anblick an die Erscheinung ihres Vaters vor seinem unmittelbaren Tod denken.
„Er spiegelt den Zustand deiner Seele wider“, beantwortete Harold ihre stumme Frage. „Nur ein seelenloses Wesen kann die Fluten erkennen.“
Arrow zuckte zurück. Ihr Spiegelbild machte ihr Angst. Es wirkte hilflos und zerbrechlich, doch ebenso schien es auch zu glühen. Ein zarter Schimmer umgab sie, als würde sie von etwas beschützt werden. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, während vor ihrem inneren Auge erneut die letzten Bilder ihres Vaters auftauchten.
„Was immer du gerade siehst“, sagte Harold beschwichtigend, „es spiegelt nur deinen gegenwärtigen Zustand wider. Sobald du hungrig oder müde bist, kann es das Bild schon verfälschen. Gib also nicht allzu viel darauf.“
Fluchtartig nahm Arrow den Weg wieder auf. Harold blieb an ihrer Seite. Er wollte ein Auge auf sie haben, denn er fühlte, dass etwas mit ihr nicht stimmte.
„Die ununterbrochene Dämmerung kann einem ziemlich aufs Gemüt schlagen“, begann er das Gespräch zu suchen.
Arrow nickte zustimmend. „Das und die Tatsache, dass wir uns hier im Reich der Toten befinden, weit weg von zu Hause.“
„Ich verstehe nur allzu gut was du meinst. Auch ich vermisse dieses Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit schon viel zu lange. Einst habe ich es im Schloss gefunden, doch mit Darren ist auch das Gefühl eines Zuhauses in mir gestorben.“
„Glaubst du denn, dass du Darren hier finden wirst?“
„Ich hoffe es“, entgegnete Harold betrübt. „Genau genommen gibt es eigentlich keinen Anlass für diese Hoffnung. Musen ist weder der Eintritt in Hels Reich noch der Gang nach Walhall gestattet. Und die Chance, dass er sich in einem der anderen Totenreiche aufhält, stehen eins zu einer Million. Doch ich muss es trotzdem versuchen. Wenn ich es nicht tue, werden mich die grauen Geister auf ewig heimsuchen, und wer weiß, vielleicht ist es mir ja doch vergönnt, ihn eines Tages wiederzufinden.
Ich habe ihm damals eine Spieluhr in Form einer Taschenuhr geschenkt. Sein Gesicht, als er sie geöffnet und erkannt hat, dass sie anstelle eines Ziffernblattes blaue Lilien abbildeten und anstelle des Tickens eine zartes Lied ertönte, werde ich nie vergessen.
Manchmal kommt es mir so vor, als würde ich die Melodie wieder hören, und dann liegt für den Bruchteil einer Sekunde der Duft von Lilien in der Luft. Blaue Lilien waren Darrens Lieblingsblumen.
In solchen Momenten habe ich das Gefühl, ihn ganz nah bei mir zu haben. Es ist, als trenne uns nur eine schmale Wand aus hauchdünnem Papier. Doch jedes Mal wenn ich danach greife, ist alles fort – der Geruch, das Lied und das Gefühl. Deshalb hoffe ich umso mehr, diesen Klang eines Tages in dieser Welt hören zu dürfen. Die Melodie wird mich zu ihm bringen, dessen bin ich mir sicher.“
„Was ist mit der Uhr geschehen?“, fragte Arrow. „Hast du sie dabei?“
Betrübt senkte Harold den Kopf. „Ich habe die Uhr seit Darrens Tod nicht mehr gesehen. Er hat sie über alles geliebt. Umso schmerzlicher ist es, dass sie nach dem Brand unauffindbar war.“
Arrow musterte ihn skeptisch. „Denkst du, dass die Musen die Uhr entwendet haben könnten?“
„Wer weiß“, entgegnete Harold. „Doch so oder so wäre sie nur ein schwacher Trost gewesen. Nichts kann Darren ersetzen.“
„Was ist mit Adam?“, fragte Arrow völlig unbedacht, und eine Sekunde später fiel ihr schließlich auf, dass der Zeitpunkt für dieses Thema nicht unpassender hätte gewählt sein können.
Seltsamerweise nahm Harold es ihr nicht übel. Zwar bedachte er sie kurz mit einem tadelnden Blick, trotzdem beantwortete er ihre Frage.
„Adam ist wundervoll. Er besitzt eine großartige Persönlichkeit und ich bin mehr als dankbar, ihm begegnet sein zu dürfen. Ein wenig hat er mich sogar an Darren erinnert.“ Niedergeschlagen wandte Harold sich Arrow zu. „Ich habe ihn wirklich geliebt und werde ihn auf ewig in meinem Herzen tragen. Er hat mir in so vielerlei Hinsicht einen Funken von dem zurückgegeben, was ich längst verloren geglaubt habe. Doch meine Liebe zu Darren ist einfach stärker.“
Mitfühlend legte Arrow ihre Hand auf Harolds Schulter. Es war seltsam. Im Grunde hätte sie dieses Geständnis wütend machen sollen, denn Adam war einer ihrer engsten und liebsten Freunde, und das schon seit ihren frühsten Kindertagen. Aber sie konnte Harold einfach nicht böse sein, denn sie erkannte die Wahrheit in seinen Augen und wie sehr unter all diesen Dingen litt.
„Du glaubst mir doch?“, fragte er. Und plötzlich sah sie ihn in einem anderen Licht. Harold hatte sie um ihren Segen gebeten und so zögerte sie keine Sekunde, ihm diesen zu geben.
„Das tue ich. Und ich verstehe es auch.“
Erleichtert senkte Harold seine Schultern. „Adam hat sein ganzes Leben noch vor sich. Er ist stark und wird seinen Weg gehen.“
„Davon bin ich überzeugt“, erwiderte Arrow und seltsamerweise war sie es tatsächlich. Ebenso wusste sie aber auch, dass Harolds Verschwinden Adam das Herz brechen würde. Doch Arrow würde alles tun, um es so schnell wie möglich wieder heilen zu lassen.
„Ich werde auf ihn achtgeben“, versprach sie Harold, und sein mitfühlendes Lächeln zeigte, wie dankbar er ihr dafür war.
„Warum hat Modgudr eigentlich nicht nach euren Namen gefragt?“, wechselte Arrow das Thema.
„Musen sind Wesen, die zwischen den Welten wandern. Es sind ihnen gewisse Grenzen auferlegt, doch im Allgemeinen gehören sie ebenso hierhin wie dorthin. So ist es ihnen zum Beispiel gestattet, in der Unterwelt zu wandern, doch das Reich der Göttin Hel sowie Walhall und der dunkle Granitturm sind für sie absolut unzugänglich. Auf die allgemein gängige Weise würden Musen dort keinen Zugang bekommen. Dafür bedürfte es schon besonderer Glücksbringer. Und bei dem Fenriswolf dürften die Tatsachen für das Desinteresses Modgudr auf der Hand liegen.“
„Und das hat sie erkannt?“, fragte Arrow verblüfft. „Ich hatte eigentlich gehofft, dass sie mir in Bezug auf William und dich einen Hinweis geben würde, der mir bei meiner Entscheidung behilflich ist.“
Harold grinste verwegen. „Du bist davon ausgegangen, dass sie etwas sagt, das einen von uns als Lügner entlarvt. Das ist zugegebenermaßen recht klug. Allerdings solltest du hier nicht weiter mit derartigen Hilfestellungen rechnen. Es liegt an dir allein, wem du Glauben schenkst und wie du dich entscheidest.“
Augenrollend wandte Arrow sich ihm zu und bemerkte ungeduldig: „Warst du in einem früheren Leben vielleicht mal ein Elf? Du sprichst nämlich wie einer.“
Harold verfiel in ein herzhaftes, zweideutiges Lachen, und Arrow konnte daraufhin gar nicht anders, als ebenfalls darüber zu schmunzeln.
Als sie endlich den Eingang zu Hels Burg am anderen Ende der Brücke sehen konnte, blieb Arrow stehen. Das Atmen fiel ihr schwer. So sah es also aus – das Tor zur Welt der auf ewig verdammten Verbrecher.
Was sie erblickte, mutete sehr viel mehr wie eine Festung an. Es gab keine Fenster, sondern nur hier und da einige Löcher im Gemäuer, die höchstens einen Finger breit waren. Gitter aus gewaltig großen Giftzähnen waren davor eingelassen, die über und über mit Blut beschmiert waren. Käfige hingen von den Wänden, in denen Gestalten saßen, so dürr wie Skelette. Unablässig schauten sie in den Fluss und erschraken vor ihrem eigenen Spiegelbild. Geier kreisten um sie herum und versuchten, mit ihren gewaltigen Schnäbeln, die eingesperrten Kreaturen bei lebendigem Leib zu verzehren.
Aus den Erzählungen wusste Arrow, dass es sich nicht tatsächlich um die Körper der Verdammten handelte. Was da so furchterregend zwischen den Gitterstäben hervorblickte, waren die schwachen Überbleibsel von dem, was diese Kreaturen einst ihre Seele genannt hatten. Ihre Schreie, wenn einer der Geier nach einem ihrer Finger schnappte, waren dermaßen qualvoll, dass es Arrow den Magen umdrehte.
Dieser Anblick war nicht weniger beunruhigend als der Gedanke an den Höllenhund Garm, dessen Blicke sie bereits auf sich spürte, obwohl er noch gar nicht zu sehen war.
Für einen Moment vergaß Arrow, dass sie nicht allein war, dass sie Freunde an ihrer Seite und mit dem Fenriswolf einen überaus mächtigen Verbündeten hatte.
„Wir müssen weiter“, flüsterte William ihr mitfühlend ins Ohr.
Arrows Unsicherheit war nicht zu übersehen. Erschrocken kehrten ihre Gedanken wieder an Ort und Stelle zurück. Verwirrt schaute sie in die beiden fragenden Gesichter ihrer Begleiter und auf die gespitzten Ohren des Fenriswolfes, bevor ihr klar wurde, wie viel Angst sie wirklich vor diesem Moment gehabt hatte. Die ganze Zeit hatte sie ihre Furcht stets unterdrücken können. Alles hatte sich so unwirklich angefühlt, als wäre die Reise in die Unterwelt nur geträumt gewesen. Somit war es bisher ein Leichtes, die Frage nach dem „Was, wenn ..?“ immer wieder aufzuschieben. Doch jetzt war es so weit und Arrow blieb keine Zeit mehr, sich irgendwelche möglichen Szenarien durch den Kopf gehen zu lassen. Ab jetzt hieß es nur noch Augen zu und durch.
Während es ihr so vorkam, als würde sich ihr Körper automatisch immer weiter voran bewegen, setzten ihre Gedanken aus. Als sie unmittelbar vor die Höllenpforte trat, blieb sie stehen. In einem Trance ähnlichen Zustand betrachtete sie alles und wankte einen Schritt zurück, als sie endlich den vieräugigen Kopf des Höllenhundes erblickte.
„Er wird dir nichts tun“, versuchte William sie zu beruhigen.
„Was tue ich hier eigentlich?“, fragte Arrow aufgelöst und ließ sich auf einem der Felsen vor dem Eingang nieder.
Besorgt hockte William sich vor sie. „Mach dir keine Sorgen. Du bist schon so weit gekommen und Hel ist nicht die furchterregende Herrscherin, für die sie immer gehalten wird. Sie ist gerecht und behandelt jedes Wesen genau so, wie es ihm zusteht. Dir wird sie nichts tun. Vor den Todsünden und der Wache sollte man sich in Acht nehmen, und selbst denen bist du schon triumphierend gegenüber getreten.“
Arrow musterte ihr Gegenüber. „Ja“, entgegnete sie mit zitternder Stimme. „Aber was mache ich hier?“
Harolds Augen weiteten sich. Er eilte zu Arrow, legte seine Hand auf ihre Schulter und sagte: „Du bist hier, weil du deinen Vater suchst.“
„Meinen Vater?“, stammelte Arrow.
„Du bist hier, um Melchior zu finden“, sagte William. „Du weißt doch noch, was mit ihm geschehen ist?“
Fragend schaute Arrow zwischen Harold und William hin und her. Sie erinnerte sich noch immer daran, wer die beiden waren, doch wusste sie nicht im Geringsten, worauf sie hinaus wollten. Was war mit ihrem Vater geschehen? Und wie grausam musste es sein, dass ihre Suche sie bis zum Höllentor geführt hatte?
„Schau in den Fluss“, sagte Harold mit drängender Stimme.
Und als Arrow tat, wozu Harold sie aufgefordert hatte, kehrten die grauenvollen Bilder an jene dunkle Nacht im Holunderwald zurück. Ihr eigenes grauenvolles Spiegelbild ließ Arrow gar keine andere Wahl, als sich zu erinnern. Denn wie schon einige Meter zuvor musste sie bei ihrer Erscheinung auch gleichzeitig an die ihres Vaters vor seinem unmittelbaren Tod denken. Dabei waren Erinnerungen so stark und qualvoll, als müsste sie das alles noch einmal durchleben.
„Du weißt, was das bedeutet“, flüsterte Harold ihr zu.
Arrow nickte. „Ich beginnen zu vergessen. Uns rennt die Zeit davon.“ Und als wäre nichts geschehen, lief sie geradewegs auf die Höllenpforte zu, dicht gefolgt vom Fenriswolf.
Bevor sie in Hels Reich eintrat, wandte sie sich noch einmal William und Harold zu. „Wenn ich bei meiner Rückkehr nur noch einen von euch beiden vorfinde, drehe ich ihm den Hals um, damit das klar ist!“ Ohne eine Antwort abzuwarten verschwand sie in der Dunkelheit der Burg.
Und während William seine Stirn runzelte und laut „Was?„ fragte, rollte Harold nur mit den Augen und machte es sich abseits seines Wegbegleiters wider Willen gemütlich.